ZEIT ONLINE: Ist es eine Lüge zu behaupten, dass wir in Afghanistan die Demokratie verteidigen? Was tun wir in Afghanistan?

Winfried Nachtwei: In Afghanistan geht es erstens um ein zentrales Sicherheitsinteresse der Staatengemeinschaft. Das Land darf nicht wieder Rückzugs - und Ausbildungsraum für internationalen Terrorismus sein. Zweitens geht es darum, einem Volk, das über 20 Jahre Krieg hat durchmachen müssen, auf dem Weg Richtung Frieden und Aufbau zu helfen. Das ist der Ausdruck von responsibility to protect . Das sind die zwei Kernaufgaben. Wenn man von Verteidigung der Demokratie spricht, ist das eine weltanschauliche Überhöhung.

ZEIT ONLINE: Je mehr der militärische Einsatz ausgedehnt wird, desto schlimmer wird die Lage in Afghanistan. Man muss zwar Strategien überarbeiten, aber letztlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: bleiben oder abziehen.

Nachtwei: Nein, es gibt noch ein Drittes: eine Korrektur der bisherigen Strategien und Vorgehensweisen. "Je länger, desto schlimmer" trifft nur zum Teil zu. Bis etwa 2005 gab es eindeutig eine positive Aufwärtsbewegung, selbst wenn sie nur Teile des Landes erreichte. Seit 2006 geht es mit der Sicherheitslage aber abwärts. Das wurde mitverursacht durch strategische Fehler wie die gnadenlose Unterschätzung der Herausforderung eines state building in Afghanistan. Dazu gehört auch, dass ein Teil der Verbündeten, vor allem die USA, sich lange überhaupt nicht für das state building interessiert haben – das tun sie erst in den letzten Jahren intensiv. Der Umgang mit den alten Warlords und Kriegsverbrechern war auch fragwürdig: Man suchte – zum Teil unvermeidlich – Arrangements mit ihnen. Aber die Warlords wurden darüber hinaus oft ausdrücklich gestärkt und hofiert. Damit wurden sozusagen die historischen Gründe für die Taliban wieder gefördert. Schließlich war die Vernachlässigung Pakistans ein großer Fehler.

ZEIT ONLINE: Leider ist diese Diagnose nicht neu. Was müsste sich ändern?

Nachtwei: Zuerst eine ehrliche Zwischenbilanz. Sie hat es aufseiten der Bundesregierung nicht gegeben. Zweitens muss der strategische Dissens angegangen werden, den es in der Nato weiterhin gibt: einerseits Primat der militärischen Gegnerbekämpfung, anderseits Primat der Aufbauabsicherung. Drittens muss viel mehr nach politischen Konfliktlösungen gesucht werden – auf regionaler Ebene, mit Iran, Pakistan, Indien, und gegenüber den aufständischen Gruppen. Einige sind nicht erreichbar, aber andere sehr wohl. Eine ganz andere Einbeziehung lokaler Strukturen ist auch notwendig. Und schließlich ist eine wirkliche Aufbauoffensive überfällig. Da wird auf deutscher Seite bislang nur gekleckert, aber nicht geklotzt.

ZEIT ONLINE: Wovon Sie sprechen, wird sich aber über Jahren hinziehen. Dazu kommt, dass Deutschland nicht allein entscheiden kann.

Nachtwei: Der Zeit-Faktor hat verschiedene Seiten: Wenn es um state building geht, um einigermaßen Rechtstaatlichkeit unter den dortigen Bedingungen oder eine funktionierende Wirtschaft zu schaffen – dann ist es eine lange Aufgabe, die nicht ohne langen Atem hinzubekommen ist. Aber ein militärisches Engagement der jetzigen Intensität halten weder die afghanische Bevölkerung noch die Gesellschaften der ISAF-Staaten über viele Jahre aus. Von daher besteht ein besonderer Zeitdruck im Bereich Förderung der afghanischen Sicherheitsorgane: Polizei, Armee und Justiz. Wir brauchen zwar Geduld, aber auch konstruktive Ungeduld. Und das ist meine Kritik vor allem an der Bundesregierung – nicht an der amerikanischen Regierung: Sie erweckt den Eindruck, als habe die Staatengemeinschaft in Afghanistan viel Zeit. Nein, von den örtlichen Bundeswehrkommandeuren höre ich: Die Zeit läuft weg. Vor allem im Sicherheitsbereich.