VI. Maikowskis in den USA

Von: Webmaster amSo, 10 Dezember 2006 00:08:18 +01:00
Bei Kriegsende flüchtete M. nach Westdeutschland und studierte an der baltischen Universität in Pinneberg Rechtswissenschaften.

1951 wanderte M. von Pinneberg in die USA aus. Bei der Einreise gab M. sich als „Buchhalter bei der Lettischen Eisenbahn" von 1941 bis 1944 aus; seine Polizeikar­riere verschwieg er. Laut Anklageschrift war M. in den fünfziger und sechziger Jah­ren führend in verschiedenen lettischen Vereinigungen aktiv, so war er von 1953 bis 1963 Präsident der lettischen katholischen Kirchengemeinde in New York und von 1952 - 1955 Generalsekretär der lettischen katholischen Gemeinde in den USA. Christopher Simpson1 nennt weitere führende Mitgliedschaften M.'s: bei den Daugavas Vanagi (Dünafalken), der 1945 gegründeten Selbsthilfeorganisation ehe­maliger Angehöriger der lettischen Waffen-SS; in der katholischen Laienorganisati­on „[ntermarium", von der führende Mitglieder „in den 40er und Anfang der 50er Jahre völlig davon in Anspruch genommen (waren), Naziflüchtlinge aus dem Osten in den Westen zu schmuggeln.2 Er sei stellvertretender Vorsitzender der Amerika­nisch-Lettischen Vereinigung sowie Delegierter bei der „Versammlung unterdrück­ter europäische Nationen" gewesen. Während des Kalten Krieges unterstützte die CIA intensiv diese und andere osteuropäische Exilorganisationen. Der ehemalige Leiter der CIA-Geheimoperationen in der Sowjetunion, Harry Rositzke, beschrieb die offiziellen Kriterien bei der Auswahl der Kooperationspartner beim Kampf gegen den Kommunismus: „Es war unbedingt notwendig, daß wir jeden Schweine­hund verwendeten, Hauptsache, er war Antikommunist (...), (und) da wir unbedingt darauf aus waren, Kollaborateure anzuwerben, sahen wir uns ihre Papiere eben nicht zu genau an."3 In den 70er Jahren wirkte M. führend in der lettischen Sektion der „Ethnic Voters Division" der Republikanischen Partei mit.4

Anfang der sechziger Jahre wurden in den USA erste Vorwürfe gegen M. bekannt. Überlebende des Rigaer Ghettos sammelten Belastungsmaterial. Das anläßlich des Rigaer Prozesses vorgebrachte Auslieferungsgesuch der UdSSR vom 9. Juni 1965 lehnten die USA mit der Begründung ab, die USA habe niemals die Einverleibung Lettlands in die UdSSR anerkannt.

Erstmalig befragte die US-Einwanderungsbehörde „Immigration und Naturalization Service" (INS) M. in den Jahren 1965 und 1966, allerdings ergebnislos.

1967 appellierten 938 lettische Juden in einem Offenen Brief an die Vereinten Natio­nen und die US-Behörden, den in Riga verurteilten und in Mineola/New York leben-den M. zur Rechenschaft zu ziehen. Sie warfen ihm und den zwei in Riga Mitange­klagten Eichelis und Puntulis vor, die Ermordung von 15.000 Zivilisten, darunter 5.128 Juden aus dem Bezirk Rezekne, sowie die Vernichtung des Dorfes Audrini organisiert und geführt zu haben.

Im Februar 1973, als der Fall der in Queens lebenden Hausfrau und früheren KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan Aufsehen erregte (sie wurde später an die Bundesrepublik ausgeliefert), nahm die Einwanderungsbehörde in New York erneut Ermittlungen gegen M. auf. Zu dieser Zeit liefen bei der Behörde insgesamt Ermitt­lungen gegen 38 Personen, die unter Verdacht standen, an NS-Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein und dadurch, daß sie dies bei Einwanderung verschwiegen hatten, gegen die US-Einwanderungsgesetze verstossen zu haben.

1973 demonstrierten Überlebende des Rigaer Ghettos vor dem deutschen General­konsulat für seine Auslieferung an die Bundesrepublik und im Mai 1974 vor M.'s Privathaus in Mineola/Long Island.

Dabei richtete man scharfe Kritik gegen die Einwanderungsbehörde, von der zuvor schon ein Chefermittler mit der Begründung seinen Abschied genommen hatte, sie verzögere und blockiere die Ermittlungen im Fall M.: So sei sein Vorschlag abge­lehnt worden, von der sowjetischen Botschaft Informationen zu M. anzufordern.5

Am 2. Dezember 1975 demonstrierten jüdische Verbände in Sachen M. vor dem deutschen Generalkonsulat, am 6. Mai 1976, dem israelischen Unabhängigkeitstag, vierzig junge Juden vor der Einwanderungsbehörde in New York. Sie beschuldigten den INS, vorsätzlich die Untersuchungen zu ungefähr hundert bekannten Naziver­brechern verschleppt zu haben. Zugleich trug man Plakate wie „M. ermordete 15.000 - weist Naziverbrecher aus!"6

Kurz später wurde der Fall des Edgars Laipenieks aus San Diego, eines ehemaligen Offiziers der lettischen Geheimpolizei, bekannt. Ihm wurden unter anderem Morde im Rigaer Zentralgefängnis 1941 während der deutschen Besatzung zur Last gelegt. Die CIA teilte dem Beschuldigten schriftlich mit, beim INS für die Einstellung der Ermittlungen gegen ihn gewirkt zu haben. Laipenieks hatte nach offizieller Auskunft seit 1960 mit der CIA zusammengearbeitet.

Am 15. November 1976 begannen beim INS im Federal Building in Manhattan die drei ersten Ausweisungsverfahren seit mehr als 20 Jahren gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher - gegen M., Karlis Detlavs und B. Kaminskas. 15 Anklagepunkte führte die Behörde gegen M. an, u.a. die Selektion jüdischer Kinder im Ghetto von Daugavpils im Sommer 1941 und 1943, die Mißhandlung von Juden in einer Rigaer Polizeistation im Juli 1941, die Falschaussage bei der Einwanderung.

Bei der ersten Verhandlung war auch Tuvia Friedman anwesend, Leiter des Nazi Documentation Centers in Haifa: Er hatte nach eigenen Aussagen M. 13 Jahre zuvor in Mineola entdeckt.? Erwartet wurden mehr als 20 Überlebende des Rigaer Ghet­tos, die zu M. aussagen sollten.

Im August 1977 schloß der Richter die Öffentlichkeit bis auf Pressevertreter vom Verfahren mit der Begründung aus, M. müsse vor „Terroristen" und anderen Gefah­ren geschützt werden. Auch Simon Wiesenthal wurde zur Verhandlung nicht zuge­lassen. Ein Bundesrichter hob den Beschluß bald wieder auf.8 Weitere Auswei­sungshearings fanden im Oktober und Dezember 1977 statt, bei denen es nicht nur um den Fall Audrini ging. Zeugen beschuldigten ihn aber auch, im Rigaer Ghetto Kinder geschlagen und selektiert zu haben. Das Long Island Magazine brachte einen siebenseitigen Report unter der Überschrift „Auschwitz in Mineola: The Case of Boleslavs Maikovskis" (November 1978). Gleichzeitig kam es vor M.'s Privathaus immer wieder zu Demonstrationen unter Beteiligung der Jewish Defense League. Bei einem Anschlag im Mai 1978 erlitt M. eine Schußverletzung im Bein. Im April 1978 lehnte der Richter das Gesuch ab, eidesstattliche Erklärungen von Zeugen in Lettland einzuholen. Das Verfahren geriet ins Stocken, über vier Jahre fanden keine Verhandlungen mehr statt.

Nach Inkrafttreten des Holtzman-Amendments 1978 war beim US-Justizministeri­um 1979 das „Office of Special Investigations" (OSI) für das Aufspüren von NS-Kriegsverbrechern gebildet worden. M. wurde zu einem der ersten Fälle, den es durch alle Instanzen verfolgen mußte. Dabei schossen Exilkreise massiv gegen das OSI, warfen ihm Kollaboration mit dem KGB vor und scheuten sich nicht, wieder von einer „jüdisch-bolschewistischen Verschwörung" zu reden. M.'s US-Anwalt Berzins spielte in der Anti-OSl-Kampagne eine führende Rolle.9 Im Mai 198 1 konnte der OSI-Anwalt Jeffrey Mausner schließlich in Lettland Zeugen vernehmen. Die Videobänder mit den Aussagen z.B. des Anton Zhukovskis gingen in das nun wieder aufgenommene Verfahren ein. Am 30. Juli 1983 lehnte der US Immigration Court von New York City M.'s Ausweisung ab. Diese Verfügung revidierte die Bundesein­wanderungsbehörde im August 1984 und konstatierte, M. sei aus mehreren Gründen auszuweisen. M.'s Einspruch wies das Bundesappellationsgericht am 16. Juni 1986 als letzte Instanz zurück und verfügte endgültig seine Ausweisung. Die USA suchten nun ein Aufnahmeland für M., er wünschte die Schweiz, die aber ablehnte. Nach-dem auch die vom Justizministerium angefragte Bundesrepublik seine Aufnahme ablehnte, bemühte man sich um eine Genehmigung für seine Abschiebung in die Sowjetunion.'° Als diese drohte, stellte ihm 1987 das New Yorker Generalkonsulat der BRD in voller Kenntnis der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und nach Rückspra­che mit dem Auswärtigen Amt ein Besuchervisum aus. Die amtliche „Fluchthilfe" wurde gegenüber den US-Behörden geheimgehalten. Dies enthüllte M.'s Anwalt Berzins am 31. Januar 1991 als Zeuge vor dem Landgericht Münster. Der damalige deutsche Generalkonsul Sympher: Man habe der US-Regierung aus der Klemme zwischen antikommunistischer Öffentlichkeit und „Wiesenthal-Leuten" geholfen.' 1

Am 6. Oktober 1987 reiste M. in die Bundesrepublik ein und fand in Münster ganz legal eine Bleibe. Am 20. Oktober stellte er einen Asylantrag. Ein Ermittlungsver­fahren wurde gegen ihn nicht eingeleitet - entgegen der Behauptung des Auswärti­gen Amtes vom 6. März 1991, wonach „gleichzeitig" mit dem Asylverfahren Ermitt­lungen gegen M. aufgenommen worden seien.12

Auf Drängen der Anti-Defamation League (ADL), der großen jüdischen Menschen­rechtsorganisation, bestätigte das US-Justizministerium Anfang Oktober 1988, daß M. sich aus den USA abgesetzt habe. Nachdem die New York Times seinen Aufent­halt in Münster gemeldet hatte, wurde die westdeutsche Justiz aktiv. Am 19. Okto­ber 1988 erfolgte seine Verhaftung.

Die New York Times: „Die Verhaftung kam, einen Tag nachdem die Sowjetunion Westdeutschland offiziell aufgefordert hatte, M. zu verhaften, und fünf Tage vor der Reise Kanzler Kohls nach Moskau." 13

Die Umstände von M.'s Einreise in die Bundesrepublik sind bis heute nicht aufge­klärt, entsprechende Anfragen seitens der Survivors of the Riga Ghetto und der ADL wurden unzureichend beantwortet.

 


1 Christopher Simpson: Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988

2 Derselbe, a.a.O., S. 214

3 Derselbe, a.a.O., S. 195

4 Rena und Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis, Frankfurt/M. 1991, S. 255

5 New York Post, 15.5.1974.

6 JTA Daily News Bulletin, 7.5.1976.

7 Jewish Week, 21.11.1977.

8 New York Times, 9.11.1977.

9 ADL Special Report: The Campaign Against The U.S. Justice Department's Prosecution of Suspected Nazi War Criminals, New York 1985.

