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22.12. vor 19 Jahren: Bundestagsbeschluss zur deutschen ISAF-Beteiligung in Kabul: Meine persönlichen Aufzeichnungen + "Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 24. Dezember 2020 08:57:36 +01:00 (55498 Aufrufe)

Beginn der Reihe "Bilanz 20 Jahre Afghanistaneinsatz": (1) Der Entscheidungsprozess zur deutschen Beteiligung an der International Security Assistance Force für Kabul im Bundestag aus der Sicht eines Beteiligten. Wie waren die Lageeinschätzungen, Optionen, ausschlagebenden Argumente? War alles von vorneherein falsch, wie nicht wenige vor allem aus der Distanz und dem Nachhinein meinen? Was waren Fehleinschätzungen? War auch was richtig? 

In diesen Tagen vor 19 Jahren

Beschluss zur deutschen Beteiligung an ISAF in Kabul – Aus meinen persönlichen Aufzeichnungen Dezember 2001.

Und: Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe (Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Winfried Nachtwei, MdB

(Auszug aus „11. September bis 22. Dezember 2001 – Von New York nach Afghanistan aus Berliner Sicht“, Zusammenstellung aus persönlichen Aufzeichnungen, August 2011, 30 S.

Teil III: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1076  )

Teil I;    http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1074

Teil II:   http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=11&aid=1075  

11.12. 2001 Unterrichtung der Außen- und Sicherheitspolitiker von SPD und Grünen durch die Minister Fischer Scharping

Joschka: DEU Standort und Gastgeber der Petersberg Konferenz. Sicherheitskomponente Robust für die Übergangszeit, Begleitung des Nation Building, kein klassisches Peacekeeping. Selbstschutz und Schutz der Übergangsregierung, der humanitären Hilfe und der Zivilbevölkerung. Das müsse mit dem 22. Dezember beginnen. Die Warlord-Struktur dürfe sich nicht verfestigen. Man könne nicht auf das Ende der US-Operationen warten.

Es gebe ein eigenes VN-Mandat und eigene Kommandostruktur, Trennung von OEF. Maximal für zwei Jahre, enge Überprüfungsfristen. Es bestehe nicht die Absicht, wie im Kosovo länger zu bleiben.

Der Einsatz bleibe räumlich begrenzt und werde wahrscheinlich sehr stark von Europa mitgestaltet.

DEU`s Schwerpunkte seien Bildung, Erziehung, Frauen.

Minister S.: Die Sicherheitslage sei weiterhin sehr instabil. Eine für ganz AFG kalkulierbare Macht gebe es nicht. Militäroperationen können noch einige Wochen oder länger dauern.

Keine Illusionen, was eine internationale Truppen leisten kann und was nicht -  z.B. nicht die Autorität der Regierung durchsetzen.

Was man für Kabul und Umgebung brauche: Die afghanischen Vorstellen lägen sehr niedrig, die Vorstellungen der NATO beim 15-fachen. Beides sei unrealistisch.

Glasklare Trennung zwischen VN-Mission und kriegerischen Operationen. Niemand bei den VN denke an klassische Blauhelme.

Joschka: Ausbildung administrativer Strukturen sei die Hauptaufgabe.

Gernot E. (SPD): Neue regionale Initiative mit DEU?

Joschka: Das wäre eine ganz andere Dimension. Iran, Irak, Pakistan – das wäre Weltpolitik, eine Überforderung für eine Mittelmacht wie DEU. Da sei Europa gefragt.

Minister S.: Nur GB, FR, DEU verfügen über militärische Führungsfähigkeiten, andere nur über Beteiligungsfähigkeiten. Auch islamische Staaten haben keine Führungsfähigkeiten.

Zzt. 80 NGO`s im Land.

Fraktionssitzung:

Joschka: Nach 23 Jahren gebe es jetzt erstmals eine Chance. Aber keine falschen Erwartungen! Nicht vergleichbar mit Kosovo, keine protektoratsähnlichen Verhältnisse.

Polizeiausbildung sei große Aufgabe.

Steffi: Ausdrückliches Lob für Petersberg! Richtig sei, über eine VN-Schutztruppe nachzudenken angesichts er Friedenschancen. Sie befürchte aber, dass zwischen OEF und VN-Truppe nicht zu trennen sei.

Claudia erinnert daran, dass sich das AA schon seit längerem so sehr für AFG engagiert habe wie kaum ein anderes Land. Vor kurzem gab es keine Gesundheitsversorgung für Frauen. Jetzt gebe es eine Gesundheitsministerin. Sie sei sehr für die Beteiligung an einer VN-Schutztruppe.

Winne H.: Wenn eine Friedensmission, dann eine aus Staaten mit kultureller Nähe und ohne Verwicklung in AFG.  Ein Riesenproblem sei der parallele Krieg. Wie viele Tote und Verwundete habe es gegeben?

Annelie B.: Eine Friedenstruppe sei keineswegs grundsätzlich falsch. Aber könne man sie und OEF auseinanderhalten?

Marieluise: Das nächste halbe Jahr müsse zur Klärung grundsätzlicher Fragen genutzt werden, die jedes Mal bei Bundeswehreinsätzen hoch kommen. Viele in sozialdemokratischen und grünen Milieus seinen stehen geblieben.

  • „Von der Friedensbewegung zur Friedenspolitik – Elemente einer neuen Weltinnenpolitik“, Fraktionsbeschluss vom 11.12.2001, lang & schlüssig 14/48 (29 S.)

12.12. 91. Verteidigungsausschuss, 9.00 und 15.00 Uhr

TOP Sicherheits- und verteidigungspolitische Lage nach dem Terroranschlag auf die USA (ausführlich), StS BMVg: Am 9.12. Erkundungsteam für die ABC-Füchse verlegt. Anschließend Entscheidung über den konkreten Stationierungsort. Das Vorausteam der Marine sei inzwischen zurück. Ein mögliches Gastland möchte vorläufig nicht genannt werden. Täglich 300 Soldaten durch Bewachungsaufgaben gebunden. Keine Auskünfte zu Spezialkräften. (Am Rande ergibt sich: Verlegung der Hauptkräfte ab Mitte Dezember)

Heeresinspekteur: Ewas sei leistbar, was gehe grundsätzlich noch? Das Heer sei sechsfach gebunden. Die Balkanmandate gehen bis 11.500. Bei neuen Anforderungen müsste in das Bisherige eingegriffen werden.

Die Einsatzvorbereitung brauche ungefähr sechs Wochen.

14.12. Bericht vom Obleutetreffen des Verteidigungsausschusses: Zzt. gebe es ein großes Gezerre um die AFG-Truppe. GB sei für ein rein britisches Headquarter und für Blauhelme nach drei Monaten; FR für Kap-VI; beide seien sauer über dt. Petersberg-Erfolg. USA ggfs. nur für ein Technical Agreement ohne VN-Mandat. Alle drei Positionen seien für die Bundesregierung nicht akzeptabel. Eine AFG-Beteiligung gebe es nicht um jeden Preis.

Außerordentliche Sitzungstage des Bundestages in der schon begonnenen Weihnachtspause

  • 20.12. Resolution des VN-Sicherheitsrates 1386 (2001) zur Errichtung einer Sicherheitsunterstützungstruppe für einen Zeitraum von sechs Monaten, „um die Afghanische Interimsbehörde bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung zu unterstützen (…)“
  • Winrich Kühne: UNO-Friedenseinsatz in AFG?, SWP-Aktuell November 2001 (Verfasser ist Mitglied der International Advisory Group der Lessons Learned Unit der UNO)
  • W. Kühne: Nach dem Petersberg – schwieriger Friedenseinsatz mit Beteiligung der Bundeswehr? www.swp-berlin.org 3.12.: „(…) Die Vorstellung von einem afghanischen Friedensprozess, der aus sich heraus stabil bleibt, ist eine Illusion. (…) Washington betreibt ein gefährliches Spiel, wenn es die Entsendung solcher Truppen blockiert, um sich bei der Bekämpfung von Al Qaida und den Rest-Taleban nicht behindern zu lassen. Eine multinationale Friedenstruppe wird zweifellos der Einstieg in einen der bisher schwierigsten Friedenseinsätze sein. Einen ´quick fix` wird es noch weniger als auf dem Balkan geben. Die internationale Gemeinschaft und ganz speziell die westliche Politik werden einen langen Atem haben und ernst machen müssen mit dem Satz, dass die Anstrengungen zur Befriedung AFG`s nicht weniger entschieden sein werden als die zur Beseitigung der Taleban. (…) Die Masse der Truppen wird aus muslimischen Ländern wie Marokko, Ägypten, Indonesien, Maysia etc. kommen  müssen. Darüber besteht Einigkeit. (…) Eine Beteiligung der Bundeswehr wird also, neben zivilem Personal, unumgänglich sein (…) Denn es wäre eigenartig, wenn eine Rot-Grüne Koalition ihr Überleben zwar für die Beteiligung an einem Kampfeinsatz riskiert, dann aber die Beteiligung an einem Friedenseinsatz ablehnt.“
  • W. Kühne: Der Streit um den Friedenseinsatz in AFG: Eine schwache Truppe – Zu wenig Soldaten, zu wenig Kompetenzen – in den Verhandlungen um das UN-Mandat bahnt sich ein verhängnisvoller Fehler an, SZ 20.12.

21.12. ISAF-Mandat

  • Antrag der Bundesregierung „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in AFG auf Grundlage der Resolutionen (…)“ (Drs. 14/7930)
  • Stellungnahme „Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe“ von W. Nachtwei

AK IV:

StS AA: Die VN-Resolution erfülle die vier Bedingungen des Bundeskanzlers (Ka. VII, Zustimmung der Interimsregierung zu Aufgaben + Umfang; Eigenständigkeit + keine Vermischung, CENTCOM für Deconflicting + Notfall; räumliche und zeitliche Begrenzung)

Auftrag sei die Unterstützung der vorläufigen Staatsorgane, bei der die erste Verantwortung liege. Keine Kosovo-Situation!

Londoner Truppenstellerkonferenz mit 14 Staaten (auch Jordanien und Malaysia), zu denen inzwischen acht weitere gekommen wären.

Hilfe zum Institutionenaufbau sei nicht Aufgabe der Truppe, sondern Aufforderung an die Mitgliedsstaaten.

Uli: Generell sei es so gefährlich nicht. Man müsse sich nur an die Landessitte halten. Z.B. sei ein humanitärer Helfer erschossen worden, weil er im Stehen gepinkelt habe.

92. Verteidigungsausschuss, 19.00 Uhr, TOP Geplante Beteiligung der Bundeswehr an einer UN-mandatierten internationalen Sicherheitspräsenz in Kabul und Umgebung

V-Minister: GB übernehme die Führung, von USA Hilfe im Notfall. DEU sehe keine Möglichkeit, die Lead-Nation-Funktion zu übernehmen. Das Einsatzführungskommando sei noch nicht so weit. Andere Führungsstäbe seien nicht verzichtbar.

Der Einsatz berge erhebliche Risiken. Zu warnen sei aber vor einer maximalistischen Sprache („immer gefährlicher“). Es sei vergleichbar mit den Risiken des Kosovo-Einmarschs im Juni 1999.

W.N.: Angesichts des Raumes, der prekären Interimsregierung und der geringen eigenen Kräfte sei der Einsatz eine Minimallösung.

Aufforderung an die Militärs, den Primat der Politik offen zu beraten.

Generalinspekteur: Zur Kommandostruktur. Gesamtstärke 4.700. DEU hielt 5-6.000 für erforderlich.

Flächendeckender Einsatz im Raum Kabul nicht möglich und auch nicht nötig. Das Regierungszentrum mit Botschaften umfasse 2 x 2 km. Darüber hinaus eine gewisse Kontrolle.

Ein separates Abkommen zu Notfallhilfe und Exit sei in der Mache (incl. Exitstrategie). Bei dieser Größenordnung sei ein strategischer Exit nicht organisierbar, aber ein taktischer (mit Luftnahunterstützung).

Stützpunkte: Mit der VN-Resolution seien die Nachbarstaaten zur Unterstützung aufgefordert. Bisher gebe es noch keine Verhandlungen und keine Entscheidung.

Nachfolge der Lead-Nation: Idealerweise sollte das bei Beginn klar sein. Nur wenige Staaten seien dazu in der Lage.

Heeresinspekteur: Als Vorauskräfte des Heeres seien 200 Fallschirmjäger voll ausgebildet (eine verstärkte Kompanie), dazu 30 Niederländer. (Das Erkundungskommando umfasste ein, zwei Dutzend)

Dabei 6 Dingos, 6 Wiesel, 3 Wölfe, bei den Niederländern auch Mörser, Vorräte für zwei Wochen. Der ganze Kranz von Kampf- und Unterstützungskräften könne frühestens Ende Januar in Marsch gesetzt werden. Das schwere Gerät brauche auf dem Seeweg 30 Tage..

Zur Ausbildung (…)

22.12. (erstmalig Bundestagssondersitzung am Samstag seit 31 Jahren)

Fraktionssitzung

Rezzo: Alle wichtigen Anliegen seien durchgesetzt.

Joschka: Es habe sehr schwere Verhandlungen gegeben. Erstmalig habe DEU auf VN-Ebene mitverhandelt. Es gebe kein dauerhaftes deutsches Interesse an AFG, also auch kein Dauerengagement.

W.N.: Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe sei notwendig und unverzichtbar, um die einmalige Chance für AFG zu nutzen. Der Auftrag sei klar, begrenzt und stark genug. Der dt. Kräfteansatz sei so vernünftig und verantwortbar.

Wer gegen Krieg in AFG und für Förderung des Friedensprozesses sei, wer die Autorität der VN und ihre Erfahrungen respektiere, der müsse zustimmen. Der Einsatz sei notwendig und verantwortbar. Eine Nichtzustimmung sei nur noch mit Ausflüchten möglich.

Claudia: Eindeutig pro. Ein Nacheinander der Einsätze könne man sich wegen der Gefahr eines Machtvakuums nicht erlauben.

Rita: Jetzt zeige sich, was ein grüner Außenminister bedeute. Von einem solchen Mandat hätte man früher nur träumen können.

Hans-Christian: Man könne gar nicht grundsätzlich gegen diesen Einsatz sein. Er soll den Friedens- und Konsolidierungsprozess sichern.

Aber Bedenken habe er wegen des gleichzeitigen Krieges. Die USA betrieben eine Liquidierungspolitik. Dieser Krieg bedrohe den Friedensprozess, vielleicht auch die Sicherheitstruppe.

Winne: Dieser Einsatz sei grundsätzlich verschiedenen von OEF. Aber er sei auch nicht von seiner Vorgeschichte (Krieg) zu trennen

(…)

Hans-Christian: Er stimme zu, nicht aus Koalitionsraison, sondern der Sache und des VN-Mandats wegen, trotz der Vorbehalte. Das bedeute keine Anerkennung des Krieges. Es sei eine persönliche Entscheidung und keine Distanzierung von anderen.

Amtseinführung des Chefs der afghanischen Übergangsregierung Hamid Karsai in Kabul

Bundestag , 1. Lesung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in AFG (Drs. 14/7930)

Aussprache eine Dreiviertelstunde

Bundeskanzler Schröder: „(…) keine abstrakten Diskussionen über die Frage führen, ob sechs Monate ausreichen oder nicht, sondern deutlich machen: Es handelt sich um ein von den Aufgaben her, vom Einsatzort her und von der Zeit her um ein begrenztes Mandat. (…)“

93. Verteidigungsausschuss, 11.40 Uhr: Beratung und Beschlussfassung zum ISAF-Antrag der Bundesregierung

Z. (SPD): Richtig sei ein robustes Mandat, die zeitliche Begrenzung auf zunächst sechs Monate und die Trennung der Aufgaben von ISAF und E.F.

N. (FDP): Bei seiner Fraktion gebe es Kritik an der Nichtbeteiligung der NATO. Das beschädige sie. Rechtzeitig informiert werden müsse über die Weitergabe der Lead-Rolle, die die Briten nach drei Monaten abgeben würden.

W.N.: (Argumentation wie in der Fraktion) AFG habe jetzt phantastische Chancen. Alles müsse dafür getan werden, diese nicht zu verspielen. Das Mandat müsse sehr schnell angetreten werden. Zu begrüßen sei der Aufruf der VN an die Mitgliedsstaaten, schnell zum Aufbau eigener Sicherheitsstrukturen in AFG beizutragen. Bundesregierung und Parlament müssten darauf achten, dass auch dafür schnellstmöglich Kapazitäten zur Verfügung gestellt würden.

W. (PDS): Man stimme nicht zu, weil die Mission keine Friedensmission sei. Die Nordallianz sei keine Alternative zu den Taliban, sie sei eine Mörderbande. Mit dieser Mission werde die Autorität der VN mit Füßen getreten.

Bundestag, 2./3. Lesung

536 ja, 35 nein, 8 Enthaltungen

Ziemliche Lustlosigkeit, angefangen beim Kanzler. Danach Flucht in Weihnachtspause.

Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe

Winfried Nachtwei, MdB 21.12.2001

(1) Nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes und des Al-Qaida-Netzwerkes und der Petersberg-Konferenz besteht die historisch einmalige Chance einer friedlichen Entwicklung in Afghanistan nach 22 Jahren Krieg. Die Fernsehnachrichten berichten von hoffnungsvoller Stimmung in der Bevölkerung.

Trotz dieser enormen Fortschritte sind die Voraussetzungen für einen Friedensprozess äußerst schwierig und unsicher. Mit den vielen zerstrittenen Warlords und ihren Truppen, mit Banden und versprengten Taliban- und Al Qaida-Kämpfern, mit Waffen und Minen in Überfülle, ohne Verwaltungs-, Staats- und Sicherheitsstrukturen und der teilweise katastrophalen humanitären Lage bestehen zugleich „gute“ Voraussetzungen für ein Post-Taliban-Chaos. Die einzige Alternative dazu ist der durch das Petersberg-Übereinkommen angestoßene Prozess.

(2) Damit die Interimsregierung als prekäre Koalition überhaupt eine Chance hat und nicht zur Beute ihrer militärisch starken Teile wird, ist neben umfassender humanitärer und Aufbauhilfe (und den damit gegebenen positiven Einfluss-/Druckmöglichkeiten) eine internationale und VN-mandatierte Sicherungstruppe unbedingt notwendig.

Lt. Anlage I des Petersberg-Übereinkommens soll sie die Sicherheit in Kabul und Umgebung gewährleisten (bei Abzug afghanischer bewaffneter Kräfte) und ggfs. in anderen Städten und weiteren Gebieten zum Einsatz kommen und den Wiederaufbau unterstützen. Es geht also um einen militärischen Beitrag zu Friedenskonsolidierung und Nation Building, also ausdrücklich um einen Friedens- und nicht um einen Kriegseinsatz. Wer gegen Krieg und für die Stärkung der VN ist, kann grundsätzlich nur für eine solche Truppe sein. (Auch die PDS kann ihre programmatisch-prinzipielle Ablehnung von „Auslandseinsätzen“ in diesem Fall nicht mehr vertreten.)

Mit der Entsendung kann nicht bis Abschluss der letzten Kampfhandlungen der US-Streitkräfte und Anti-Taliban-Truppen gewartet werden, die einige hundert km von Kabul entfernt stattfinden. Alles andere liefe auf unterlassene Hilfeleistung und Begünstigung vor allem der Nordallianz und der Kräfte hinaus, die nur ihr eigenes Süppchen kochen wollen.

(Rolf Paasch am 18.12. in der FR: Die Widerstände gegen eine rasche Stationierung reiche von Rumsfeld bis Ströbele. „Beide hätten die Realitäten gerne ihren jeweiligen Wünschen angepasst, ehe sie die Vereinten Nationen losmarschieren lassen. (...) Beide Haltungen nutzen nur den Falschen in Afghanistan. Dabei müssten alle Friedensbewegten für eine sofortige Verabschiedung eines robusten Mandats nach Artikel VII der UN-Charta werben, damit das Pentagon eben nicht seinen Krieg fortführen kann, ohne auf den politischen Schaden zu achten.“)

(3) Nach den Erfahrungen mit VN-Missionen (vgl. Brahimi-Report von 2000) kommt es entscheidend auf folgende Punkte an:

Klares und eindeutiges Mandat, klare Kommandostrukturen, keine Vermischung verschiedener Operationen (abschreckendes Beispiel Somalia)

Robustheit von Auftrag und Befugnissen (über das Blauhelm-Recht auf Selbstverteidigung auch Befugnis, zum Schutz von Zivilbevölkerung und der öffentlichen Sicherheit Gewalt anzuwenden- also polizeiliche Befugnisse mit militärischen Mitteln; nicht zu verwechseln mit Kampfauftrag; dazu Kapitel VII-Mandat erforderlich), was sich in Umfang und Ausrüstung der Truppe angesichts zu erwartender Risiken niederschlagen muss.

Ausgewogene zivil-militärische Fähigkeiten (gut ausgebildete und schnell verfügbare Polizeikräfte und zivile Experten; zivil-militärische Kooperation).

Zeitfaktor: Die ersten Wochen einer Friedensmission sind entscheidend für ihre Akzeptanz und Autorität. Deshalb kommt es auf den schnellen Einsatz kompetenter Kräfte an. Ein für Militärinterventionen typisches „schnell rein, schnell raus“ ist mit den Anforderungen einer friedensunterstützenden VN-Mission allerdings nicht verträglich. Der Zeithorizont muss realistisch sein!

Die Einigkeit der Internationalen Gemeinschaft entscheidet über ihre Autorität. Deshalb gilt grundsätzlich „gemeinsam rein, gemeinsam raus“.

Gerade bei so riskanten und unwägbaren Einsätzen wie einem in Afghanistan müssen Exit-Strategien klar und vereinbart sein: Wann würde die Truppe abgezogen? Wie könnte sie abgezogen werden? Wer würde den Rückzug (immer besonders riskant) unterstützen? (Extraction Force)

(4) Das vom VN-Sicherheitsrat am 20.12. verabschiedete Mandat setzt einen auf Kabul und Umgebung begrenzten Auftrag mit „robusten“ Befugnissen für den Zeitraum von sechs Monaten. Die Mitgliedsstaaten der „Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe“ ISAF . sollen der afghanischen Übergangsregierung dabei helfen, neue afghanische Verteidigungs- und Sicherheitskräfte zu bilden und einzusetzen.

Damit sind wesentliche Anforderungen angenähert. Zugleich bleibt Klärungsbedarf:

Auch 5.000 Mann (die „Netto“-Schutztruppe ist wegen des Anteils der Unterstützungskräfte wesentlich kleiner) können in einer chaotischen und fremden 1,5 Mio. Stadt mit Flughafen in 50 km Entfernung nur begrenzt und schwerpunktmäßig Sicherheit schaffen: Wer kümmert sich um die allgemeine öffentliche Sicherheit? Arbeitsteilung mit afghanischen Sicherheitskräften?

Wieweit ist Trennung von Kommandostrukturen und Operationen real und in der öffentlichen Wahrnehmung gewährleistet? Dass es Kommunikation zwischen beiden Operationen gibt, ist selbstverständlich notwendig, dass USA für Extraction Force zur Verfügung stehen, macht Sinn. Aber wie wird gewährleistet, dass ISAF nicht von Enduring Freedom dominiert wird?

Solche und andere Umsetzungsfragen werden in einem Military Technical Agreement (MTA) zwischen ISAF und Übergangsregierung geregelt: Was sind seine Festlegungen?

Was ist genauer unter der Unterstützung für afghanische Sicherheitskräfte zu verstehen: sinnvoll als Hilfe zur Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols, fragwürdig als bloße Aufrüstung einer Seite? Wer soll das leisten? (bisher gute Erfahrung auf dem Balkan z.B. mit Polizeiausbildung durch OSZE)

(5) Klärung des Bedarfs an militärischen Fähigkeiten/Umfang angesichts des Auftrags und der Größe und Risiken des Einsatzraumes. Was ist leistbar, was ist verantwortbar?

Welche militärischen Kräfte und Fähigkeiten sind notwendig, insgesamt und seitens der Bundeswehr?

Wie kann ihre Führung, Versorgung, ggfs. Verstärkung oder Evakuierung gewährleistet werden, ohne dabei unkalkulierbar von anderen abhängig zu sein? (z.B. Transport)

Wie kann insgesamt das Risiko für die entsandten Soldaten in verantwortbarem Rahmen gehalten werden?

Verfügt die Bundeswehr über die notwendigen personellen und materiellen Fähigkeiten und Ausrüstung (Führung, Aufklärung, Transport, Schutz) oder sind diese auf dem Balkan gebunden?

Auf dieser Ebene brauchen wir ganz besonders offene und ehrliche Beratung von militärischen Fachleuten/Militärs. Denn hier sind die Täuschungsgefahren besonders groß:

- Politiker, zumal „Ungediente und Kriegsdienstverweigerer“ wie bei Rot-Grün, neigen dazu, dem Militär Allesmögliche zuzutrauen, damit aber auch seine Leistungsfähigkeiten zu überschätzen. Das wird begünstigt durch die Grundhaltung und -botschaft militärischer Führer: „Wir organisieren das schon“.

- Die Grundstimmung in der militärischen Führung der Bundeswehr ist inzwischen keineswegs frank und frei.

W. Nachtwei, 21.12.2001