10 Jahre nach Srebrenica: Gegen das Verdrängen (Langfassung)

Von: Webmaster amSa, 09 Juli 2005 21:02:25 +01:00

Anlässlich des 10. Jahrestages der Massaker von Srebrenica am 11. Juli erklärt Winfried Nachtwei, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und sicherheitspolitischer Sprecher:



Srebrenica war der größte Massenmord in Europa seit Ende des 2. Weltkrieges. Es ist ein Symbol für die Rückkehr des Völkermords nach Europa. Srebrenica steht für eine Große Koalition des Versagens – der Internationalen Gemeinschaft in Gestalt von EU, UN, NATO, ihrer maßgeblichen Mitgliedsstaaten, der europäischen Öffentlichkeiten und Zivilgesellschaften. Entschiedene Menschenrechtspolitik, eine wirkliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, durchsetzungsfähige Vereinte Nationen und effektive Krisenprävention sind die zentralen Lehren aus Srebrenica. In diesem "Jahr der Erinnerung" wird des Kriegsendes in Europa, der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und der UN-Gründung vor 60 Jahren gedacht. Was vor zehn Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen bei Bündnisgrünen und in der Friedensbewegung führte, findet heute in Deutschland wenig Aufmerksamkeit. Das internationale Projekt "Srebrenica – Erinnerung für die Zukunft" der Heinrich Böll Stiftung ist hier die positive Ausnahme. (vgl. www.boell.de/downloads/vkal5/Fuecks_Srebrenica.pdf) Am 6. Juli 1995 begannen serbische Truppen nach mehr als zweijähriger Belagerung ihren Angriff auf die ostbosnische Kleinstadt mit ihren durch Flüchtlinge fast verdoppelten 60.000 Einwohnern. Srebrenica war 1993 vom UN-Sicherheitsrat zu einer "Schutzzone" erklärt worden. Lediglich 425 niederländische Blauhelm-Soldaten "sicherten" die Stadt. Trotz Aufforderung des niederländischen UN-Kommandeurs unterblieb eine wirksame NATO-Luftunterstützung. Am 11. Juli 1995 rückten serbische Truppen in Srebrenica ein. Am 12. Juli wurden etwa 23.000 Frauen und Kinder in Bussen aus der Stadt in muslimisches Gebiet deportiert. Alle muslimischen Männer zwischen 16 und 65 Jahren wurden selektiert. Bis zum 18. Juli wurden in der Umgebung 7.000 bis 8.000 muslimische Jungen und Männer in Massenerschießungen ermordet. Die Grausamkeiten von Srebrenica sind inzwischen durch mehrere Urteile des Jugoslawien-Tribunals dokumentiert. (vgl. „Srebrenica – Ein Prozess“, hrg. von Julija Bogoeva und Calone Fetscher, Frankfurt 2002, edition suhrkamp 2275) Gegenüber dem Bosnienkrieg war die internationale Gemeinschaft lange eine Fiktion. Den Staaten fehlte es an einem entschlossenen politischen Willen, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu beenden. Verhandlungslösungen scheiterten durch Uneinigkeit und Interessenunterschiede. Weder die Embargopolitik noch die Kontrolle schwerer Waffen wurden konsequent durchgehalten. Die internationale Gemeinschaft sah dem Morden in Bosnien tatenlos zu. Schutzzonen der UN wurden wirkungslos. Auch in Deutschland, bei der Friedensbewegung und den Grünen war nur eine Minderheit bereit, sich mit aller Konsequenz auf die Seite der Angegriffenen und Opfern zu stellen. Marieluise Beck und Gerd Poppe waren hierbei Pioniere der Menschlichkeit. Ich gehörte zunächst zur Mehrheit derjenigen, die gegen einen Militäreinsatz unter deutscher Beteiligung anredeten - und bei unterlassener Hilfeleistung landeten. (vgl. mein Artikel vom August 1995 „Nach Srebrenica: Zusehen? Wegsehen? Oder was?“ sowie Bundestagsrede vom 30. Juni 1995) Die Konfrontation mit der Wirklichkeit von Krieg und Vertreibung veränderte und bekräftigte zugleich unseren außen- und friedenspolitischen Kurs: Angesichts extremer Gewalt konnten wir uns der Einsicht nicht länger verschließen, dass zum Schutz bedrohter Menschengruppen der Einsatz militärischer Gewalt notwendig und unumgänglich werden kann. Jede dieser Gewalteskalationen zeigte zugleich, wie groß die Versäumnisse im Vorfeld waren und wie sehr Bereitschaft und Fähigkeiten zur Krisen- und Gewaltprävention ausgebaut werden müssen. Internationale Friedenssicherung und Rechtsdurchsetzung brauchen starke und einige Vereinte Nationen - und vorbildliche Beiträge Deutschlands und Europas dazu.