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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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Bericht von meinem 20. Afghanistan-Besuch: Schlechtere Sicherheitslage, lebensnotwendige Unterstützung, durchhaltende Aufbauprojekte (Mazar-e Sharif und Kunduz)

Veröffentlicht von: Nachtwei am 30. November 2019 18:40:57 +02:00 (64574 Aufrufe)

Endlich ergab sich wieder die Gelegenheit einer Afghanistan-Visite, kurz, aber intensiv. Seit November 2002 war es der 20. Besuch. 

Schlechtere Sicherheitslage, lebensnotwendige Unterstützung, durchhaltende Aufbauprojekte: Bericht von meinem

20. Afghanistanbesuch (Mazar-e Sharif und Kunduz)

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (11/2019)

Im November 2002 besuchte ich erstmalig Afghanistan, im November 2016 das letzte Mal – genau zu dem Zeitpunkt, als die Taliban das deutsche Generalkonsulat in Mazar-e Sharif zerstörten. Seitdem wurden in Kabul durch Terrorangriffe im Mai 2017 die deutsche Botschaft und im September 2019 das „Green Village“ zerstört, der gesicherte, internationale Compound, in dem bis dahin auch deutsche Polizisten und GIZ-Angehörige untergebracht waren. Das diplomatische und zivile Aufbauengagement der Bundesrepublik erlitt damit massive Rückschläge. (vgl. Reisebericht 2016, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1441 , und „Mörderische Woche in Kabul“, 31. Mai 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=36&aid=1475 ,)

Anlass der jetzigen Afghanistanvisite war ein Truppenbesuch des Kommandeurs Einsatz und stellvertretenden Heeresinspekteurs, Generalleutnant Johann Langenegger, den ich am 22.-25. Oktober dankenswerter Weise begleiten durfte.

Meine Besuchsabsicht war, durch Einblicke in die Sicherheits- und Einsatzlage und wichtige Aufbauprojekte von „halb-unten“ ein realitätsnäheres Lagebild zu Nordafghanistan zu erhalten. Dieses benötige ich, um das deutsche Afghanistanengagement nach inzwischen 18 Jahren weiterhin relativ fundiert und kritisch-konstruktiv begleiten zu können. Das will ich, weil ich durch die Beteiligung an 20 Mandatsentscheidungen zu ISAF seit 2001 bleibend mitverantwortlich bin für den deutschen Afghanistaneinsatz und für die Abertausenden dorthin entsandten Frauen und Männer. Als Leiter der AG „Einsatzrückkehrer“ im Beirat Innere Führung erfahre ich immer wieder, dass die allermeisten Frauen und Männer ihr Afghanistaneinsatz nicht los lässt, als einschneidende und prägende Erfahrung, im Positiven wie im Negativen.

Wie bei allen Besuchen nutze ich die Gelegenheit zu Gesprächen auch mit deutschen Diplomaten, Polizisten und Entwicklungsexperten. Um einen so kurzen Besuch bestmöglich nutzen zu können, bereite ich mich durch Gespräche mit Zuständigen in Berlin und aktuelle Recherchen darauf vor. Wie 2016 beschränkt sich der Besuch auf hochgesicherte Militärstützpunkte, gibt es keine Begegnungen mit dem afghanischen Alltag draußen und fast keine mit afghanischen Akteuren. Insofern ist meine Realitätswahrnehmung sehr eingeschränkt. Aber „näher dran“ ergeben sich doch viel mehr an Informationen, Eindrücken und Schattierungen als im 5.000 km entfernten Deutschland. Den Zivilflug nach Mazar zahle ich selbstverständlich selbst.

Im Flieger nach Istanbul Zufallsbegegnung und Austausch mit der Spiegel-Korrespondentin Susanne Koelbl, die seit Ende der 1990er Jahre mit hervorragenden Reportagen u.a. aus Kosovo, Afghanistan, Pakistan und Saudi-Arabien berichtet. Sie gehört zu den ganz, ganz wenigen Journalisten, die die deutschen Schwerpunkteinsätze von Anbeginn bis heute verfolgen.

Der Nachtflug in der Turkish Airlines Maschine nach Mazar bleibt wegen etlicher hartnäckig schreiender Kleinkinder schlaflos. Beim Verlassen der Turkish Airlines Maschine in Mazar fällt auf, wie viele (mutmaßliche) Deutsche an Bord waren.

Zur Gesamtlage (Gespräche in Berlin und Medienberichte)

US-AFG-Sondergesandter Khalilzad sondiere wieder in Doha. Man warte auf Trump`s Entscheidung. Angedacht war eine Truppenreduzierung bei allen Truppenstellern um 20%.

Deutsches Mantra sei: Zzt. auf keinen Fall Truppenabzug ohne politischen Prozess (innerafghanisch, nicht nur zwischen Taliban und USA). Hebel Deutschlands seien Truppenpräsenz und zivile Mittel. Im April hatte sich die EU positioniert: Langfristige Unterstützung für Afghanistan gebe es weiter, wenn das System mit gutem Gewissen unterstützt werden könne.

Auch bei den Taliban gebe es inzwischen weniger die Haltung, in dem Konflikt militärisch siegen zu können. Bemerkenswert das Interview von CNN India mit dem Taliban-Sprecher Suhail Shaheen vom 14. Oktober, der die Notwendigkeit internationaler Wiederaufbauhilfe für Afghanistan betont. (https://www.facebook.com/cnnnews18/videos/754547464958577/ )

Anlässlich des ersten AFG-Besuches von US-Verteidigungsminister Esper am 20.10. wurde bekannt gegeben, dass die US-Truppen in AFG im letzten Jahr um 2.000 auf 12.000 reduziert worden seien.

03.09. Warnung von neun ehemaligen US-Gesandten (darunter fünf Kabul-Botschaftern, einem Sonderbeauftragten für AFG und einem stv. Außenminister) auf der Website des Atlantic Council: AFG könne in einen „totalen Bürgerkrieg“ kollabieren, wenn Präsident Trump die US-Truppen abziehe, bevor zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein Friedensabkommen abgeschlossen sei. Der anfängliche Abzug dürfe nicht so weit und schnell gehen, dass die Taliban glauben könnten, einen militärischen Sieg erringen zu können. (https://www.tolonews.com/afghanistan/ex-envoys-warn-civil-war-if-us-leaves-afghanistan )

02.09. Kabul,21.55 Ortszeit:Angriff mit Kfz-Bombe auf das „Green Village“ (Compound für rund 700 ausländische Entsandte, darunter über 60 Deutsche – GIZ + GPPT), 16 Tote (acht Ausländer), 119 – meist zivile – Verletzte (25 Ausländer). Die Deutschen hatten wenige Wochen zuvor stark geschützte Container bezogen. Die fünf Angreifer wurden von Special Forces getötet, eine Tankstelle fing Feuer. (Video der Zerstörungen https://www.youtube.com/watch?v=Q18ueelqOow ) Green Village war zuletzt im Januar mit einer Lkw-Bombe angegriffen worden (vier Tote, 90 Verletzte).  Lt. SZ v. 04.09. lief zeitgleich zum Anschlag auf TOLO-TV ein Interview mit dem US-Sondergesandten für AFG, Zalmay Khalilzad zu den Eckpunkten des Abkommens mit den Taliban: Man sei grundsätzlich übereingekommen, dass die USA fünf Militärbasen binnen 135 Tagen räumen und 5.000 Soldaten abziehen. Im Land verbleibende US-Kräfte sollten nur noch gegen den lokalen IS-Ableger vorgehen. Die Taliban wollen im Gegenzug garantieren, „dass ihr Land kein sicherer Aufenthaltsort mehr für Terroristen werde, an dem Attacken gegen die USA und andere Staaten geplant werden.“ Innerafghanische Friedensgespräche sollen folgen.

Am nächsten Tag protestierten Anwohner des Green Village (und?) gewalttätig für den Abzug der internationalen Niederlassung aus ihrer Nachbarschaft. Sie drangen auf das Gelände, zerstörten Infrastruktur, die Kantine brannte ab, zerstört wurden viele GPPT-und GIZ-Fahrzeuge.

01.09. Kunduz: Talibanangriff aus drei Richtungen ab 31.08, 01.30 Uhr über mehr als 24 Stunden. Lt. Innenministerium 20 afghanische Sicherheitskräfte und fünf Zivilisten getötet, 80 – meist Zivilisten – verletzt. Am 31. abends schwere Explosion am zentralen Kreisverkehr, gerichtet gegen ein Treffen der lokalen Sicherheitsführung, zehn Tote. Einsatz von Spezialeinheiten von NDS, Polizei und Armee, lt. IM 56 Taliban getötet. (https://www.tolonews.com/afghanistan/20-security-force-members-killed-kunduz-battle )

Zur Lageentwicklung im 1. Halbjahr 2019 vgl. „UNAMA- und SIGAR-Berichte zu Zivilopfern und Sicherheitslage Afghanistan: Lichtblicke im 1. Halbjahr, jetzt Anschlagswelle Mehr Misstrauens- als Vertrauensbildung“, 05.09.2019, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1603

Mazar-e Sharif, Camp Marmal

Herzlicher Empfang durch den Kommandeur des Train, Advise, Assist Command North (TAAC-N) von Resolute Support (RSM), Brigadegeneral Jürgen Brötz. Ihm begegnete ich mehrfach  in seiner letzten Funktion als Leiter des Referats Krisenfrüherkennung in der Abteilung Strategie und Einsatz des BMVg. (Weitere solche Wiederbegegnungen folgen. Das erleichtert den Austausch erheblich.) Auf dem dichten Programm stehen

- Unterrichtungen beim Kommandeur TAAC-N, die Teilnahme an hochrangigen RSM-Runden, Gespräche mit den Kommandeuren des Force Protection Bataillons und des Logistik-Bataillons, im Feldlazarett Role 2, bei der Air Wing RSM North; Teilnahme an einem Arbeitsessen u.a. mit dem Kommandeur des 209. ANA-Corps, den stellvertretenden Kommandeuren von RSM und Allied Joint Force Command der NATO in Brunssum;

- ein halbtägiger Besuch des deutschen Compounds (Safe Haven)  in Camp Pamir/in Kunduz, Unterrichtung durch den Kommandeur, Rundgang und Gespräch mit einer bunten Soldatenrunde;

- nur meinerseits Gespräche mit vier GIZ-MitarbeiterInnen, mit drei Beamten des German Police Project Team (GPPT) in ihren Diensträumen in Camp Marmal und bei einem Abendessen mit Generalkonsul Karsten D. Geier, seinen MitarbeiterInnen (ca. sechs Personen) und Personenschützern;

- informelle Gesprächsmöglichkeiten bei einem lockeren Abendempfang mit Angehörigen aller Komponenten (AA, Polizisten, GIZ, Bundeswehr), beim Waffelessen im „Rosengarten“ neben dem Rettungszentrum (14-tägig, Erlös für wohltätigen Zweck)  und abends in der „Oase“;

- ein Interview mit Radio Andernach.

Sicherheitslage im Norden

Im Norden sollen den rund 50.000 Soldaten und Polizisten der Afghan National Defence and Security Forces (ANDSF) über 6.000 Taliban gegenüber stehen. Inzwischen gewinnen die Taliban Unterstützung auch bei anderen ethnischen Gruppen jenseits der Paschtunen. (Anm.: Am 12. Juli berichtete Long War Journal von einer opferreichen Operation einer „Red-Unit“ der Taliban in der Provinz Kunduz. Diese Spezialeinheiten zeichnen sich durch besondere Mobilität und Nachtkampffähigkeit aus. https://www.longwarjournal.org/archives/2018/07/afghan-forces-suffer-heavy-casualties-in-kunduz.php )

Schwerpunktgebiete der Taliban liegen in den Provinzen Faryab (NW), Kunduz und Baghlan. Die Ringroad in Faryab ist für Fahrzeuge, die Taliban der Regierungsseite zuordnen, nicht frei befahrbar. Andere müssen zahlen. (Hier führte im November 2007 ISAF unter Führung des damaligen Regionalkommandeurs Brigadegeneral Dieter Warnecke erstmalig im Norden mit „Harekate Yolo II“ eine Offensivoperation gegen die Taliban durch.)

In der Provinz Balkh wird ein verstärktes Einsickern von Taliban beobachtet. (vgl. die Reportage von Marco Seliger in LOYAL 09/2019; inwieweit hier möglicherweise auf Seiten des langjährigen, Ende 2017 abgesetzten Gouverneurs, Atta Mohammad Noor,  ein „Doppelspiel“ stattfindet, kann ich nicht beurteilen.)

Südlich des Highway 1 (Ringroad) im Norden verläuft in West-Ost-Richtung der Cross North Transit Corridor durch die Provinzen Faryab, Sar-e Pul, Samangan nach Baghlan. Über secondary roads und außerhalb der primären Kontrollzone von ANDSF und RSM kann hierüber per Motorrad und Lkw Nachschub für Taliban-Hochburgen in andere Teile des Nordens rollen, auch im Winter.

Der Norden ist für ganz AFG nicht nur wegen seiner politischen Schwergewichte, sondern auch im Hinblick auf die Energieversorgung von besonderer Bedeutung. Die Hauptstromversorgung läuft über drei Stromtrassen aus Usbekistan und Tadschikistan in eine Trasse durch den Baghlan-Korridor nach Süden. Die Sprengung von Strommasten im September 2019 führte zu Stromausfällen in einem Drittel des Landes.

Beobachtet wurden Rekrutierungsbemühungen des IS-Ablegers im Norden. Es besteht die naheliegende Sorge, dass nach einem Verhandlungsarrangement ein Teil der Taliban zu IS wechseln würde.

Pro Tag gibt es im Norden zwischen 15 bis 25 Sicherheitsvorfälle und Angriffe.

(Anm.: Bei letzten Besuchen im Norden wurde konstatiert, man habe angesichts fehlender Präsenz in der Fläche nur noch ein sehr unvollständiges Lagebild. Jetzt habe ich den Eindruck, als verfüge man inzwischen dank etlicher, sich ergänzender Sensoren über ein verlässlicheres Lagebild.)

In Mazar und Berlin heißt es übereinstimmend, die Lage habe sich im Norden verschlechtert bzw. sei schlecht. Maimaneh, Provinzzentrum von Faryab, sei ohne „kinetische“ Unterstützung durch die US-Operation Freedom`s Sentinel (OFS) nicht zu halten.

Der gerade erschienene 45. Quartalsbericht des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) an den US-Congress vom 30.10.2019 bestätigt die o.g. Bewertungen mit konkreten Zahlen (https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2019-10-30qr.pdf )

- Die Taliban steigerten zwischen 01.06 und 31.08. die Gesamtzahl ihrer Angriffe um 19% ggb. dem Vorjahrszeitraum, 49% davon verursachten Personenschaden. Damit erhöhten sie ihre Schadenswirkung ggb. dem Vorjahr um 10%. Von 01.06.-31.08. stiegen die ANDSF-Verluste um 5% ggb. dem Vorjahrszeitraum. Auf US-Seite gab es bisher in 2019 17 Gefallene und 124 Verwundete, die höchste Zahl an Verlusten in einem Jahr seit fünf Jahren (ISAF-Abzug).

Bei den Provinzen mit den meisten gegnerischen Angriffen in 2019 (bis 31.08.) steht die zentrale und lange besonders ruhige Nordprovinz Balkh nach Helmand (1.056), Kandarhar (583), Farah (449) mit 401 Angriffen schon an vierter Stelle!!!

- Die Afghan Special Security Forces (ASSF) führten bis Ende September mehr Operationen durch als in ganz 2018.

- US- und afghanische Luftstreitkräfte warfen im September 2019 mehr Munition ab als in jedem Monat seit Oktober 2010.

- RSM und UNAMA meldeten für diesen Sommer einen deutlichen Anstieg der Zivilopfer im Vergleich zum Vorjahrszeitraum (+39%, +42%). Der Juli war der Monat mit den meisten Zivilopfern, die UNAMA je festgestellt hat.

Eigene Kräfte

Die Afghan National Civil Order Police ANCOP wurde inzwischen der ANA unterstellt, die im Norden damit mehr als die Hälfte der 50.000 ANDSF-Kräfte ausmacht. Seit April 2019 wächst neben dem 209. Corps der ANA in Mazar das 217. Pamir-Corps in Kunduz. auf.

Das TAAC-N stellt für seinen Kernauftrag TAA 95 Adviser für das 209. Corps, davon 50 Deutsche (davon auch einzelne im Operation Coordination Center u.a. Einrichtungen) und 15 Adviser für das 217. Corps in Kunduz (nur Deutsche). Ein Handicap der Beratung nur auf Corps-Ebene ist, dass sie weit entfernt ist von der Einsatz- und Umsetzungsrealität und „hinterm Zaun“ stattfindet, in der Wirkung also sehr eingeschränkt ist. ( Artikel zum Besuch des Parl. Staatssekretärs Peter Tauber im Juni, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/einsatz-ohne-ziel-wie-die-bundeswehr-in-afghanistan-mit-ihrem-auftrag-hadert/24502486.html ) Die US-Streitkräfte beraten auch auf Brigadeebene mit flexiblen „Expeditionary Advisory Packages“ (http://www.sof.news/afghanistan/expeditionary-advisory-package/ ), die situationsabhängig zum Einsatz kommen.

Die Masse der TAAC-N-Kräfte bilden – neben dem HQ-Personal – das Force Protection Bataillon und  das Logistik Bataillon.

Bis November 2018 waren Logistik und Force Protection in der Multinational Support Task Force zusammengefasst. Hier erwies sich aber die Führungsspanne als zu weit.

Dislozierung im Raum:

Neben dem Hauptstützpunkt Camp Marmal, von wo aus Adviser zum 20 km entfernten Camp Shaheen fliegen, sind Bundeswehrkräfte rotierend

- im Camp Pamir südlich Kunduz und

- bei Maimaneh, der Provinzstadt von Faryab, in einem Stützpunkt direkt am Flugfeld eingesetzt. Ihr Auftrag ist der Schutz der US-Brigade-Adviser im Stützpunkt.

Die Masse der Flüge erfolgt mit russischen Helicoptern Mi-8 (Mi-17) einer zivilen Firma.

Sanitätsversorgung

Einsatzlazarett/Rettungszentrum  Role 2 (notfallchirurgische Ausstattung, erweiterte fachärztliche Versorgung), benannt nach Oberstabsarzt Dr. Thomas Broer (gefallen am 15.04.2010 in Baghlan durch Panzerfaustbeschuss)

Alle zwei, drei Monate finden Übungen statt, zuletzt vor wenigen Tagen am Wochenende. Ausgangslage IED-Explosion mit 20 Verwundeten. Alarmierung aller MitarbeiterInnen. Der ärztliche Leiter hat nach der Schwere von Verletzungen zu entscheiden, wer in welche Kategorie von Behandlungsräumen kommt, beginnend mit T1 Trauma-Raum (bei Schwerverwundeten Blutung stoppen, Stabilisieren).

Gestern wurde ein ANA-Soldat eingeliefert. Durch RPG-Beschuss verlor er beide Beine.

In Kunduz/dt. Camp eine Rettungsstation:  Hier geht es um lebenserhaltende Maßnahmen, Stabilisierung für den Abtransport zum Traumazentrum. Gearbeitet wird hier wesentlich auf der Basis klinischer Erfahrung. Medizinische Geräte (Röntgen etc.) stehen hier nicht zur Verfügung.  Dieses Erstbehandlungskonzept stamme ursprünglich von der US-Marine und gebe es in ganz Europa nicht. Die Teams sind frei zusammengewürfelt, aber seien immer dieselben. Ein Arzt ist jedes Jahr sechs Wochen in Afghanistan. Inzwischen hat er 12 Einsätze hinter sich.

Morgenrunde

wie bei jedem Besuch durch`s aufwachende Feldlager: Vom „Dachlokal“ (Green Beans Coffee/Central Store) Blick über das Camp. Wo früher Unterkünfte, Container und Fahrzeuge dicht an dicht standen, erstrecken sich jetzt viele Freiflächen. Auf der Gedenkstätte vor der Ostmauer erinnern dutzende Tafeln an die im Norden gefallenen internationalen Soldaten und Soldatinnen. Besonders viele Plaketten und Coins liegen bei dem Feldjäger-HFw Tobias Lagenstein (28.05.2011 in Taloqan) und einem KSK-Soldaten (04.05.2013 in Baghlan). Vom Bund der EinsatzVeteranen der Bundeswehr liegt vor den Tafeln ein Transparent „Ihr seid nicht vergessen“.

Kunduz/Camp Pamir/dt. Safe Haven

Siebeneinhalb Jahre sind seit meinem letzten, 10. Besuch in Kunduz im Mai 2012 vergangen. 2004 bis 2007 sah ich Jahr für Jahr die Aufwärtsentwicklung in der „Hoffnungsprovinz Kunduz“. 2008 kam dann der „Verlust der Initiative“ (PRT-Kommandeur Buske), ab Frühjahr 2009 die Vielzahl an Gefechten, der unübersehbare, asymmetrische Krieg, 2011 Anzeichen für eine Verbesserung der Sicherheitslage, im Oktober 2013 der – bezogen auf die eigenen Kräfte – gut gemeisterte ISAF-Rückzug aus Kunduz. Als  im August 2014 und April 2015 über große Offensiven der Taliban in der Provinz Kunduz und gegen die Provinzstadt berichtet wurde, da fand das in deutscher Politik und Medien kaum Beachtung.  Die Einnahme und 14-tägige Besetzung von Kunduz im Herbst 2015 forderte dann um 280 Todesopfer, vertrieb vor allem zivilgesellschaftlich Aktive  und wirkte in Afghanistan als Schock. ( http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1373 )

08.10 Uhr am Flugfeld in Camp Marmal Anlegen von Kopfhörer/Mikro, Senderhelm, schusssicherer Weste, Halstuch

08.25 Uhr Start  der Transporthubschrauber CH-53 und mit Close-Protection Team, zunächst im Konturenflug, geschätzt max. 20 m über Grund, dann in Höhe oberhalb Handwaffenreich-weite. Im Unterschied zu früheren CH-53-Flügen ist jetzt die offene Heckplatte mit einem schweren MG besetzt.

09.08 Uhr Blick auf den Kunduz-Fluss, kurvender Sinkflug, Tiefflug mit Staubfahne.

Vom Landeplatz einige 100 m durch das ANA-Camp Pamir zum extra gesicherten deutschen Compound. Das Camp liegt rund 10 km südlich Kunduz  und drei km südlich des Flugplatzes, der noch von UNAMA, USAF und Afghan Airforce (AAF) genutzt wird.

In Camp Pamir sind rund 1.000 ANA-Soldaten stationiert, Korpsstab, im Aufbau befindliche Korpstruppen. Die 1. Brigade liegt im ehemaligen PRT.

Zur ANA: In den letzten Monaten gab es auf Seiten der ANA-Führungsebene eine erhebliche Personalrotation. Anfangs sei Korruption ein großes Problem gewesen. Die Verwickelten seien inzwischen aus dem Korps raus. Die Außerdienststellung von rund 2.000 hohen ANA-Offizieren ist abgeschlossen. Sie ging mit einem erheblichen Erfahrungsverlust einher.

Zu bedenken ist: Vor zehn Jahren umfasste ISAF 140.000 Soldaten mit Kampfauftrag, heute sind nur noch ein Zehntel internationale Soldaten im Land, davon Resolute Support nur mit TAA-Auftrag, die eigenständige US-Operation Freedom`s Sentinel mit Kampfauftrag (Force Protection, Counterterrorism)

Ein deutscher Offizier war erstmalig 2008/09 hier. Enorm, welche Fähigkeiten die ANA seitdem entwickelt habe: z.B. eine Luna-ähnliche Drohne, die vom Camp starte; die A-29-Erdkampfflugzeuge. Damit habe man kürzlich Khanabad (25 km östlich Kunduz Richtung Taloqan) in wenigen Stunden zurückerobern können. Auch Imam Shahib (70 km nördlich Kunduz) habe man nach einer Woche Kämpfe zurückerobert.

Am 14.04. habe man Kunduz erfolgreich gegen mehrere hundert Taliban verteidigt, ebenfalls am 31.08./01.09. Bei der Wahl habe Mörserbeschuss auf Kunduz aber 37 Verletzte gefordert. Gewählt wurde in jedem Distrikt, aber nicht in jedem Wahllokal.

Die ANA-Rekrutierung liege im Nordosten über dem Soll. Die Personalgewinnung laufe gut. Nach der Grundausbildung gehen die Soldaten direkt in die Truppe und in Operationen. Notwendig sei eine weitere Ausbildung der Einheiten.

Training on the job: gutes Einzelbeispiel eines 43-jährigen ANA-Offiziers. Besondere Herausforderungen seien die Planung auf der Zeitschiene, die „Beschleunigung“ der  Rettungskette Richtung „goldene 6 Stunden“ (statt bisher 12 Stunden), die Personalführung und die Herausbildung von Spezialisten.

Betont wird, dass Berater keineswegs immer Stabsoffiziere sein müssten. Beispiel eines Pionierhauptmann, der bestens einen ANA-Oberst beraten könne, oder einer Logistik-Oberleutnant`. Es gelte, die eigenen Offiziere früher ranzulassen.

Einsatzvorbereitung der Adviser: Die interkulturelle Kompetenz sei in Ordnung. Aber man sei zu wenig auf die afghanischen Realitäten vorbereitet. Wie funktioniert die afghanische Armee?

Checkpoints sind de facto eine wichtige Einnahmequelle und Prestigeobjekte. Zugleich sind die Verlustraten bei Checkpoints enorm. In Aliabad, gerade drei km vom Camp entfernt, seien vor drei Nächten 18 Polizisten regelrecht hingerichtet worden (vgl. https://tolonews.com/afghanistan/16-police-killed-kunduz-clashes ). Die Feuerwechsel sah man vom Wachturm. Da leide man mit. (Mehr als die Hälfte der ANDSF-Verluste resultieren aus Angriffen auf Checkpoints, wobei die Taliban zugleich Waffen und Ausrüstung erbeuten. Seit April 2016 gab es an Checkpoints rund 6.000 Gefallene und knapp 9.000 Verwundete.) Das ist der Hintergrund der Neuausrichtung (Realignment) der Checkpoints.

Keine Operation laufe ohne Verluste. Die Einsatzersthelfer Bravo seien voll bei den afghanischen Opfern dabei. Da können sie helfen.

Eigene Bedrohungslage: Am 31.08./01.09. wurden acht Raketen auf Camp Pamir abgeschossen, vier schlugen im Lager ein. Das waren so viele wie lange nicht. Zwei Sekunden Warnzeit habe man da. Wenn ein Geschoss in 150 m Entfernung detoniere, dann nehme das schon mit. Die Taliban hätten ihre Treffgenauigkeit erheblich verbessert.

Die Raketen- und Mörserbeschuss erfolge aus fünf bis sieben km Entfernung, vor allem aus nicht einsehbaren Flusstälern. Da brauche man dringend einen genügend hohen Turm.

Über Fähigkeiten zur Selbstverteidigung gegen Steilfeuerbedrohungen verfügen nur die US-Streitkräfte.

Vordringlich sei eine bessere Aufklärung (Turm, kleiner Ballon für 150-300 m Höhe); verbesserter Schutz; verbesserte Wirkung (Anm.: Strittig ist, ob letzteres eine Mandatsfrage oder eine Auslegungsfrage ist).

Innere Lage: Bei knapp hundert Soldaten vor Ort sei die Hierarchie flach, jeder kenne jeden, „wie eine Familie“. Bei den Soldaten heiße es „Kunduz sofort!“ die wenigsten möchten mit Mazar tauschen.

Hier brauche man keine „Oase“ und kein Feldpostamt, wohl aber einen Elektriker, der sei Gold wert.

Mittagessen in der kleinen Kantine mit ca. vier Tischen: Zur Auswahl stehen fünf Arten von Einmannpackungen (EPA) und zwei Mikrowellen. Da müsse man etwas Zeit mitbringen. Abends gibt es frisches Warmes aus der Feldküche.

Auf dem Schotter-Antreteplatz in kleiner Runde und praller Sonne Beförderung einiger Feldwebeldienstgrade durch den TAAC-N-Kommandeur. Zur Bekräftigung gibt’s herzhaft-wuchtig was auf beide Schultern.

Direkt am San-Posten  sind mehrere T-Walls professionell bemalt:

- Wappen von RESOLUTE SUPPORT, eTAA KUNDUZ und einzelnen Verbänden, eingerahmt von „MAKE KUNDUZ GREAT AGAIN“

- Auf zwei schwarzen T-Walls um quadratisches Symbol mit Schriftzeichen „AUT VIAM INVENIAM – AUT FACIAM“ („Entweder ich finde einen Weg oder ich baue einen“, Hannibal) und

- „VERBA DOCENT – EXEMPLA TRAHUNT“ („Worte belehren, Beispiele reißen mit!“)

- Wappen des Adviser Team TAA 217th Pamir Corps Kunduz

Rückflug: Schnell verschwinden die grünen Flecken von Kunduz in der Ferne. Über weite, steppen- bis wüstenartige Flächen geht’s im kurvenreichen Konturenflug zurück, mal mit einem plötzlichen Hüpfer über eine Hochspannungsleitung, zuletzt mit rund 45° in eine Schlusskurve.

An Bord gibt es den „Daily Media Report“ von RSM, 24.10.2019, 47 Seiten. Hauptnachrichten:

- Fünf Marines bei Raketenangriff in Helmand verwundet (einige hundert Marines in Camp Bastion)

- Laut UNAMA wurden im Kontext des bewaffneten Konfliktes zwischen 01.07. und 30.09. 1.174 Zivilpersonen getötet, 3.139 verwundet, 42% mehr als im Vorjahreszeitraum!

- Rücktritt des afghanischen Außenministers

- China bereitet Gespräche zwischen rivalisierenden afghanischen Fraktionen vor. Im letzten Monat besuchte eine Taliban-Delegation Peking.

- Am 22.10. Treffen der Sondergesandten der EU, FR, IT, DEU, NOR, UK und USA im EU-Headquarter: für Restart der Friedensgespräche.

„Rückkehr“ nach Kunduz?

Nach dem - politisch verantworteten - Desaster des Vollabzuges aus Kunduz kehrte Bundeswehr sukzessive mit  minimalen Kräften nach Kunduz zurück. Ich nehme die Rückkehr nur geografisch war, keinen Moment auch gefühlt. Im Raum Kunduz treffe ich auf keinen bekannten Ort, wo Erinnerungen hochkommen könnten und Vergleiche möglich wären (z.B. ehemaliges PRT, Umgebung und Stadt Kunduz).

Gespräche zu Aufbauprojekten

Besonders interessiert bin ich am Stand einzelner größerer Projekten, die ich seit sieben, zehn Jahren beobachte – und die bisher in Deutschland kaum bis keine Beachtung fanden.

Mit fünf GIZ-MitarbeiterInnen im neuen GIZ-Gebäude Nähe Central Store:

Im Norden arbeiten im Auftrag der GIZ 15-20 internationale Entsandte und rund 1.200 Ortskräfte, unter ihnen viele Höherqualifizierte, die bewusst im Land bleiben. Insgesamt arbeiten zzt. für die GIZ in Afghanistan rund 60 Entsandte. Im Nordosten seien auch einige in Feyzabad und Taloqan. Partiell kann in Distrikten/am Boden gearbeitet werden.

„Alphabetisierung und nachholende Grundbildung“ für die Polizei (ANP): Das Projekt startete 2012 im Norden und läuft heute in allen 34 Provinzen an ca. 2.000 Standorten, auch an Checkpoints (Mindestgröße von Kursen vier Teilnehmer). Der Grundkurs läuft über 12-18 Monate und bringt den Schulabschluss 3. Klasse. Der Aufbaukurs beinhaltet den Stoff der 4.-6. Klasse. Die Kurse sind an den jeweiligen Dienstbetrieb angepasst und schließen mit Prüfung und Zertifikat des Bildungsministeriums ab.

Zzt. haben die Grundkurse 25.000 TeilnehmerInnen, die Aufbaukurse 10.000.

Die 1.500 Lehrpersonen, vor allem ehemalige Polizeioffiziere, werden von der GIZ bezahlt. (9 Mio. Euro/Jahr).

Zwei GIZ-Mitarbeiter sind die einzigen Internationalen bei diesem Programm. Zur Illustration wird ein Video vorgeführt. Weiteres zur Ausbildung und Alphabetisierung der Polizei auf https://www.ez-afghanistan.de/de/project/unterst%C3%BCtzung-der-polizei-%E2%80%93-ausbildung-und-alphabetisierung ; Das ABC der Sicherheit – Alphabetisierung von Polizisten in Bamiyan, https://akzente.giz.de/de/artikel/das-abc-der-sicherheit )

(Im Mai 2012 war ich erstmalig dem Alphabetisierungsprojekt begegnet. Damals liefen Kurse von 6-8 Wochen und 6 Monaten in allen ländlichen Distrikten und fast allen städtischen Polizeistationen des Nordens. Der 6-Monatskurs schloss Basisausbildung in Polizeiaufgaben und –recht, Menschenrechte, Gender, häusliche Gewalt, Rule of Law, Gesundheitspflege ein. Über 300 einheimische ehemalige Polizisten und Militärs sowie Zivile arbeiteten als Lehrkräfte. Für den Unterricht wurden 95 voll ausgestattete Container-Klassenräume und acht Zelte für unzugängliche Gebiete bereitgestellt. Stolz überreichte man mir das erste, von Innenministerium und GIZ herausgegebene Handbuch für Polizeirecht sowie eine Lehrbroschüre für Polizeischüler in einfacher Sprache. Seit 2009 haben knapp 13.000 Polizisten in Nord-AFG die 6-Monatskurse durchlaufen. An den Kurzzeitkursen nahmen 6.250 teil. Bericht von 19, Afghanistanreise im Mai  2012 „Rückzug aus der Verantwortung?“ http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1183 )

Community-Policing (CP): Ausgangslage ist das zerrüttete Verhältnis zwischen Bevölkerung und Polizei. Polizei wurde über Jahrzehnte nur als Instrument des Machterhalts erfahren, nicht als schützende Bürgerpolizei. Extreme Abneigungen Ziel des Programms ist, Vertrauen zu schaffen. Beide Seiten sollen miteinander reden können.

Das Alphabetisierungsprogramm sei schon hilfreich. Haupthindernis seien die schlechten Erfahrungen und die Besetzung von Polizeipositionen nach Loyalitäten.

Inzwischen spiele Befähigung eine wachsende Rolle. Jüngere Kommandeure seien besser qualifiziert. Aber Vorsicht zugleich vor überhöhten westlichen Erwartungen!

CP-Projekte gebe es inzwischen in 15 Provinzen (Badakhshan, Balkh, Jowzjan, Kunduz, Samangan und Takhar im Norden und Kabul, Herat, Bamyan, Kunar, Laghman, Nangarhar, Nuristan, Panjsher, Parwan).

Der Hauptansatz sei, Polizeichefs und Repräsentanten der Bevölkerung (Älteste) ins Gespräch zu bringen. In 2018 fanden 360 öffentliche Beratungssitzungen auf Bezirksebene mit rund 7.200 Teilnehmenden statt. Es gehe um Erfolge der kleinen Schritte.

Das Programm läuft seit 2018 und wird auch von UNDP unterstützt.

Es gibt kleine Trainingseinheiten von dreitägigen Kursen, Train the Trainer. Die GIZ stelle das Monitoring.

Man habe vor, in 2020 zehn weitere Provinzen einzubeziehen, auch Logar, Paktika, sogar Kandahar und Helmand. Natürlich nicht flächendeckend, sondern andockend an bestehenden Strukturen und konstruktiven Ansätzen. Berichtet werden gute Einzelgeschichten von erfolgreichen kleinen Schritten.

Auch hierbei ist der anwesende GIZ-Mitarbeiter der einzige Internationale.

( https://www.ez-afghanistan.de/de/project/vertrauen-f%C3%B6rdern-%E2%80%93-polizeiarbeit-b%C3%BCrgernah-gestalten )

Shelter für Binnenvertriebene (Internal Displaced Persons/IDP):

Die Vertriebenengeschichten sind oft komplex. Fokusprovinzen sind zzt. Balkh, Samangan und Jowzjan.

Ein Shelter umfasst zwei Räume für sieben Personen und kostet 4.000 Euro. Errichtet in Lehmbauweise sind die Shelter recht stabil. Zu den ergänzenden kleinen Infrastrukturmaß-nahmen gehören z.B. Solarwasserpumpen.

Am Camp Marmal ist eine Siedlung für knapp 250 Familien entstanden. Flankiert wird das Programm von Maßnahmen der Berufsausbildung. Dorfkomitees aus Gemeinden und Flüchtlingen sorgen dafür, dass die Ausbildungsmaßnahmen in gleichen Teilen der ansässigen Bevölkerung und den Flüchtlingen zugutekommen.

 

Berufsausbildungs-Campus Takhta Pul

(Im Februar 2015 hatte ich den im Bau befindlichen Technical and Vocational (Berufsausbildung) Education and Training (TVET) Campus Takhta Pul bei Mazar-e Sharif besucht. Das Agicultural Veterinary Institute für 720 Studierende und die Technical Teacher Training Academy (Berufsschullehrerakademie) für 500 Studierende nahmen 2016 ihren Betrieb auf. An den beiden Landwirtschaftsschulen in Mazar und der Agricultural High School Kunduz lernen insgesamt 2.000 junge Leute. Am 07. Mai 2017 wurde nun auch das Engeneering College für 720 Studierende feierlich eingeweiht.

Der TVET-Campus ist Teil eines breiten Berufsausbildungsprogramms der afghanisch-deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Bau und Infrastruktur finanzierte die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW Entwicklungsbank). Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ist für Capacity Development verantwortlich.

Der Campus  ist ein zentraler Eckstein für Aufbau und Arbeitsbeschaffung in Afghanistan, wo es einen akuten Bedarf an ausgebildeten Arbeitskräften gibt, und soll die größte Einrichtung dieser Art in Afghanistan sein (PEM CONSULT zur Eröffnung des Engeneering College https://www.pem-consult.de/news/inauguration-of-the-engineering-college-for-720-students-in-balkh-afghanistan.html )Nach zwischenzeitlichen Berichten soll sich der Campus gut und ungestört entwickelt haben: Perspektiven für tausende jüngerer Menschen in der Region, ein Leuchtturm! Jetzt bin ich hoch gespannt – und angesichts der aktuellen Informationen zu einem Taliban-kontrollierten Gebiet westlich Mazar ziemlich besorgt.  Vgl. Bericht von 2015,

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1368 )

Nachts seien die Straßen unsicher, tagsüber gehe es. Nach Samangan, Taloqan und Feyzabad könne man mit dem Auto. Westlich von Mazar, in der Gegend von Takhta Pul, seien Taliban in die Dörfer eingesickert. Viele Schüler kommen aus Dörfern mit Taliban. Der Campus habe eine hohe Akzeptanz und arbeite weiterhin ungestört. Die Taliban wollen wohl nicht die Sympathien der Bevölkerung verscherzen und als Zerstörer auftreten. Insgesamt sei die Sicherheitslage aber schlechter geworden.

Zzt. werden in Takhta Pul ca. 1.500 Schülerinnen und Schüler von rund 150 Lehrpersonen unterrichtet. Für 110 Frauen stehen gut ausgestatte Unterkünfte zur Verfügung. Einzugsgebiet ist der ganze Norden.  Der Campus arbeitet solide eigenständig, flankiert von Trainingsmaß-nahmen für das Lehrpersonal. Ein sehr landeserfahrener deutscher Consultant  begleitet von Anfang an die Entwicklung des Campus. Unter staatlichen Bildungseinrichtungen soll dieser Campus führend sein.

Mit drei Polizisten des GPPT

In Mazar sind zzt. 15 deutsche Polizeibeamte, in Kabul sollten es eigentlich 35 sein. Nach dem Angriff auf „Green Village“ besteht in Kabul aber keine Arbeitsfähigkeit, geht es um Erhalt von Strukturen.

In Mazar arbeitet GPPT an zwei Schwerpunkten: (a) am Flughafen Beratung der Afghan Border Politice (über 200 Polizisten) bei Passkontrolle, Dokumentenexperten, Vorkontrollen und Interpol-Komponente;

(b) im Sergeant Training Center (STC) der ANP (früher Regionales Ausbildungszentrum, Baustart 2008, deutsch finanziert, 2014 Übergabe an die afghanische Seite) für Polizei-Unteroffiziere, ostwärts an Camp Marmal anschließend. Die Polizeischülerzahlen schwanken zwischen 120/300 und 1.500. Die Absolventen des STC sind bei Operationen an vorderster Front dabei. GPPT-Aufgaben sind:

- Beratung der Leitung

- Fortbildung der mittleren Ebene

- Training für Wachmannschaften des STC

- Insgesamt train the trainer.

Plus der deutschen Polizei sei: Sie war durchgängig da. Das schaffe Vertrauen. Bei Beratungsbedarf werde man als erstes gefragt. Die Afghanen wollen wohl eher deutschen Standard.

Heimatbundesländer: Niedersachsen und Baden-Württemberg tragen die Beteiligung an internationaler Polizeihilfe voll mit. Der Dienstellenleiter des Niedersachsen war selbst im Auslandseinsatz. Insgesamt sei man eineinhalb Jahre weg. Manchmal fehle es an Anerkennung. Das werde von vielen angesprochen.

(Ich bin erleichtert zu hören, dass das Ausbildungszentrum noch gut laufen soll und dass GPPT nicht nur Spitzenberatung betreibt, sondern auch noch dichter an der Ausbildung dran ist. Ob die Beratungskapazitäten ausreichen, um Wirkung zu erzielen, kann ich nicht beurteilen. In diesen Tagen findet am neuen Fachgebiet „Internationale polizeiliche Beziehungen“ an de Dt. Hochschule der Polizei in Münster erstmalig eine Tagung zur Evaluation von polizeilichen Auslandseinsätzen statt. Auf die Ergebnisse bin ich gespannt.)

Andere Aufbauprojekte

PATRIP-Foundation: Pakistan-Afghanistan-Tajikistan Regional IntegrationProgram: Unterstützung von wirtschaftlicher, sozialer Entwicklung in den Grenzregionen der drei Länder, um politische Spaltungen zu überbrücken und grenzüberschreitende Kooperation zu stärken. Hierbei geht es um Brücken, Stromversorgung, Märkte, Gesundheitsstationen. Immer müssen die Menschen beider Seiten davon profitieren. Umsetzung über NGO`s. Die Projekte gehen mit Capacity Building einher.

Erster und größter Geber ist das dt. Auswärtige Amt. Luxemburg und Welthungerhilfe sind ebenfalls beteiligt. Das Programm funktioniere gut. Ähnliches gebe es in der Sahelzone.

( http://www.patrip.org/en/home/ )

AA-Schwerpunkte sind Stabilisierung (Polizeiaufbau, Unterstützung staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen) und humanitäre Hilfe (Binnenvertriebene, Rückkehrer, humanitäres Minenräumen); Projekte z.B. zu Jugendförderung in bestimmten Stadtteilen, Rechtsstaatsförderung, Frieden und Mediation (z.B. Verhandlungstraining für Gespräche mit den Taliban, Schaffung humanitärer Zugänge auf taktischer Ebene, Optionen einer Verfassungsreform), Wiederaufbau einer zweiten großen historischen Gartenanlage (nach Bagh-e Babur, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/aussenpolitik/keiWie m-der-hoffnung-79451 )

EZ-Schwerpunkte sind gute Regierungsführung, Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung (inkl. Berufsbildung), kommunale Infrastruktur und Stadtentwicklung sowie Grund- und Sekundarbildung. (Gesamtübersicht der von AA und BMZ finanzierten Projekte auf https://www.ez-afghanistan.de/de/front )

Deutschland arbeitet zusammen mit 15 afghanischen Ministerien (mit ihren Provinz- und Distriktbehörden), drei staatlichen Organisationen, Provinzräten, Gemeindeentwicklungsräten sowie 84 deutschen, internationalen und afghanischen NGO`s.  https://www.ez-afghanistan.de/de/page/nro-partner

Eröffnung des Darul-Aman-Palastes am 20.08.2019 durch Präsident Ashraf Ghani in Anwesenheit vieler Regierungsmitglieder, Politiker, Aktivisten und anderer Gäste. Der Palast wurde in den 1920er Jahren nach dem Vorbild des Berliner Reichstages errichtet und sollte das Parlament, die Regierung und das Oberste Gericht aufnehmen. Zerstört im Bürgerkrieg der 1990er Jahre von den Mudschaheddin war die Ruine des Darul-Aman-Palastes seitdem Symbol des kriegszerstörten Afghanistan. Der Wiederaufbau begann im Mai 2016. Dass er jetzt gelang, wurde in Deutschland praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Ich wurde zufällig durch ein Deutschlandfunk-Interview mit Martin Gerner darauf aufmerksam. ( https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-aktuelle-kultur/audio-afghanistan-wie-frauen-mit-filmen-gegen-die-taliban-kaempfen-100.html ; https://tolonews.com/afghanistan/ghani-inaugurates-darulaman-palace-after-its-renovation ; Thomas Ruttig zum Wiederaufbau des Palastes und die Auseinandersetzung darum. 04.06.2016, https://thruttig.wordpress.com/2016/06/04/2546/ ; aktuell zur Eröffnung  

5th Herat International Women`s Film Festival (HIWFF), nach zweijähriger Unterbrechung  am 26.-29.08.2019 in Kabul, Bericht von Martin Gerner

60 Filme wurden in drei Kinosälen gezeigt, ein Saal prioritär für Familienbesuche – entsprechend einer früheren afghanischen Tradition.

„(…) In Europa haben wir von den vorigen Ausgaben des Festivals nicht oder kaum Notiz genommen. Natürlich wegen der immer gleichen, negativen Schlagzeilen vom Hindukusch. Suggeriert wird eine permanente Armut an kulturellen Veranstaltungen in Afghanistan. Das HIWFF stellt diesem westlichen Narrativ eine vitale, junge Generation an Filmemachern und Filmemacherinnen entgegen, dazu die Wiederentdeckung eines Publikums, das sich trotz großer Risiken in die wenigen Kinosäle von Kabul wagt. Die Message ist klar: Ja, es gibt eine rege Filmwelt in Afghanistan. Und ja, afghanische Filme können international durchaus mit konkurrieren, auch wenn vor allem bei abendfüllenden Produktionen viele Luft nach oben ist.
Soweit ich mich umgeschaut habe, bin ich der einzige westliche Journalist auf diesem Filmfestival gewesen. Und das in doppelter Rolle, weil auch als Mitglied der internationalen Jury für Dokumentarfilm angefragt und eingeladen. (…)

Ein Novum diesmal: Das Festival expandiert in das Land hinein. Neben Kabul und Herat (wo die ersten drei Ausgaben stattfanden) jetzt auch Bamiyan und Jalalabad, die paschtunische Metropole im Nordosten, an der Grenze zu Pakistan. Bemerkenswert, weil hier Kultur und Film weitgehend männlich geprägt sind, weibliche Regisseure absolute Ausnahmen bleiben. Auch haben es bisher nur sehr wenige paschtunische Filme auf das Festival geschafft. Ich selbst habe 2011 ein Seminar über Story telling im Dokumentarfilm in Jalalabad gegeben. Es waren damals ausschließlich Männer unter den 25 Teilnehmern. Weibliche Autorinnen haben es in dem sehr traditionsbewussten Werteraster der paschtunischen Gesellschaft oft schwerer als in Herat oder Kabul. Deshalb ist es erklärtes Ziel der Festivalmacher, in Zukunft auch paschtunische Regisseurinnen mehr teilhaben zu lassen und sie zu Filmproduktionen zu animieren. (…)“ (http://martingerner.de/no-sell-out-to-taliban-herat-international-womens-film-festival/ ; https://hiwff.com/ )

Nachbemerkung

Vorm Rückflug frühmorgens an der Rollbahn: der tiefe Schatten des Marmal-Gebirges, der vorsichtig aufhellende, blanke Himmel. Zu dieser Zeit erscheint Afghanistan immer wieder als Oase des Friedens. Im modernen, blitzsauberen Abflugterminal erinnern unsere hochgerüsteten Close Protectors an die realen Bedrohungspotenziale. Der Abschied von ihnen ist wieder besonders herzlich.

Vor der Reise kam mir der Gedanke, dass dies möglicherweise mein letzter Besuch in Afghanistan sein würde. Man wird ja älter. Der Gedanke hat sich vor Ort verflüchtigt.

Letzte AFG-Beiträge

- Artikel in den Westfälischen Nachrichten 08.11.2019, https://www.wn.de/Welt/Politik/4023063-Afghanistan-Experte-und-Sicherheitspolitiker-Winfried-Nachtwei-war-zum-20.-Mal-am-Hindukusch

- UNAMA-Halbjahresbericht I/2019  + jüngste SIGAR-Berichte zu Zivilopfern, Sicherheits- und Risikolage in Afghanistan: Rückgang der Zivilopfer um 27%, aber: Anstieg der Zivilopfer durch Pro-Regierungskräfte um 31%, Anschlagswelle seit Juli, 06.09.2019, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1603

- Einmalige Langzeitstudie zu deutschen Afghanistan-Rückkehrern: Wie verarbeiten sie ihre Einsatzerfahrungen, wie stehen Sie drei Jahre danach zum AFG-Einsatz?, Kommentierte Zusammenfassung der Studie mit Ergänzungen zum  Einsatzkontext, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1576 und ANHANG II, Sicherheitsvorfälle in AFG-Nord März bis Oktober 2010, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1574

- Erste Kommentare zur Ankündigung eines US-Teilabzuges aus Afghanistan von T. Ruttig, A. Cordesman/CSIS, TOLOnews, Longwar Journal u.a., 23.12.2018, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1566

- „Gehen oder bleiben?“ Mein Vortrag bei der 32. Afghanistan-Tagung in Villigst – vier Wochen vor der Ankündigung eines US-Teilrückzugs aus Afghanistan, 24.11.2018, (Bericht folgt) http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1563

Reiseberichte:

2016: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1441

2015: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1345

2012: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1183

2011: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81&aid=1067

2009: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81&aid=930

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch