Das neue Grundsatzprogramm der Grünen wird am vorletzten Novemberwochenende beschlossen. Die Münsteraner Grünen erreichten bei der Kommunalwahl in NRW am 13.09. über 30% der Stimmen. Bei den bisherigen Beratungen zum Grundsatzprogramm und zum Münsteraner Kommunalwahlprogramm war ich mit Änderungsanträgen bzw. -vorschlägen zur Friedens- und Sicherheitspolitik erfreulich erfolgreich. Hier die Texte.
Erfolgreiche Änderungsanträge und -vorschläge
zur Friedens- & Sicherheitspolitik in
Grünen Programmdebatten im Bund und in Münster
von Winfried Nachtwei (09/2020)
I Änderungsanträge zum Entwurf des Grundsatzprogramms 2020,
Unterkapitel Globale Sicherheit, beraten und beschlossen auf der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frieden + Internationales am 26.09.2020 (online),
https://cms.gruene.de/uploads/documents/20200828_Grundsatzprogrammentwurf_BDK-Antrag.pdf ,
A 13, Zivile Präventionsfähigkeiten planmäßig stärken (zu § 353) (In der Vorabstimmung über die Rangfolge der zu debattierenden Anträge an erster Stelle)
GSP-Entwurf bisher: Zivile Krisenprävention muss noch stärker institutionell verankert werden. Dazu bedarf es ausreichender Analysekapazitäten, Regionalkompetenz, Wirkungsforschung, eines intensivierten Wissenstransfers zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik und der unmittelbaren Verfügbarkeit von Personal und Material. Zivile Krisenprävention und politische Konfliktlösung haben unbedingt Vorrang vor dem Einsatz militärischer Gewalt. Wo sich multiple Krisen häufen, kommt es besonders darauf an, bei der Krisenprävention schneller besser zu werden.
Begründung: Auf diesem Feld sind seit 20 Jahren Formulierungen üblich, dass Instrumente der Zivilen Krisenprävention gestärkt werden sollen, zuletzt in den Leitlinien „Krisen verhindern, Frieden fördern“ der Bundesregierung. Das blieb immer völlig unverbindlich. Überfällig ist die Ermittlung der Bedarfe von VN, OSZE, EU und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die Definition eines nationalen Anspruchsniveaus (was soll ein Land wie Deutschland einbringen können) und daraus abgeleitet für Kernfähigkeiten zivile Planziele auf der Zeitachse. Nur so kann der bisherige Schneckengang bei der Entwicklung ziviler Präventionsfähigkeiten überwunden werden.
(vgl. Meine Empfehlungen zu den Jamaika-Koalitionsverhandlungen im November 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1510 )
A 14 Abforderungen an Kriseneinsatz (zu § 363)(In der Vorabstimmung über die Rangfolge der zu debattierenden Anträge an vierter Stelle)
GSP-Entwurf bisher: Der Einsatz von militärischer Gewalt ist immer nur äußerstes Mittel. Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Ausland sind einzubetten in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und in ein politisches Gesamtkonzept, basierend auf dem Grundgesetz und dem Völkerrecht. Bei Eingriffen in die Souveränität eines Staates oder dort, wo staatliche Souveränität fehlt, braucht es ein Mandat der Vereinten Nationen. Wenn das Vetorecht im Sicherheitsrat missbraucht wird, um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu decken, steht die Weltgemeinschaft vor einem Dilemma, weil Nichthandeln genauso Menschenrechte und Völkerrecht schädigt wie Handeln.
Begründung: Nach 25 Jahren Erfahrungen mit deutschen Beteiligungen an VN-mandatierten, multinationalen Kriseneinsätzen ist es unzureichend, nur die zentralen Vorbedingungen einer Mandatierung zu nennen. Entscheidend kommt es zweitens auf die Umsetzung an. Und da waren mangelnde Auftragsklarheit, unausgewogene zivilmilitärische Fähigkeiten (in der Regel viel zu schwache diplomatische und zivile/polizeiliche Komponenten) und verweigerte unabhängige Evaluierungen (dahinter mangelnde Wirkungsorientierung) durchgängig die Hauptmängel.
