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Politik (Print DW)

Der grüne Afghane

Politikredakteur
Der Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei trug dazu bei, seine einst pazifistische Partei von Militäreinsätzen zu überzeugen - Nach 15 Jahren verlässt er den Bundestag

Berlin - Auf Grünen-Parteitagen muss man normalerweise einen Bogen um improvisierte Info-Stände machen. Was Einzelkämpfer da auf einem Tisch oder einem Stuhl an Broschüren zu veganer Kost oder dem Recht auf Drogen drapieren, ist meist derart versponnen, dass sich jede nähere Bekanntschaft verbietet.

Doch abweichen von dieser Regel musste man immer dann, wenn Winfried Nachtwei einen Stuhl an den Rand des Parteitagsplenums gerückt und darauf Afghanistan-Berichte gestapelt hatte. In denen nämlich verdeutlichte der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion so faktenreich wie inspiriert, wo der Polizeiaufbau stockt und was die Aufklärungstornados leisten, wie die Bevölkerung der Bundeswehr begegnet, was Offiziere bedrückt und wo die strategischen Probleme liegen.

Doch nicht nur in Afghanistan-Fragen wurde man da von dem früheren Gymnasiallehrer, der sich auch nach 15 Jahren Bundestagszugehörigkeit pädagogische Milde und Leidenschaft bewahrt hat, bestens belehrt, sondern auch darin, dass einzelkämpferische Beharrlichkeit bei den Grünen nicht immer etwas mit Versponnenheit zu tun haben muss, sondern Ausdruck von Gründlichkeit und analytischem Interesse sein kann. Nachtwei wollte einfach genau wissen, was es mit dem Militär auf sich hat.

Fast 30 Mal ist der heute 63-Jährige am Hindukusch gewesen, er hat mit allen wichtigen Nato- und Bundeswehrgenerälen diskutiert, kennt sich in kleinsten Fachfragen aus und wurde bei seinem Abschied vor der Sommerpause von allen Fraktionen als einer der besten Militärkenner des Parlaments gewürdigt. Begonnen hatte er mit linkem Fundamentalidealismus, der Grünen-Mitbegründer engagierte sich Ende der Siebzigerjahre als friedensbewegter Kriegsgegner: Lachend erzählt er im Gespräch mit der WELT, "dass wir 1994 gegen Auslandseinsätze auf dem Balkan waren, weil wir der CDU Neoimperialismus unterstellten". Doch dieser Furor trieb ihn in intensive Gespräche mit Militärs. Zu den Fakten.

Das andere, was man bei Nachtwei noch lernen kann, ist, dass die Begriffe "Fundi" und "Realo" zwei arge Klischees sind. Nachtwei passt in keine der beiden Schablonen. Einerseits gilt er als Linker, wäre den "Fundis" zuzuordnen - er neigte beim chaotischen Afghanistan-Sonderparteitag in Göttingen 2007 zu kriegskritischen Positionen, die sich gegen ein bloßes "Weiter so" richteten. Andererseits verweigert er sich der Forderung nach einem Abzugstermin und hatte rund um die Balkankriege wesentlichen Anteil daran, dass die Grünen die Notwendigkeit bewaffneter Einsätze gegen Massenmörder einsahen.

"Vielleicht liegt es ja auch ein wenig an mir, dass die Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz bei Grünen-Wählern höher ist als bei den Anhängern aller anderen Parteien." Er machte den Grünen klar, dass das Militär ein Instrument ist. "Und mittlerweile", sagt er, "ist es auch an der Parteispitze angekommen, dass Bundeswehrsoldaten kluge Gesprächspartner sind, die in manchen strategischen Fragen besonnener und differenzierter argumentieren als viele Politiker."

Und wer ist denn bei Auslandseinsätzen "Fundi", wer "Realo"? Nachtwei jedenfalls sieht auf beiden Seiten nicht nur in seiner Partei etwas Fundamentalistisches, "eine Neigung zu abstrakten Debatten für oder gegen Krieg", mal mit pazifistischer Blauäugigkeit, mal mit humanitär-interventionistischer. Das habe zu dauernden "Rechtfertigungsdiskursen" geführt, "nach dem Motto 'Was dürfen wir, was müssen wir?'" Er hingegen verlangt "Wirksamkeitsdiskurse, bei denen man die Einsatzrealität betrachtet und die angemessene Strategie diskutiert." Das sei besser, als sich "im Klein-Klein von Ausrüstungsfragen zu verheddern oder aber unergiebige Diskussionen über Abzugstermine und bloße Worte zu führen". Zum Beispiel bei Begriffen wie "Krieg" oder "Gefallene".

Insofern ist es nicht nur aus Grünen-Sicht bedauerlich, dass Nachtwei nicht wieder kandidiert, sondern in seiner Heimat bei Münster "die letzte Chance zur familiären Resozialisierung nach 15 Jahren totaler politischer Arbeit nutzen" will. Bücher will er schreiben.

Allmählich bequemt sich die deutsche Politik beim Thema Afghanistan zu Nachtweis "Wirksamkeitsdiskurs": Etwa wenn Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier über Etappen und Zielmarken von Abzugsszenarien nachdenken. Da wäre ein Parlamentarier Nachtwei weiterhin überaus hilfreich.

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Freilich war Nachtwei der Mann mit dem Stuhl am Rande. Zwar war er allseits geschätzt. Aber bei den Abschiedsfeiern schwang im Jubel auch Dankbarkeit dafür mit, dass er der Partei dieses schwierige Thema so freundlich abgenommen und sie nicht mit höherem Anspruch belästigt hat. "Unser Winnie" machte das - und so mussten sich die Grünen nicht weiter darum kümmern.

Jetzt geht er. Niemand ist in Sicht, der ihm folgen könnte. Und der das Selbstbewusstsein hätte, den Stuhl vom Rand aufs Podium zu heben.

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