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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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"Afghanistaneinsatz auf der Klippe im Nebel" Mein Artikel in "Europäischer Sicherheit & Technik" 2/21. SOFORT RAUS!? - und dann Durchbruch zum Frieden? Oder "nach uns die Sintflut"?

Veröffentlicht von: Nachtwei am 4. Februar 2021 18:00:44 +01:00 (40020 Aufrufe)

Laut US-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 sollen bis Ende April alle internationalen Truppen (und zusätzlich alle nicht-diplomatischen Kräfte) Afghanistan verlassen. Im Gegenzug sollen die Taliban gewährleisten, dass internationale Terrorgruppen von Afghanistan aus nicht mehr die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten bedrohen können. Noch 85 Tage! Können/wollen die Taliban ihre Zusage einhalten? Was wären die Folgen eines kurzfristigen Komplettabzuges in Anbetracht der Welle von Anschlägen und gezielten Tötungen vor allem von demokratischen Kräften in den letzten Monaten? Würde er die Verhandlungen, Kompromissfindung fördern, Schritte zu mehr Frieden bringen - oder einen Absturz, wie es die Afghanen schon Mal ab 1992 erlitten haben? Nr. 2 der Reihe "Bilanz 20 Jahre AFG-Einsatz"

Afghanistaneinsatz auf der Klippe im Nebel (aktuelle Nachträge folgen)

Winfried Nachtwei (18.01./04.02.2021)

(veröffentlicht in „Europäische Sicherheit & Technik“ 2/2021 etwas gekürzt)

Vor 19 Jahren begann mit dem multinationalen Afghanistaneinsatz der größte, komplizierteste, teuerste und bei weitem opferreichste Kriseneinsatz der (westlichen) Staatengemeinschaft, der NATO und Deutschlands, legitimiert durch den UN-Sicherheitsrat, begleitet von der politischen UN-Mission UNAMA. Ausschlaggebende Ziele waren Bündnissolidarität mit den am 11. September 2001 terroristisch angegriffenen USA,  die Verfolgung der Drahtzieher der Terrorangriffe und die Beseitigung des „sicheren Hafens“ internationaler Terrorgruppen in Afghanistan. Nach dem schnellen Sturz des Talibanregimes kam – als strukturelle Terrorprophylaxe - die Stabilisierung, Förderung verlässlicher Staatlichkeit und Entwicklung in einem von 23 Kriegs- und Terrorjahren zerrütteten Land hinzu.

2015/16 scheiterte der erste Anlauf, den multinationalen Militäreinsatz insgesamt zu Ende zu bringen.  Die beratende ISAF-Nachfolgemission Resolute Support musste verlängert und wieder etwas mehr in die Fläche gebracht werden.

Am 29. Februar 2020 vereinbarte die Trump-Administration im Alleingang vertraglich mit den Taliban den Abzug aller internationalen Streitkräfte einschließlich allen nicht-diplomatischen Personals, privater Sicherheitsdienste, Ausbilder und Berater bis zum 30. April 2021, gebunden an die Zusage der Taliban, dass von Afghanistan keine Bedrohung mehr für die USA und ihre Verbündeten ausgehen würde. Angekündigt wurde die Aufnahme innerafghanischer Friedensverhandlungen für den 10. März. Diese begannen in Doha nach heftigem Gezerre um gegenseitige Gefangenenfreilassungen aber erst am 12. September.

Die mangelnde Zugänglichkeit weiter Landesteile, immer weniger Sensoren in der Fläche und die exzessive Geheimhaltung unter der Trump-Administration behindern gegenwärtig ein differenziert-realistisches Lagebild.

Tage nach dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten, wenige Wochen vor dem NATO-Verteidigungsministertreffen und keine zweieinhalb Monate vor dem vereinbarten Abzugstermin sind die Perspektiven des NATO-Einsatzes und die Zukunft Afghanistans an Ungewissheiten und krassen Risiken kaum zu überbieten.

Internationale Streitkräfte und zivile Kräfte

2011, in der Hochphase breiter Aufstandsbekämpfung, umfasste ISAF über 130.000 Soldaten, davon 90.000 US-Kräfte. Anfang 2015 starteten die Nachfolgemission Resolute Support  mit dem ausdrücklichen „non-combat“-Auftrag, die Spitzenebene der afghanischen Streitkräfte (Ministerium, Corps, zentrale Schulen) zu beraten und zu unterstützen (auch z.B. durch Lufttransport, Aufklärung). Weiterer Auftrag von RSM waren Schutz und ggfs. Evakuierung angezeigter ziviler Kräfte der internationalen Gemeinschaft („in extremis support“). Bei dem Talibanangriff auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar-e Sharif im November 2016 konnte die gesamt Belegschaft in Sicherheit gebracht werden.

Im Auftrag der Bundesregierung arbeiten zzt. in Afghanistan noch 23 deutsche Polizeiberater und eine niedrige zweistellige Zahl von internationalen Entwicklungsexperten mit über 1.000 Ortskräften. Trotz der prekären Lage laufen noch mehr EZ-Projekte, als von außen wahrgenommen wird. Beispielhaft dafür steht das Programm Technische und berufliche Bildung (TVET) in Kabul und Nordafghanistan, seit 2011 gefördert von der Kreditanstalt für Wiederaufbau/KfW in Kooperation mit PEM Consult mit berufsbildenden Schulen/Akade-mien in Kabul, Kunduz, Taloqan und – am größten – der TVET-Campus Takhta Pul bei Mazar () oder die Schullandschaft Jaghori, seit vielen Jahren unterstützt vom seit 1980 (!) bestehenden Freundeskreis Afghanistan.[1] Sie stehen für lokal eingebettete Projekte mit unmittelbarem, greifbarem Nutzen für die Bevölkerung, die laut Meta-Review zur internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan am besten funktioniert haben.[2]

Flankierend zu RSM agiert die US-Operation Freedom`s Sentinel (OFS) mit dem Doppel-auftrag Counterterrorism-Operationen gegen Al Qaida, IS und Verbündete und über die RSM-Beratung hinaus auch die Stellung von Combat-Enablers wie Luftnahunterstützung und Aufklärung für die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF).

Stationiert sind die internationalen Streitkräfte in der „Nabe“ Kabul und vier „Speichen“ mit den Train, Advise, Assist Commands (TAAC) Capital (Türkei), North (Deutschland), East (USA), South (USA), West (Italien). Die Koalitionskräfte umfassten im Juni 2020 rund 16.000 Soldaten aus 38 Staaten. Im Januar 2021 umfassen RSM und OFS rund 12.000 Soldaten. Die angezeigten US-Kräfte  gingen von 12.000 im Februar 2020 über 8.600 im Juli auf 2.500 im Januar 2021 zurück. Zu den zehn in 2020 geschlossenen US-Basen gehören Tarin Kowt/Uruzgan, Camp Shaheen/Balkh und Maimanah/Faryab. Auf Kandahar Airfield, dem früher größten NATO-Stützpunkt, soll sich nur noch eine Handvoll US-Soldaten befinden.[3] .Zweitgrößter Truppensteller ist Deutschland mit rund 1.060 Soldaten, gefolgt von Großbritannien, Italien, Georgien, Rumänien und der Türkei. Die Nordregion umfasst allein eine Fläche der halben Bundesrepublik. Das TAAC-N mit seinen 22 Nationen berät das 209. ANA-Corps in Mazar-e Sharif und das 217. Corps in Kunduz. Im letzten November wurde das ständige deutsche Beraterteam aus Camp Pamir in Kunduz abgezogen. Eine flexible Beratung des 217. Corps (auch mit „fly to advise“) findet weiterhin statt.

Bisher war schon ein Handicap der Beratungstätigkeit, dass sie weit entfernt war von der Umsetzungs- und Einsatzrealität der Brigaden und Kandaks. Die Corona-Pandemie erschwert sie noch mehr, erlaubt kaum noch die sonst so wichtigen persönlichen Kontakte.

Die Afghan Air Force, die ANA Special Forces (eine Art spezialisierte Infanterie) und die Fähigkeit zum Gefecht der verbundenen Waffen stehen für besondere Fortschritte beim Aufbau der ANA, der zugleich seit Jahren eine erhebliche „Schwundrate“ zu schaffen macht.

Wieweit die US-Streitkräfte mit einem Kontingent wie in der Startphase 2001 die notwendigen Enabler (close air support, Lufttransport, Spezialkräfte etc.) für die Verbündeten und vor allem die ANDSF noch ausreichend stellen können, ist sehr zu bezweifeln – auch wenn die real für Afghanistan zur Verfügung stehenden Kräfte weit über den angezeigten Zahlen liegen und wenn man die auf Al Udeid Air Base/Katar stationierten Kampfflugzeuge sowie rund 10.000 US-Contractors hinzuzählt.[4]

Im deutschen  RSM-Kontingent wird ein möglicher kurzfristiger Abzug vorbereitet,  militärische Fähigkeiten sollen bisher nicht zurückverlegt worden sein. Was sonst etliche Monate brauchen würde, könnte auch in einigen Wochen geschafft werden, dann aber nicht mehr so ordnungsgemäß wie sonst.

Das Mandat von UNAMA verlängerte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 2513 vom 15.09.2020 bis zum 17.09.2021. Im Dezember 2019 umfasste UNAMA mit seinen 26 UN-Country-Team-Mitgliedern über 1.200 Personen, davon 833 Ortskräfte, 310 Internationale und 68 UN-Volunteers (Oktober 2020 270 Internationale, davon 5 Deutsche).

Verhandlungsprozess

17 Jahre lang hatten die USA und die ISAF-Truppensteller sich – abgesehen von einzelnen Sondierungen auch von deutscher Seite - nicht ernsthaft um eine Verhandlungslösung mit den Taliban bemüht.  Viel zu lange dominierte auf Seite der stärksten Militärmacht der Welt die Illusion, eine Aufstandsbewegung wie die Taliban militärisch besiegen zu können. Verhandlungsbereitschaft entstand erst, als die strategische Schwäche und schrumpfende Durchhaltefähigkeit von Regierung und NATO unübersehbar war. Auch wenn das US-Taliban-Abkommen unter Verdacht stand, in erster Linie den USA unter Trump einen gesichtswahrenden Abzug  ermöglichen zu sollen, wurde es als Türöffner zu einem Verhandlungsprozess genutzt.

Alle Erfahrungen mit Friedensprozessen gerade in Bürgerkriegen zeigen, dass angesichts langjähriger beidseitiger Verfeindung Kompromissfähigkeit und Einigungen nicht in wenigen Monaten zu schaffen sind und Zeit brauchen.

Die Twitter-Ankündigung des US-Präsidenten, das US-Kontingent zu Weihnachten mehr als zu halbieren, gab den Taliban weiter Auftrieb.

Im Auftrag des Auswärtigen Amtes unterstützt ein Team der in solchen Prozessen sehr erfahrenen Berliner Berghof-Foundation das Verhandlungsteam der Afghanischen Republik.

Deutsche Mediationsexperten berichteten aus Doha, dass dort die gegnerischen Parteien im Unterschied zu anderen Friedensprozessen immerhin respektvoll und ernsthaft miteinander sprechen würden. Dass sich die Parteien nach zwei Monaten auf Verfahrensregeln einigen und über Themen der künftigen Agenda austauschen konnten, gilt als relativer Erfolg. Im Januar könnte damit begonnen werden, über substantielle Themen zu sprechen.[5]  Der von den Vertretern der Republik, der Bevölkerung und international breit geforderte umfassende Waffenstillstand wird von den Taliban kategorisch abgelehnt. Hier könnte eine Rolle spielen, dass Talibankämpfer dann zu offenen Gegnern der Verhandlungen wie den IS überlaufen könnten.

(Un-)Sicherheitslage

Die verbreitete Hoffnung, mit den Verhandlungen würden Terror und Krieg in Afghanistan nachlassen, wurde bitter enttäuscht. Die Koalitionskräfte blieben seit dem Abkommen wohl weitestgehend von Angriffen verschont. Die Angriffe auf die ANDSF und damit auch auf die Bevölkerung wurden hingegen sogar intensiviert.

Tagesmeldungen TOLONEWS 15. Januar: Bei einem Angriff auf einen Außenposten im Distrikt Imam Shahib in der Provinz Kunduz wurden 12 Polizisten getötet und über zehn verwundet.[6] Bei einem Drohnenangriff auf das 217. Corps in Kunduz soll ein Militärflugzeug beschädigt worden sein. Nach dem Freitagsgebet griff in Kunduz eine wütende Menge begleitet von einem Imam das lokale Radio Zhora an und zerstörte die Einrichtung. Zwei weitere Stationen konnten geschützt werden. In den letzten 24 Stunden habe es in 21 der 34 Provinzen Zusammenstöße zwischen ANDSF und Aufständischen gegeben. Am Vortag: In 2020 gab es 130 Gewaltakte gegen Journalisten in Afghanistan. Fünf Nachrichtensprecher, drei Reporter, ein Kameramann und ein Fahrer wurden ermordet. In sechs Monaten wurden zehn Radiostationen zum Schweigen gebracht.

Die UN meldete für den Zeitraum 13. Juli bis 12. November 2020 10.439 Sicherheitsvorfälle (plus 18% gegenüber dem Vorjahreszeitraum), davon 63% bewaffnete Zusammenstöße (plus 38%) und 389 Mordanschläge (plus 21%). Die vermehrten Mordanschläge gegen Personen der Zivilgesellschaft blieben meist ohne Bekennererklärung. Laut Brookings Afghanistan Index[7] fielen 2020 mehr als 10.000 afghanische Soldaten und Polizisten, also rund 30-40 pro Tag. Die meisten Sicherheitsvorfälle gab es in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh, der früheren Stabilitätsinsel  um Mazar-e Sharif. Der Oktober 2020 war der Monat mit den meisten bewaffneten Zusammenstößen seit Beginn der Zählung in 2007.

Laut Global Terrorism Index (2020) entfielen 2019 41% aller Terroropfer weltweit auf Afghanistan.  Die höchste Zahl an Terrortoten gab es mit 500 in der Provinz Kunduz, ein Anstieg um 77% gegenüber dem Vorjahr.[8]

Die Corona-Pandemie brachte die Konfliktparteien nicht zusammen, obwohl sie für die Bevölkerung eine extreme zusätzliche Bedrohung darstellt. Laut Bericht des Afghanistan Analysts  Network vom Oktober 2020 sei schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung infiziert. Die Todesrate liege wahrscheinlich bei Hunderttausenden und übertreffe damit wahrscheinlich die Gesamtzahl aller Kriegs- und Terrortoten in Afghanistan seit 2001.[9]

Perspektiven: Ausblick im Nebel

Ob die neue US-Administration zur NATO-Verteidigungsministerkonferenz Mitte Februar ihre Afghanistanstrategie geklärt hat, ist ungewiss und keineswegs zwingend. Absehbar ist aber, dass unter einem Präsident Biden keine Kehrtwende zurück zu einem massiveren Einsatz geben wird. Als Vizepräsident unter Obama hielt er den damaligen Surge für falsch. Der designierte Nationale Sicherheitsberater Jack Sullivan votierte im August für einen Truppenabzug innerhalb der ersten 100 Tage von Bidens Amtszeit, Biden selbst für den Verbleib von einigen tausend US-Spezialkräften für Antiterroroperationen.

Für eine Verschiebung des Abzugsdatums könnte ins Feld geführt werden, dass laut UN-Bericht vom 30.04.2020[10] die Verbindungen zwischen Taliban und Al Qaida noch keineswegs gekappt sein sollen und dass die innerafghanischen Gespräche erst mit sechs Monaten Verspätung begannen. Sollte man sich nicht einigen, könnten die Taliban bei Verbleib internationaler Truppen über den 30. April hinaus den Waffenstillstand gegenüber den Koalitionskräften aufkündigen. Darüber könnte der ganze Verhandlungsprozess zusammenbrechen. Doha-Insider sehen aber bei den Taliban ein großes Interesse, das Abkommen mit den USA in der Grundstruktur zu erhalten.

Ein kompletter Blitzabzug zum 30. April würde die überlebensnotwendigen Beratungs-, Nachschub- und Finanzierungsinfusionen für die ANDSF und den afghanischen Staat äußerst erschweren, vielleicht unmöglich machen. Die ANDSF wären vermehrt den Taliban ausgeliefert. Die Gefahr gilt als „sehe real“, dass dies in einen entfesselten Bürgerkrieg führen könnte. Auch wenn sich Geschichte nicht einfach wiederholt, drängt sich die Erinnerung an 1992 auf.[11] Im Bewusstsein der afghanischen Geschichte sollen sich, wie es heißt, Machthaber und Fraktionen auf ein solches Szenario vorbereiten. Auf der Hand liegt, dass ein  solcher Super-GAU wieder massenweise Menschen in die Flucht treiben würde – und das sicher nicht in Richtung USA.

Das wäre ein Mehrfach-Desaster: für die kriegsgeprüften Menschen in Afghanistan, für die regionale und internationale Sicherheit, für die UN wie die NATO und die Bundesrepublik. Es wäre nicht zuletzt ein Totalschaden für die Glaubwürdigkeit westlicher und auch deutscher Sicherheitspolitik.

Auch wenn die Klippe des 30. April umschifft werden könnte, bliebe die Schere zwischen einem Verhandlungsprozess, der sicher nicht in 2021 zu einem Ergebnis kommt, und einer deutlich früher endenden internationalen Truppenpräsenz. Hier käme es dann wesentlich darauf an, die Vertrauensbildung zwischen den Parteien zu fördern und ihnen Unterstützungs-angebote zu machen, die das künftige Afghanistan existentiell braucht.  Die Taliban haben den dringenden Bedarf internationaler Unterstützung deutlich signalisiert. Die EU hat mit ihren „Schlussfolgerungen zum Friedensprozess in Afghanistan und zur künftigen Unterstützung der EU für die Befriedung und Entwicklung des Landes“ vom Mai 2020 ein klares, aber auch nicht bedingungsloses Angebot macht.[12]

Nach Auffassung der Bundesregierung soll die deutsche Stabilisierungs- und Entwicklungs-unterstützung weiter laufen. Diese könnte auf eine gewisse personelle Präsenz im Land nicht verzichten. Dafür müsste ein Arrangement jenseits des US-Taliban-Abkommens gefunden werden, das auch die Sicherheit der Entsandten auch vor der extremen Kriminalität gewährleistet. Wie soll das gehen?

Hausaufgaben

Bei der im März anstehenden Mandatsdebatte zu RSM geht es um die Schlüsselfrage, wie Deutschland am wirksamsten den Verhandlungsprozess unterstützen und zur Verhütung eines entfesselten Bürgerkrieges wie ab 1992 beitragen kann. Angesichts der äußerst ungewissen und kritischen Lageentwicklung kommt es vor allem auf die flexible Gestaltung des Mandats und eine gebührende Beachtung der zivilen Komponenten, insbesondere auch der polizeilichen an. Mehr Beachtung und Unterstützung benötigen auf jeden Fall UNAMA und die UN-Nebenorgane und –Sonderorganisationen. Angesichts der wuchernden Unsicherheit und Herausforderungen muss ihr „letztes Netz“ erhalten und gestärkt werden.

Zigtausende deutsche Frauen und Männer arbeiteten seit 2002 in Afghanistan im öffentlichen Auftrag und nahmen dabei große Belastungen und Risiken in Kauf. Für ihre Leistungen erfuhren sie hierzulande in der Gesellschaft zu wenig Anerkennung. Ihnen, vor allem denjenigen, die als Soldaten verwundet zurückkehrten, die dort Kameraden verloren, stellt sich jetzt die Frage „War alles umsonst?“ Sie alle dürfen mit dieser schmerzhaften Frage nicht allein gelassen werden, Sie brauchen dazu von ihren politischen Auftraggebern eine ehrliche und glaubwürdige Kommunikation. Dazu gehört auch, endlich aus dem Afghanistaneinsatz bestmöglich zu lernen.

Vortragsangebot: „19 Jahre deutscher Afghanistaneinsatz im vernetzten Ansatz: Erfahrungen, Bilanz, Perspektiven – war alles umsonst?“ (illustriert, auch online)

Zur Person: Winfried Nachtwei, Beirat Innere Führung/BMVg und Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, Vorstand Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen und „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, 1994-2009 MdB (Grüne) und Mitglied des Verteidigungsausschusses, 20 Afghanistanbesuche



[4] Anthony CordesmanThe Biden Transition and the Real Impact of U.S. Force Cuts in Afghnistan, CSIS 01.12.2020, https://www.csis.org/analysis/biden-transition-and-real-impact-us-force-cuts-afghanistan  

[5] Hans-Joachim Giessmann, Latest developments in the Afghan peace process: A commentary, 21.12.2020, https://berghof-foundation.org/news/latest-developments-in-the-afghan-peace-process-a-commentary   

[8] Global Terrorism Index 2020, Institute for Economics and Peace, https://www.visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2020/11/GTI-2020-web-1.pdf

[9] Bill Byrd, Covis-19 in Afghanistan (8): The political economyrepercussions of Covid-19 and the aud response, 14.10.2020, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-8-the-political-economy-repercussions-of-covid-19-and-the-aid-response/  

[10] UN-Report Sicherheitsrat S/2019/481 vom 30.04.2020,  https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/s_2019_481.pdf  ; Bill Roggio, AfghanAir Force kills 15 Al Qaida operatives in Helmand, 29.12.2020, https://www.longwarjournal.org/archives/2020/12/afghan-air-force-kills-15-al-qaeda-operatives-in-helmand.php  . Am 24.10.2020 gab der afghanische Innenminister bekannt, dass ANDSF Abu Muhsin Al-Misri, einen höheren Kommandeur von Al Qaida auf dem Indischen Subkontinent, getötet hätten, so im Bericht des UN-Generalsekretärs zur Situation in Afghanistan an den Sicherheitsrat vom 09.12.2020.

[11] Als Moskau 1992 die Finanz- und Militärhilfe für Kabul einstellte, folgte kurz später der Zusammenbruch des Najibullah-Regimes. Das staatliche Gewaltmonopol zersplitterte in Einfluss-gebiete vieler Warlords und ihrer Milizen. Die Herrschaft der Mudschaheddin stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der besonders hart in Kabul ausgetragen wurde. Die in der kommunistischen Zeit nahezu unversehrte Hauptstadt wurde jetzt von den „Befreiern“ in Schutt und Asche bombardiert. Bei den Kämpfen in Kabul kamen 60.000 bis 80.000 Menschen um`s Leben. Die Bürgerkriegszeit gilt im kollektiven Gedächtnis der Afghanen bis heute als die schlimmste aller Zeiten.

 


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Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

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Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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