(Vgl. W.N., Lehren aus deutschen Krisenengagements gibt es reichlich – aber auch Lernfortschritte?, https://www.degruyter.com/view/journals/sirius/3/4/article-p362.xml?language=de )
II Anmerkungen zu den friedens- und sicherheitspolitischen Passagen im Entwurf des Grundsatzprogramms 2020 von Bündnis 90/Die Grünen vom 26.06.2020, 28.07.2020
(Vollständig unter http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1652 )
(336) Schlusssatz: „(…) sind Grundlage einer nachhaltigen Friedens- und Sicherheitspolitik. Dazu gehören auch die europäische Integration und die Beteiligung an Systemen kollektiver Sicherheit.“ (modifizierte Übernahme durch den Bundesvorstand ) – jetzt (351)
(338) Zentrale Teilfähigkeiten der zivilen Krisenprävention sind gut und kompakt benannt.
Änderungsvorschlag: „Wo sich multiple Krisen häufen, kommt es besonders darauf an, (präventiv zu handeln) bei der Krisenprävention schneller besser zu werden.“ (vom Bundesvorstand übernommen) – jetzt (353)
Begründung: Die Betonung von Prävention ist seit Jahren auch in der Regierungsrhetorik angekommen. Dahinter bleibt aber der Ausbau entsprechender Fähigkeiten weit zurück, vor allem angesichts der Schere zwischen schnellen destruktiven Krisenentwicklungen und sehr langsamen konstruktiven Prozessen der Stabilisierung und Friedensförderung.
(340) Die zivilen „Sonder“fähigkeiten der EU sind gut herausgearbeitet. Offen bleibt aber ihr WOFÜR, dass sie der Krisenverhütung, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung im Kontext fragiler Staatlichkeit dienen sollen. Von dieser strukturellen friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderung ist nirgendwo im Entwurf die Rede.
Ergänzungsvorschlag am Ende: „Die deutschen zivilen Präventionskräfte (oder –fähigkeiten) sind bedarfsorientiert und planmäßig auf der Zeitachse auszubauen.“ (Vom Bundesvorstand nicht übernommen)
Begründung: Seit dem rot-grünen Aktionsplan Zivile Krisenprävention von 2004 versäumten es Bundesregierungen und Koalitionsmehrheiten, die neuen, aber noch „unterernährten“ Fähigkeiten der ZKP orientiert am Bedarf von VN, EU, OSZE planmäßig auf der Zeitachse auszubauen. Der Beirat ZKP der Bundesregierung forderte bei den letzten Koalitionsverhand-lungen eine Konzeption „Fähigkeiten Krisenverhütung/Friedensförderung (zivil)“.
(348) Änderungsvorschlag: „Die Bundeswehr ist eine im Grundgesetz und in internationalen Bündnissen verankerte Parlamentsarmee. Daraus erwächst eine Fürsorgepflicht des Parlaments gegenüber aktiven und ehemaligen Soldat*innen und Zivilbeschäftigten sowie die Verpflichtung (…). Der Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr orientieren sich an den realen und strategisch bedeutsamen Herausforderungen für kollektive Sicherheit und Friedenssicherung. (…).“. (vom Bundesvorstand nicht übernommen; von der BAG im Rahmen eines Änderungsantrages von Daniel beschlossen)
Begründung: Die verfassungsrechtliche Verankerung der Bundeswehr, die Orientierung auf kollektive Sicherheit und strategische Herausforderungen jenseits des Horizonts sind dringend notwendig. Bisher fallen die ehemaligen Soldat*innen bei der Fürsorgepflicht oft unter den Tisch. Das knappe Drittel der zivilen Bundeswehrangehörigen sollte nicht ignoriert werden.
Die Betonung der „realen Herausforderungen für Sicherheit“ ist richtig als Forderung nach einer nüchternen Risiko- und Bedrohungsanalyse ohne Feindbilder und Dämonisierungen, aber auch ohne Realitätsverweigerung und Wunschdenken. Verkürzt wäre, unter realen Herausforderungen nur die aktuellen zu verstehen. Ein Hauptmerkmal der Risiko- und Bedrohungsentwicklung der letzten Jahre ist ihre Komplexität und ihre dynamische Entwicklung mit viel Unberechenbarkeit dabei. Zu berücksichtigen ist, dass z.B. die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung (Art. 87a GG) als komplexeste Fähigkeitsstufe sich nicht kurzfristig runter- oder hochfahren lässt, sondern in Ausbildung, Übung, Ausrüstung viele Jahre braucht. Einmal abgeschafft wäre Verteidigungsfähigkeit in überschaubarer Zeit nicht rückholbar.
(350) Anmerkung: Das internationale Gewaltverbot der VN-Charta und ihre Vorgabe, „dass Waffengewalt nur noch in gemeinsamem Interesse angewendet wird“ (Präambel), ist ein historischer Friedensfortschritt, der nicht auf`s Spiel gesetzt werden darf. Als Grüne 1998/99 NATO-Luftoperationen „zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe“ im Kosovo ohne VN-Mandat zustimmten (hier ist immer die Rede von Sicherheitsrats-Mandaten), war der Zielkonflikt zwischen „Verhinderung eines zweiten Bosnien“ und der Mandatspflichtigkeit dieses Einsatzes, die nicht erfüllt werden konnte, sehr bewusst, und dass dies keinesfalls ein Präzedenzfall werden sollte. Danach war es wesentlich ein Verdienst des grünen Außenministers Joschka Fischer, über den sog. „Fischer-Plan“ Russland wieder ins Boot des Kosovo-Krisenmanagements zu holen und den VN-mandatierten KFOR-Großeinsatz mit NATO und Russland zu ermöglichen. Zwei Jahre später drängte die Bundesregierung im Fall Mazedonien auf ein VN-Mandat, kam damit angesichts der Haltung der mazedonischen Regierung nicht durch, die keine Souveränitätseinschränkung durch ein VN-Mandat und lieber Truppensteller selbst einladen wollte.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Formulierung für angemessen differenziert und in der Benennung des möglichen Dilemmas für ehrlich. Solche Dilemmata in der praktischen Politik können nicht alle im Vorhinein und bis zuletzt geregelt werden. Hier sind in der Politik gewissensstarke Entscheidungsträger*innen gefragt.
Änderungsvorschlag anschließend an (350) oder (351 neu):
„Die Erfahrungen mit der Wirksamkeit auch VN-legitimierter Krisen- und Friedensmissionen sind ernüchternd. Im besten Fall können sie Ausbruch von Kriegsgewalt verhindern, Zivilbevölkerung schützen und Voraussetzungen für politische Konfliktlösung schaffen. Dafür bedarf es klarer und erfüllbarer Aufträge, angemessener personeller Ausstattung und Ausrüstung, ausgewogener ziviler und militärischer Fähigkeiten und einer unabhängigen Wirksamkeitskontrolle. Der Schutz von Zivilisten muss gewährleistet werden können.“ (vom Bundesvorstand nicht übernommen)
Begründung: Ein notorischer Mangel der Debatten um Auslandseinsätze ist (a) ihre Fokussierung nur auf die militärische Dimension und Ausblendung ihres multidimensionalen Charakters, (b) die Dominanz des Rechtfertigungsdiskurses und die Vernachlässigung des Wirksamkeitsdiskurses (so auch im Fall des innergrünen Mandats-Streits) . Dass es in Deutschland nach 25 Jahren Teilnahme an bewaffneten und multidimensionalen Auslandseinsätzen keine unabhängige, systematische und ressortübergreifende Evaluierung gibt, bedeutet eine Verweigerung von Verantwortung sondergleichen – gegenüber dem Auftrag und der Bevölkerung des Einsatzlandes, gegenüber den in Risiken entsandten Einsatzkräften und den Steuerzahlern.
Der Ergänzungsvorschlag stimmt mit dem Tenor der Empfehlungen des Friedensgutachtens 2020 zu Friedensmissionen (S. 46 ff.) überein.
III Ergänzungen zum Entwurf des Kommunalwahlprogramm 2020 der Münsteraner Grünen, Nr. 18 Internationales und Städtepartnerschaften, 24.05.2029
(Alle Ergänzungen von der Schreibgruppe unverändert übernommen und von der Mitgliederversammlung mit dem gesamten Kommunalwahlprogramm beschlossen)
Zu Münster als Stadt des Westfälischen Friedens (nach Z. 17; ggfs. Z. 34 vor „Weltoffen“)
Kaum bekannt ist, dass ab 1939 aus dem rheinisch-westfälischen Wehrkreis VI, dessen Befehlshaber in Münster lagen, 14 Wehrmachtsdivisionen und 16 Polizei-Bataillone in den Angriffskrieg gegen die die europäischen Nachbarn und den Vernichtungskrieg im Osten geschickt wurden. Vor diesem Hintergrund ist Münster als „Stadt des Westfälischen Friedens“ besonders gefordert, vielfältig und praktisch Frieden durch Dialog zu fördern. (1)
Zu Städtepartnerschaften: Wir verbinden Menschen über Grenzen hinweg (Z. 69)
Eine besondere Art von Städtepartnerschaft ist das „Deutsche Riga-Komitee“, zu dessen Gründungsmitgliedern Münster seit 2000 gehört. Das einzigartige, vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unterstützte Netzwerk von über 50 Städten pflegt die lebendige Erinnerung an die früheren jüdischen Nachbarn, die ab Dezember 1941 in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert und dort zum großen Teil ermordet worden sind. (2)
Zum Deutsch-Niederländischen Korps (Z. 94)
In den 1980er Jahren war das Gebäude des I. Korps der Bundeswehr am heutigen Schlossplatz ein zentraler Ort für Proteste der Friedensbewegung gegen das atomare Wettrüsten. Mit dem Deutsch-Niederländischen Korps entstand hier 1995 ein militärisches multinationales Hauptquartier, wo Militärs ehemaliger Kriegsgegner so integriert wie nirgendwo sonst auf der Welt zusammenarbeiten und dabei auf die UNO-Charta verpflichtet sind. Einsätze des Korps können selbstverständlich umstritten sein. Unabhängig davon gehören seine Angehörigen zur Stadtgesellschaft. (3)
Aufmerksamkeit für Friedenspraktiker (Z. 49)
Auch aus Münster arbeiten Frauen und Männer in Krisen- und Konfliktländern für Gewaltverhütung, Friedensförderung und Entwicklung. Ihr Einsatz verdient öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur bei der Feierstunde zum Tag des UN-Peacekeepers (29. Mai) in Berlin, sondern auch in Münster. (4)
Hintergrund-Infos:
(1)Dokumentation „Kriegsspuren“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=68&aid=1539
(2) Zum Deutschen Riga-Komitee: Bericht vom Symposium in Münster, https://www.wn.de/Muenster/2015/04/1948259-Symposium-des-Riga-Komitees-Eine-gemeinsame-Erinnerung
Beitritt Nottuln, https://www.wn.de/Muensterland/Kreis-Coesfeld/Nottuln/4098793-Beitritt-zum-Riga-Komitee-Auftrag-zur-Friedensarbeit
(3) Zu 20 Jahren Deutsch-Niederländisches Korps: „Positive Kontinuitätsbrüche, friedenspolitische Chancen“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1370
(4) Diese Friedenspraktiker sind zugleich Mutmacher, von denen viel gelernt werden kann. Die Feierstunden gibt es seit 2013 und wurden vom Zentrum Internationale Friedenseinsätze/ZIF und dem Vorstand der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN angestoßen: https://dgvn.de/meldung/tag-des-peacekeepers-2019-bundesregierung-ehrt-deutsche-friedenseinsatzkraefte/
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: