"Sicherheit neu denken" verkündet: "Die Ineffektivität militärischer Stabilisierungseinsätze ist wissenschaftlich erwiesen und evident" - Wirklich? Anregungen zu GENAUEREM HINSEHEN statt Ferndiagnose mit links

Von: Nachtwei amFr, 30 Oktober 2020 18:32:03 +01:00

Die "Kampagne "Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik" aus der Evangelischen Landeskirche in Baden verkündet apodiktisch, die Ineffektivität militärischer Stabilisierungseinsätze sei "wissenschaftlich erwiesen und evident". Reichen als Beleg Zitate von neun anerkannten Autoren/Studien auf vier Seiten? Habe ich mir mit meinen Aberdutzenden Berichten aus realen Stabilisierungseinsätzen seit 1996 und Stellungnahmen zu ihren Wirkungen überflüssig viel Mühe gegeben? (Vgl. die vorherigen Beiträge auf dieser Seite) 



„Sicherheit neu denken“ verkündet:

„Die Ineffektivität militärischer Stabilisierungseinsätze ist

wissenschaftlich erwiesen und evident“ – Wirklich?

Anregungen zum GENAUER HINSEHEN von Winfried Nachtwei, ehem. MdB

(Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention)

Im September 2020 veröffentlichte die Initiative „Sicherheit neu denken“ (SnD) den Text „Den Mythos der Wirksamkeit der Gewalt überwinden: Die Ineffektivität militärischer Stabilisierungseinsätze ist wissenschaftlich erwiesen und evident“. https://www.sicherheitneudenken.de/html/media/dl.html?v=203444

Auf viereinhalb Seiten werden neun Aussagen etablierter Autoren und wissenschaftlicher Studien aufgelistet, die die These von der generellen  Ineffektivität militärischer Stabilisierungseinsätze belegen sollen. Die Beweisführung ist ausgesprochen oberflächlich und verkürzend. Sie hat mit seriöser Militärkritik wenig zu tun  und bedarf einer Kommentierung.

Hintergrund ist die Studie „Sicherheit neu denken: Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040“ Diese wurde 2013 von der Synode der Evangelischen Landeskirche in Baden (EKIBA) in Auftrag gegeben, von einer Arbeitsgruppe aus Vertreter*innen bundesweiter Friedensorganisationen verfasst und im April 2018 der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Szenario will zeigen, wie Deutschland analog dem Ausstieg aus der Atom- und Kohleenergie bis zum Jahr 2040 die „militärgestützte Sicherheitspolitik“ überwinden und zu einer nachhaltig-wirksamen Sicherheitspolitik gelangen könne. Die Autoren erheben den Anspruch, für das in EU, NATO, VN und OSZE eingebundene Deutschland in der Mitte Europas eine prinzipiell-pazifistische u n d realisierbare, sicherheitspolitische Vision zu präsentieren, die von den Niederlanden, Österreich und Schweden mitgetragen werden und von VN wie NATO gebilligt werden könnte.

Das Szenario ist erschienen in der Langfassung, https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=192848 (166 S.) und in der Kurzfassung, https://www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=197848 (36 S.).

Eine Stellungnahme zum Gesamtszenario erscheint in Kürze.

1. Fehlende Evaluierung: Die Eingangsfeststellung, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr „in keiner Weise so öffentlich und transparent evaluiert (werden) wie die Auslandseinsätze des Zivilen Friedensdienstes“, trifft im Hinblick auf Wirkungsanalysen von Gesamteinsätzen zu,  nicht im Hinblick auf taktische und operative Einsatz- und Wirksamkeitsauswertungen bei Ausrüstung, Ausbildung, Verfahren (z.B. IED-Abwehr). Allerdings sind auch Evaluierungen von relativ überschaubaren ZFD-Projekten und –Programmen einerseits und multinational geführten und agierenden Militäreinsätzen andererseits sehr verschieden in ihren methodischen und politischen Herausforderungen.

Das Fehlen einer Evaluation der Auftragserfüllung insgesamt ist nicht nur ein Defizit auf Seiten der Bundeswehr, sondern ein ressortübergreifender, strategischer Mangel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Deutsche Beteiligungen an multinationalen Krisen- und Stabilisierungsengagements sind nie nur militärisch, sondern immer multidimensional mit diplomatischen,  entwicklungspolitischen, militärischen und polizeilichen Komponenten. Und zu deren Gesamtwirksamkeit und -wirkungen gibt es seit 25 Jahren nur politische Bewertungen, nie systematische und unabhängige Evaluierungen. Eine Ausnahme ist die deutsche  Entwicklungszusammenarbeit, die nicht nur Projekt- und Programmevaluationen, sondern auch strategische Reviews und Evaluationen zustande brachte. In besonderer Erinnerung ist mir die sozialwissenschaftliche Studie „Internationale Akteure in Afghani-stan“, die im Auftrag des BMZ 2007 unter der Projektleitung von Prof. Christoph Zürcher in den afghanischen NO-Provinzen Kunduz und Takhar durchgeführt wurde.  (s. Anhang)  

Kaum eine Bundestagsfraktion hat so früh und beständig über Projekt- und Programm-evaluationen hinausgehende Wirkungsanalysen gefordert (seit 1999 zum Kosovo, seit 2006 zu Afghanistan) wie die Fraktion, die sich besonders schwer mit den Einsätzen tat und heftig um sie stritt. Keine Fraktion hat zumindest zur Wirkungsbeobachtung so viel selbst beigetragen.[1] Insbesondere das Auswärtige Amt, das federführend auch bei Bundeswehr- und Polizeieinsätzen ist, sperrte sich lange gegen eine Evaluation. Koalitionsmehrheiten im Bundestag ließen das geschehen. Erst das Weißbuch von 2016 und die Leitlinien 2017 kündigten einen evaluationsfreundlichen Kurs an.

2. Durcheinander beim Untersuchungsgegenstand: Neun mehr oder weniger kommentierte Aussagen von anerkannten Autoren sollen die apodiktische These „Ineffektivität“ belegen.

Die Beweisführung wird von vorneherein dadurch beeinträchtigt, dass die Aussagen sehr verschiedene Einsatzarten betreffen: Beim ersten Autor ist die Rede von westlichen Stabilisierungsbemühungen in der Sahel-Region, Afghanistan und Vietnam (?). Beim nächsten Autor ist allgemein die Rede von „militärischer Gewalt“, beim vierten von „Krieg“, beim fünften von „Interventionen“, beim sechsten von „militärischen Interventionen zum Schutz der Menschenrechte (humanitäre Interventionen)“, beim siebten vom US-Einsatz in Afghanistan, beim achten von „robusten Militärinterventionen“

Unerklärlicher Weise keine Rede ist von VN-geführten Friedensmissionen, die laut Mandat des VN-Sicherheitsrates Kriegsgewalt verhindern, Konfliktländer stabilisieren und Friedensentwicklung ermöglichen sollen. Völlig unberücksichtigt bleiben die – bemerkens-wert selbstkritischen – Bilanzberichte zu VN-Missionen.

Aus strikt pazifistischer Fernsicht mögen alle Militäreinsätze gleich sein – Uniformen, militärische Waffen, Vorbereitung auf  Waffen- und Kriegseinsatz. Unter Einsatzerfahrenen gibt es das geflügelte Wort „jeder Einsatz ist anders“.  In der Realität unterscheiden sich Militäreinsätze gravierend – je nach Auftrag, völkerrechtlicher Legalität, Orientierung auf kollektiven Sicherheit oder Partikularinteressen, Kräfteansatz,  Grad des (vermiedenen bis exzessiven) Gewalteinsatzes, Beachtung des humanitären Völkerrechts, Einsatzregeln. Gerade Deutsche sollten zwischen der Wehrmacht eines Angriffs- und Vernichtungskrieges und alliierten Truppen, die Europa befreiten, sowie Einsätzen im Auftrag, unter Führung der Vereinten Nationen, die Friedensabkommen absichern und erneuten Krieg verhindern sollen, unterscheiden können.

Das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin versteht unter Friedenseinsatz

eine Mission, die (a) eine internationale Organisation (b) mit Einverständnis des jeweiligen Einsatzlandes entsendet, (c)  um Krisen zu entschärfen, Gewaltkonflikte zu beenden und Frieden langfristig abzusichern. Eine solche Mission kann vor, während und nach der „heißen Phase“ eines Konfliktes tätig werden.  (vgl. Peace Operations, https://www.zif-berlin.org/ )

Warum lassen stark friedensethisch und friedensbewegt motivierte Autoren eine solche Abgrenzung multinationaler Friedens- und Gewaltverhinderungsmissionen von kriegerischen Interventionen für partikulare Machtinteressen und die Erfahrungsschätze des ZIF völlig außer Acht?

3. Die Beweisführung von SnD ist irreführend, weil die meisten der  neun Aussagen verkürzt aus ihren Zusammenhängern gelöst werden und verfälschende Interpretationen nahelegen.

3.1  In „Stabilisierung im Treibsand?“ benennt Dan Krause[2] völlig richtig zentrale politische Fehler vor allem beim Afghanistaneinsatz. Er betont die Dringlichkeit von Prävention und Mediation. Dem Einsatz von Militär als äußerstem Mittel, VN-Friedensmissionen, Ertüchtigungs- und Trainingsmissionen erteilt er jedoch keineswegs eine Absage, sondern formuliert richtige Anforderungen. Mit keinem Wort erklärt er aber Stabilisierungseinsätze generell für ineffektiv und verfehlt.

3.2  In „Sind Militäreinsätze erfolgreich? Zur Evaluation von Militäreinsätzen“ erläutert Peter Rudolf[3] von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die erheblichen Schwierigkeiten, Militäreinsätze zu evaluieren und votiert für eine differenzierte Bewertung. Er  kritisiert eine historisch oft zu beobachtende überzogene Zuversicht in die Erfolgsaussichten militärischer Gewalt und formuliert eine triftig begründete Skepsis gegenüber der Effektivität militärischer Einsätze. Daraus leitet er ab, dass das Kriterium der begründeten Erfolgsaussicht bei politischen Einsatzentscheidungen viel sorgfältiger beachtet werden müsse. Zugleich konstatiert er, dass Peacekeeping funktioniere, wenn auch nicht immer und nur zu einem gewissen Grad, und gewaltmindern und gewaltverhindernd wirken könne. Auch Peter Rudolf stützt die Behauptung von der generellen Ineffektivität von Stabilisierungseinsätzen nicht.

3.3  Die „Meta-Review of Evaluations of Development Assistance to Afghanistan, 2008-2018“ von Prof. Christoph Zürcher (BMZ 2020)[4] ist ein enormer Fortschritt in selbstkritischem Lernen: Sie fasst die Erfahrungen von Gebern zusammen und informiert, was wirkte und was nicht. Vor allem fiel auf, dass die Internationale Gemeinschaft wiederholt ihre eigenen und die afghanischen Fähigkeiten überschätzte, schnellen sozialen Wandel auf den Weg zu bringen. Am ehesten liefen bescheidene, lokal eingebettete Projekte mit schnellen, fassbaren Wirkungen. Kaum liefen komplexe Projekte, die auf Capacity Building und Verhaltensänderung zielten. (Genauer zu Governance, Afghan Reconstruction Trust Fund, subnationale Verwaltung, Stabilisierungsprojekte, Bildung, Gesundheit, Gender, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Infrastruktur, Capacity Building) Zivile Stabilisierungsprogramme führten in unsicheren Regionen nicht wie erhofft zu mehr Stabilität.

Im Sicherheitskontext erwies sich der Mangel an Basissicherheit als weit verbreitetes Problem. Die Implementierung und das Monitoring von Entwicklungsprojekten wurde massiv erschwert, wenn die Projekte nicht erreichbar waren oder Mitarbeiter mit dem Risiko arbeiteten, von Aufständischen angegriffen zu werden. Künftig sei anzuerkennen, dass Afghanistan ein in 40-jährigen Krieg verwickeltes Land sei und kein Post-Conflict-Land.

Zusammengefasst kommt Zürcher zu dem paradoxen Ergebnis, dass viele Hilfsprogramme im Licht der Meta-Review nur marginal erfolgreich zu sein scheinen, dass die Gesamtsituation in Afghanistan heute aber bemerkenswert anders  - und besser - sei als in den frühen Tagen von 2002.

Der multinationale Afghanistaneinsatz, begonnen als Stabilisierungseinsatz und mündend in Aufstandsbekämpfung, schließlich eine Beratungsmission, erreichte nicht das Auftragsziel eines sicheren Umfeldes. Die Meta-Review macht zu der Frage, ob sich in Afghanistan die „Ineffektivität von Stabilisierungseinsätzen“ gezeigt habe, nur kritische Aussagen zu zivilen Stabilisierungsprogrammen in unsicheren Regionen. Zum militärischen Stabilisierungseinsatz und den Gründen seines Nichterfolges wird keine Aussage gemacht. Insofern liefert die Meta-Review auch keinen Beleg für die generelle Ineffektivitätsthese von SnD.

 3.4  Oberst Prof. Matthias Rogg von der Führungsakademie der Bundeswehr wird mit der zutreffenden Feststellung zitiert, „Kriege seien stets von Wunschdenken und Machtphantasien geleitet und das Potential von militärischen Interventionen werde chronisch überschätzt. Sowohl kulturanthropologisch als auch militärhistorisch finden sich zahlreiche Beispiele, die diese Thesen belegen.“ Daraus lässt sich eine realistische Skepsis gegenüber militärischen Interventionen ableiten. Soweit ich Oberst Rogg, den langjährigen Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr,  kenne, leitet er aus dieser Skepsis aber keineswegs ein Pauschurteil zu Stabilisierungseinsätzen ab.

3.5 Die SIPRI-Feststellung, dass Gewaltkonflikte durch Interventionen häufig mehr Opfer fordern, länger dauern und schwieriger durch Verhandlungslösung beizulegen sind, ist unbestreitbar. Das trifft vor allem für kriegerische Regime-Change-Interventionen zu. SIPRI veröffentlicht zugleich regelmäßig zu Multilateral Peace Operations, so die Karte von 2020 mit 61 aktiven Friedensmissionen[5] von VN, EU, OSZE, AU, NATO, ECOWAS, G5 Sahel, OAS u.a., darunter sowohl politische wie Stabilisierungsmissionen. Das schwedische Friedensforschungsinstitut als Kronzeugen für die generelle Ineffektivität von Stabilisierungseinsätzen anzuführen, ist abwegig.

3.6  Die Friedensforscher Matthias Dembinski und Thorsten Gromes vom PRSI/HSFK in Frankfurt/M.  haben seit 2013 mehrere Studien zur Evaluation „humanitärer militärischer Interventionen“ veröffentlicht. Wo das Wissen um die Wirkungen und Erfolgsbedingungen solcher Interventionen gering sei, wollten sie zu einer „ergebnisoffenen, wirkungsorientierten Evaluation“ beitragen. Im „Datensatz der humanitären militärischen Interventionen nach dem Zweiten Weltkrieg“ (2017)[6].fassten sie zusammen:

„Humanitäre militärische Interventionen fanden überwiegend mit Zustimmung der Vereinten Nationen oder der Regierung des Ziellands statt. Mehr als die Hälfte der Einsätze richtete sich nicht vorrangig gegen eine Konfliktpartei. Bei der absoluten und relativen Zahl der entsendeten Truppen zeigten sich ebenso große Unterschiede zwischen den Interventionen wie beim Blick auf deren Tätigkeitsprofile. Im überwiegenden Teil der Fälle dauerte die von Gewalt geprägte Notlage auch ein Jahr nach Beginn der humanitären militärischen Intervention an. Hingegen gab es mehr Fälle, in denen das Ausmaß tödlicher Gewalt während der Intervention stark zurückging, als solche, in denen es anstieg oder sich kaum änderte. In den auswertbaren Fällen kam es mehrheitlich nach Ende der humanitären militärischen Intervention zu keinen weiteren von Gewalt geprägten Notlagen. Dass der Einsatz in Nachbarländern Gewaltkonflikte auslöste oder verschärfte, beobachteten wir nur in Ausnahmefällen, zumindest im Zeitraum bis zu zwei Jahre nach Ende der humanitären militärischen Intervention.“ (S. 35)

Im Anhang (S. 37) werden zehn Befunde zu militärischen Interventionen aufgeführt. In der Mehrzahl kommen sie zu dem Ergebnis, dass Interventionen unter bestimmten Bedingungen Massentötungen unwahrscheinlicher machten und Leben retteten.

SnG greift aus der Datenfülle der Studien nur das Zitat heraus (andauernde gewaltsame Notlage in mehr als der Hälfte der Fälle nach einem Jahr), das der eigenen Ineffektivitätsthese am nächsten zu kommen scheint. (Unbeachtet bleibt dabei, dass die Schwelle der von Gewalt geprägten Notlage recht niedrig bei mindestens 25 Menschen liegt, die in einem Jahr durch bewaffnete Konflikte, nicht-staatliche Konflikte oder einseitige Gewalt gegen Zivilisten ums Leben kommen.)

3.7  US-Regierungsevaluation zum Militäreinsatz in Afghanistan (2019)[7]

Die in dem ursprünglich geheim gehaltenen SIGAR-Report offenbarte Ahnungslosigkeit der politischen und militärischen Führung der USA gegenüber Afghanistan und die damit einhergehende Lügenpolitik ist erschreckend, aber nicht überraschend. Sie wurde auch von General Stanley McChrystal[8] (2009-10 ISAF-Kommandeur, 2003-2008 Kommandeur des US Joint Special Operations Command (Führung) in der Arte-Doku „Afghanistan: Das verwundete Land“ angesprochen: „Wir waren besorgt, Al Qaida nicht aufspüren und vernichten zu können. Es gab nur sehr wenig Verständnis oder Anerkennung für das, was der Sowjetkrieg oder der Bürgerkrieg mit dem Land gemacht hatte. Wie kam es zu diesen Warlords? Wir verstanden nur wenig von dieser merkwürdig korrupten Gesellschaft. Alles, was wir versuchten zu verändern, ging anders aus, als wir erwarteten.“

(Nach Beginn des ISAF-Einsatzes von 51 Ländern): „Ich hatte das Gefühl, dass Amerikaner Westler allgemein willkommen waren. Einige waren sogar sehr enthusiastisch. Der Westen wusste nicht, was er genau tun sollte, wieviel in Afghanistan investiert werden und wie stark er sich einmischen sollte. Ein absolutes Durcheinander. Das war mein erster Eindruck.

Es war, als wäre man als College-Student in einer Star-Wars-, einer Mafia-Bar. Wir haben nichts verstanden.“

Das Engagement der Niederlande in Afghanistan zum Beispiel verlief da sehr anders – und das in der konfliktträchtigen Südprovinz Uruzgan. (siehe Anhang)

3.8  Den Mythos „Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen“ kritisiert Hans-Georg Ehrhart (IFSH)[9] pointiert und schlüssig. Sein Beitrag in der Reihe „Mythenpapiere“ der Studiengruppe Europäische Sicherheit und Frieden  ist ausgesprochen anregend und hilfreich. Er verwirft solche robusten Interventionen, bei denen massiv militärische Gewalt eingesetzt wird. Er betont aber auch: Die Internationale Gemeinschaft „kann und soll notfalls auch militärisch intervenieren, wenn die völkerrechtlichen politischen und ethischen Voraussetzungen erfüllt sind. Traditionelles Peacekeeping sollte dabei angesichts der Pathologien gegenüber der robusten Friedenserzwingung den Vorrang haben. Viel wichtiger wäre es aber, den friedlichen Wandel von Gesellschaften  zu unterstützen. Die entsprechenden Friedensstrategien sind alle bekannt. (…)“ Ehrhart markiert „robuste“ Militäreinsätze (mit umfassendem Gewalteinsatz) als ineffektiv, ja kontraproduktiv, nicht jedoch Stabilisierungseinsätze generell.

3.9  Die Vorstellung der Studie „Warum ziviler Widerstand funktioniert“ ist aufschlussreich und gewinnbringend. Sie bekräftigt auch meine Erfahrung, dass gewaltfreie Widerstände und zivile Konfliktbearbeitung viel erfolgreicher sind und viel mehr Potential besitzen, als gemeinhin wahrgenommen wird. Deshalb unterstütze ich auch seit den frühen 1990er Jahren den Aufbau entsprechender Fähigkeiten und sehe hier trotz allerfortschritte erheblichen Nachholbedarf. Leider zeigen aber die historische Erfahrung wie der Blick in aktuelle Konfliktgebiete,  dass Gewaltfreiheit bei bestimmten Bedrohungs- und Konfliktlagen an ihre Grenzen stößt.[10]

4. „Den Mythos der Wirksamkeit von Gewalt überwinden“. Wo und bei wem?

Für viele Gewaltakteure weltweit – organisierte Kriminalität, terroristische Gruppierungen, Milizen, extremistische Gewalttäter, autoritäre Machthaber etc. – ist Gewaltanwendung ausgesprochen wirksam und in ihrem Sinne oft erfolgreich. Für gläubige Selbstmordattentäter ist das Zersprengen von Menschen ein „Erfolgsrezept“ sondergleichen. Aber um diese Gewaltwelten geht es bei „Sicherheit neu denken“ kaum.

Der „Mythos von der Wirksamkeit von Gewalt“ wird von SnD auch nicht sonderlich in beträchtlichen Teilen der US-amerikanischen Politik und Gesellschaft und anderen Ländern verortet. Dieser Gewaltglaube, die Überzeugung, mit Gewalt „das Böse“ und damit Bedrohungen beseitigen zu können, wird vor allem als „Grundbestandteil der militärischen Sicherheitspolitik“ hierzulande gesehen (S. 7). Militärische Einsätze würden „oftmals eine schnelle Lösung und eine kurze Einsatzdauer“ versprechen.

Es wäre hilfreich, wenn die sonst so zitierfreudigen Autoren von SnD dies mit Aussagen aus dem deutschen sicherheitspolitischen Diskurs belegen würden. Bei 70 Mandatsberatungen zu Auslandseinsätzen ab 1994, bei zahllosen Begegnungen mit Bundeswehrangehörigen und bei fünf ressortgemeinsamen Planspielen CERASIA des Führungsnachwuchses der Bundeswehr seit 2017 ist mir solche Gewaltgläubigkeit praktisch nie begegnet. Es dominierte  Zurückhaltung gegenüber Auslandseinsätzen und erst recht gegenüber Kampfeinsätzen. Gerade einsatzerfahrenen Offizieren waren die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten von Militär in solchen innerstaatlichen Konflikten sehr bewusst: Betont wurde immer wieder, dass Militäreinsätze keinen Frieden schaffen können, sondern im besten Fall größere Kriegsgewalt verhindern und damit Voraussetzungen schaffen und Zeit „kaufen“ können für politische Lösungen. Auffällig oft mahnten gerade Offiziere in Einsätzen zu einer Stärkung der zivilen und polizeilichen Kapazitäten. Immer wieder zitiert wurde die Feststellung von General Egon Ramms (2007-2010 höchster deutscher NATO-General), dass der Erfolg eines Einsatzes zu 70% an der zivilen Komponente hänge.

Insofern ist der Vorwurf an bundesdeutsche Sicherheitspolitik, sie hänge einem Mythos der Wirksamkeit von Gewalt an, eine Unterstellung und für alle, die in ihrem Rahmen den Friedensauftrag des Grundgesetzes ernst nehmen, eine schwerwiegende Beleidigung.

5. Gegenfragen

Von 1995 bis 2012 waren über 63.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen im Rahmen von IFOR, SFOR und Althea in Bosnien & Herzegowina eingesetzt, bei KFOR im Kosovo von 1999 bis heute über 130.000.

Als parlamentarischer Mitauftraggeber der deutschen Bosnien- und Kosovo-Einsätze bis 2009 interessiert mich sehr, wie SnD das Urteil begründet, die VN-mandatierten und ausgesprochen gewaltarmen Stabilisierungseinsätze in Bosnien und Kosovo seien ineffektiv und von Gewaltgläubigkeit getragen (gewesen). Wichtig wäre dabei auch zu erfahren, wie die Haltung der örtlichen Bevölkerung zu diesen Einsätzen beurteilt wird.

6. Chance einer breiteren friedens- und sicherheitspolitischen Debatte: Bei aller Kritik an dem Thesenpapier kann es dazu dienen, Streit, Auseinandersetzung, tiefere Befassung mit diesem gewichtigen, teuren und strittigen Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern - hoffentlich als ein Anstoß, Communitygrenzen überschreitend Frieden und Sicherheit neu bzw. weiter zu denken. Bedarf gibt’s dazu auf allen Seiten.

ANHANG

(1)  Pressekonferenz am 06.02.2008 zur Vorstellung der sozialwissenschaftlichen Studie „Internationale Akteure in Afghanistan“ durch Projektleiter Prof. Christoph Zürcher, Jan Koehler, der die Umfrage 5 Monate vor Ort begleitete, Prof. Thomas Risse und Dr. Lars Brozus vom Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ an der FU Berlin. Wie beurteilt die Bevölkerung im afghanischen Nordosten (Provinzen Kunduz, Takhar) das Engagement der internationalen Helfer und Truppen, wie ist deren Wirkung? Hierfür wurden im Februar/März 2007 2034 Haushalte in 77 Gemeinden von „Coordination of Afghan Relief“ (CoAR) zu Veränderungen in den letzten zwei Jahren befragt. Die Studie wurde in Kooperation mit dem Referat Evaluierung des BMZ durchgeführt.

Die wesentlichen Ergebnisse:

- Sicherheit: Eine überwältigende  Mehrheit war der Meinung, dass sich die Sicherheitslage in den letzten zwei Jahren verbessert habe: 76% sehr, 23% etwas. Jeweils ca. 80% schrieben das den fremden Truppen und der Regierung zu, 50% den internationalen Entwicklungsakteuren. Lokalen Kommandeuren wurde nur zu 6% ein positiver Einfluss zugesprochen, 78% meinten weder noch. 80% der Befragten fühlen sich nicht bedroht. Von den 20%, die sich bedroht fühlen, 17% durch kriminelle Truppen, 10% durch Taliban, 5% durch ausländische Truppen. (Letztere eher durch Hörensagen als durch eigene Erfahrung) Bei vertiefenden Gesprächen lobten auch Ex-Taliban den „Landfrieden“, dass Willkür von Gewaltakteuren unterdrückt werde: ´So lange die Deutschen da seien, werde wenigstens nicht noch die andere Hälfte des Dorfes niedergebrannt`. (…)

Zusammengefasst: Die afghanische Bevölkerung im Nordosten sieht das Engagement der internationalen Helfer und Truppen in ihrem Land erheblich positiver als dies bisher in Deutschland wahrgenommen wird. Während die ausländischen Akteure wegen ihrer Leistung eine hohe Legitimität haben, wird der afghanische Staat nur marginal wahrgenommen. Das zeigt wiederum, wie sehr das „Statebuilding“ noch am Anfang ist und welche zentrale Rolle den lokalen Strukturen zukommt.

Bewertung: Die Frage nach der Wirksamkeit des internationalen Engagements wurde bisher überwiegend mit Input-Bilanzen und Statistiken „beantwortet“. Mit dieser Studie wird erstmalig ein solider Beitrag zur Wirksamkeitsanalyse geleistet: Was hat das internationale Engagement in Nordost-AFG gebracht, wie ist es bei den Menschen angekommen und vor allem wahrgenommen worden? Die Ergebnisse widerlegen eine verbreitete Wahrnehmung hierzulande, die über die „bad news“ der Anschläge nur vermeintliche Sinnlosigkeit und Verschlechterung sieht. Die Studie muss all denjenigen kräftig zu denken geben, die pauschal von ISAF-Besatzern reden und einem Sofortabzug das Wort reden. Das wäre gegen den Willen und das Interesse einer Bevölkerung, die Schlimmstes durchgemacht und in den letzten Jahren etwas Hoffnung erfahren hat.“[11]

(2) Der niederländische Afghanistaneinsatz

„Die Niederlande trugen 2006 bis 2010 die Hauptverantwortung in der südafghanischen Unruheprovinz Uruzgan. Im Chora Valley wurden im Juni 2007 ca. 120 niederländische und afghanische Soldaten von mindestens 800 Aufständischen attackiert. Die niederländische militärische Führung, unter ihr ein Kompaniechef mit Srebrenica-Erfahrung, stand in einem extremen Dilemma zwischen Überlebenskampf und Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Heute gilt der Einsatz der Niederländer als der relativ erfolgreichste aller ISAF-Kontingente – nah an der Bevölkerung, sehr kundig bezüglich der örtlichen Machtkonstellationen, kohärentes Aufbau- und Entwicklungsprogramm, militärisch nicht aggressiv, bei Angriffen aber konsequent in der Reaktion.

Das Engagement der niederländischen Diplomaten, Soldaten, Entwicklungszusammenarbeit und Polizisten wurde so genau evaluiert wie es bei keinem anderen nationalen Kontingent in Afghanistan der Fall war. Durchgeführt wurde die Evaluierung vom „The (Tribal) Liaison Office“ in Kabul, dem 2003 von Swisspeace gegründeten und von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem AA unterstützen,  unabhängigen afghanischen Kompetenzzentrum zur Stärkung lokaler Governance, Sicherheit und Stabilität. Ausgehend von einer Baselinie-Studie von 2006 untersuchte das TLO das Erreichte auf den Feldern sozioökonomische Entwicklung und Aufbau, Governance und Rule of Law, Sicherheit und Insurgency, internationale militärische Akteure und niederländischer Abzug. Im September 2011 veröffentlichte die niederländische Regierung eine 132 Seiten umfassende „Final evaluation: Netherlands contribution to ISAF, 2006-2010“. Eine solche Evaluierung durch das Außen- und das Verteidigungsministerium ist laut Überprüfungsprotokoll zu Entscheidungen über militärische Auslandseinsätze von 2009 nach Einsatzende vorgeschrieben. Im April 2012 erschien eine TLO-Folgestudie über 18 Monate australisches Engagement in Uruzgan.“[12]

(3) Ausgewählte Beiträge zur Evaluation von Stabilisierungseinsätzen

- „Auslandseinsätze: Lehren und Kriterien“ von W. Nachtwei, 12. Februar 2007, 

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=99&aid=471

- Abschlussbericht der Friedens- und sicherheitspolitischen Kommission von Bündnis 90/Die Grünen (Bilanz von Auslandseinsätzen, Grüne Prinzipien für internationale Krisenengage-ments + Auslandseinsätze), 09/2008,  https://gruene-frieden.de/userspace/BV/bag_frieden/Dokumente/Archiv/247629.frisikoabschlussbericht.pdf

- „Evaluation deutscher Auslandseinsätze“ von W. Nachtwei, September 2012, veröffentlicht auf der Homepage der Evangelischen Akademie zu Berlin:

https://www.eaberlin.de/nachlese/chronologisch-nach-jahren/2012/wie-weit-sollen-deutsche-soldaten-gehen-politischer-wille-sicherheitspolitische-strategie-und-friedensethische-normen/winfried-nachtwei-deutsche-auslandseinsaetze-2012.pdf

- Bilanzierung und Evaluation deutscher Auslandseinsätze, in: Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz. Analysen und Empfehlungen vorgelegt von der AG Gerechter Friede der Dt. Kommission Justitia et Pax, hrsg. von Thomas Hoppe, Berlin Juni 2014

- Jenseits der üblichen Selbstbestätigung – 20 Jahre deutsche Beteiligung an Interventionen verweisen auf eine einzige Lehre, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) 08.09.2014, https://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/interventionen/artikel/jenseits-der-ueblichen-selbstbestaetigung-574/

- „Interventionen für den Frieden“ (selbstverständlich mit Fragezeichen zu verstehen), in der Neuauflage des „Handbuch Frieden“, hrsg. von Hans J. Gießmann/Bernhard Rinke,

Wiesbaden 2019, S. 99-109

- Bilanzierung & Evaluierung des deutschen Afghanistaneinsatzes:  Seit 2006 immer wieder gefordert – und bis heute verweigert, Materialien zu einer verweigerten Verantwortung, 29.12.2019, 23 S.

- Lehren aus deutschen Krisenengagements gibt es reichlich – aber auch Lernfortschritte? In SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Heft 4, Dez. 2019, S. 362-377, https://www.facebook.com/zeitschrift.sirius/posts/3587141544629379?__tn__=K-R

- Die Auslandseinsätze der Bundeswehr – Bilanz, Erfahrungen, Schlussfolgerungenaus der Sicht eines parlamentarischen Mitauftraggebers Vortrag bei der Clausewitz-Gesellschaft in Mannheim 23.02.2019, aktualisiert, in:  http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1663



[1] „Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln - Unterrichtung und Evaluation verbessern“, Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen vom 23. Oktober 2007 (Drs. 16/16770)  http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=13&catid=3-11-74-90-120-131&aid=605  ; Wirkungen und Wirkungsbeobachtungen von multidimensionalen Krisenein-sätzen, Liste von Beiträgen und Berichten seit 1992 von W. Nachtwei, Oktober 2020

 

[2] In: Zeitschrift für Innere Führung 03/2020, https://www.hsu-hh.de/staackib/wp-content/uploads/sites/757/2020/07/Dan-Krause-Stabilisierung-im-Treibsand.pdf

[3] In: Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens – Ein friedenstheologi-sches Lesebuch, Leipzig 2019, https://www.sicherheitneudenken.de/html/media/dl.html?v=186694

[4] https://www.ez-afghanistan.de/sites/default/files/Summary%20Paper%20Meta-Review%20of%20Evaluations%20Afghanistan%20March%202020_0.pdf

[5] https://www.sipri.org/news/2020/sipri-releases-new-map-multilateral-peace-operations

[6]  https://bundesstiftung-friedensforschung.de/wp-content/uploads/2017/09/Forschungsbericht-44.pdf

[7] Craig Whitlock, At War with the Truth, Washington Post 09.12.2019,

https://www.washingtonpost.com/graphics/2019/investigations/afghanistan-papers/afghanistan-war-confidential-documents/ ; Tagesschau 10.12.2019, https://www.tagesschau.de/ausland/usa-afghanistan-krieg-101.html

Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), STABILIZATION: Lessons from the U.S. Experience in Afghanistan, Mai 2018, https://www.sigar.mil/pdf/lessonslearned/SIGAR-18-48-LL.pdf  

[8] Stanley McChrystal in: ARTE-Doku „Afghanistan: Das verwundete Land“, Folge IV 

 http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1631

[9]  Hans-Georg Ehrhart, Mythos „Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen, 2019, https://vdw-ev.de/ueber-uns/studiengruppen/europ-sicherheit-frieden/

[10] W. Nachtwei zu Internationalen Polizeimissionen als äußerstem Mittel zum Schutz vor Massen- und Kriegsgewalt, 2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1662  

[11] W. Nachtwei, Persönkiche Kurzmeldungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik Nr. 35, Februar 2008, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=110&aid=647

[12]  Winfried Nachtwei, Auszug aus „Bilanzierung und Evaluation deutscher Auslandseinsätze“, Januar 2014, S. 265 ff.,  https://d-nb.info/1048632563/04

The Dutch Engagement in Uruzgan - 2006 to 2010 – A TLO socio-political assessment, Kabul August 2010; www.tloafghanistan.com/index.php/provincial-district-area-assessments