10 The Washington Post 20.10.1988

11 Stern Nr. 47 vom 14.11.1991

12 Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Präsidentin der „Society of the Survivors of the Riga Ghetto", Lore Oppenheimer, New York

13 Zitiert bei Giefer, a.a.O., S. 256

 


Chronologie zum Audrini-Verfahren

1940

17.6. Einmarsch sowjetischer Truppen nach Lettland

1941

13./14.6. Massendeportation aus dem Baltikum nach Sibirien

22.6. Deutscher Ãœberfall auf die Sowjetunion

3.7. Deutsche Truppen nehmen Rezekne ein

27.7. Boleslavs Maikovskis tritt Dienst als Vorsteher des 2. Reviers der Kreispolizei Rezekne an

Ende Juli Erschießung von 1.500 Juden in Daugavpils
26.8. Alberts Eichelis wird zum Kreisvorsteher von Rezekne ernannt.
9.11. Vernichtung des Ghettos Daugavpils
18.12. Die Polizisten Ludborzs und Uljanovs stoßen in Audrini auf Partisanen. Ludborzs wird von diesen erschossen.
21.12. Bei der Verfolgung der Partisanen Feuergefecht im Majovka-Wald, bei dem auch die Polizisten Gleizds, Purmalis und Mugins getötet werden.

22.12. Verhaftung der Einwohner des Weilers Audrini

24.12. Beisetzung der erschossenen Polizisten

1942

2.1. Einäscherung von Audrini

3./4. l. Erschießung von 170 Dorfbewohnern in den Ancupani-Hügeln

4. l. Öffentliche Erschießung von 30 Männern aus Audrini auf
dem Marktplatz von Rezekne

2.2. „Ereignismeldung UdSSR" Nr. 163 des Chefs der Sicher­heitspolizei und des SD (Berlin) meldet die Vernichtung von Audrini mitsamt seiner Bevölkerung

2.5. Erhängung des Juden Falks Borcs

20.7. Tätigkeitsbericht der Kreispolizei Rezekne: 5.128 Juden, 311 Zigeuner, 248 Kommunisten „liquidiert"

 

 

1944

Frühjahr
Die deutschen Besatzer lassen die Massengräber in den Ancupani-Bergen öffnen und die Leichen der Erschossenen verbrennen.

27.7. Rezekne fällt an die vorrückende Rote Armee.

1944

13.-15.10. Rückeroberung Rigas durch die sowjetischen Truppen

1946

3.2. Hinrichtung des ehemaligen Höheren SS- und Polizeiführers Ostland, F. Jeckeln, und sechs weiterer Angeklagter im Rigaer Kriegsverbrecherprozeß

1951

Einreise Maikovskis in die USA (von Pinneberg/Holstein kommend)

1965

L
11 .-30.10. Prozeß in Riga gegen Alberts Eichelis, Boleslavs Maikovskis,

Haralds Puntulis, Jazeps Basankovics, Janis Krasovskis und Peteris Vaicuks. Gegen Eichelis, Maikovskis, Puntulis, Ba­sankovics und Krasovskis wird die Todesstrafe verhängt (im Fall der beiden letzten auch ausgeführt). Vaicuks wird zu 15 Jahren Freiheitsentzug in einem Arbeitslager verurteilt.

1965-1974

Befragungen von Maikovskis durch die US-EinWanderungs­behörde

1967

Appell lettischer Juden an die UN und die US-Behörden, den in Mineola/New York lebenden Maikovskis zur Rechen­schaft zu ziehen

1968/69

19.11.- Prozeß gegen den Leiter der KdS-Außenstelle Dünaburg, Obersturmführer G. Tabbert vor dem Landgericht Dortmund
19.6. Freispruch mangels Beweise

1976-1986

Verfahren gegen Maikovskis wegen Verstoßes gegen das US-Einwanderungsgesetz; Ausweisungsbeschluß des US-Bundesappellationsgerichts

1982/84

8.10.- Prozeß gegen den Chef der Kreispolizei Rezekne, Eichelis, vor dem Landgericht Landau/Pfalz (Beginn der Ermittlungen 1976)

26.6. wegen Beihilfe zum Mord an 170 Menschen wird Eichelis zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt

1987

6.10. Ausweisungsverfügung der USA gegen Maikovskis

Einreise Maikovskis in die Bundesrepublik Deutschland mit einem Besuchervisum; Wohnsitz in Münster

1988

19.10. Verhaftung von Maikovskis in Münster

1990

18.1. Beginn der Hauptverhandlung vor der II. Großen Straf­kammer des Landgerichts Münster gegen Maikovskis

1991

Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, Entlassung aus drei­jähriger Untersuchungshaft

1994

11.3. Einstellung des Verfahrens nach 205 Sitzungen wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten