Frieden     Sicherheit    Abrüstung
Logo

www.nachtwei.de

Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
Navigation Themen
Navigation Publ.-Typ
Publikationstyp
•  Pressemitteilung (319)
•  Veranstaltungen (7)
•  Pressespiegel (20)
•  Bericht + (412)
•  Artikel (227)
•  Aktuelle Stunde (2)
•  Antrag (59)
•  Presse-Link (108)
•  Interview (65)
•  Rede (111)
•  Große Anfrage (4)
•  Kleine Anfrage (31)
•  Fragestunde (1)
•  Tagebuch (48)
•  Offener Brief (32)
•  Persönliche Erklärung (6)
•  Veranstaltungstipp (6)
•  Vortrag (23)
•  Stellungnahme (60)
•  Weblink (17)
•  Aufruf (5)
•  Dokumentiert (35)

Persönliche Aufzeichnungen aus den ersten Kriegswochen - Rückblende V Kosovokrieg vor 20 Jahren, April 1999: Aus richtigen Gründen das Falsche getan?

Veröffentlicht von: Nachtwei am 7. April 2019 17:15:55 +01:00 (34458 Aufrufe)

Die Verhandlungen waren gescheitert, ab 24. März Luftangriffe der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Vorher interessierten die Gewaltexzesse und Vertreibungen im Kosovo hierzulande wenig, jetzt flammte Antikriegsprotest auf, gegen die junge rot-grüne Bundesregierung und vor allem bei den Grünen. Ich mittendrin. Hier Aufzeichnungen aus Bundestag, Fraktion und Basisveranstaltungen. Mit dem Bruch vom 1. Mai.

Rückblende Kosovokrieg vor 20 Jahren (V)

Persönliche Aufzeichnungen aus den ersten Kriegswochen (April/Mai 1999). „Aus richtigen Gründen das Falsche getan?“ Der Bruch vom 1. Mai

Winfried Nachtwei, MdB 1994-2009 (05.04.2019)

(Persönliche Aufzeichnungen aus Kosovo-Konflikt/-Krieg/-Einsatz: Einordnende Anmerkungen dazu am Schluss von Rückblende V.

Rückblende I:Mai bis 16. Okt. 1998, Bundestagsbeschluss zu “Luftoperationen”, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1553

Rückblende III Nov. 1998 bis Feb. 1999, Als noch Hoffnung auf eine friedliche Lösung bestand, ”Rambouillet-Truppe”, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1579

Rückblende IV Die drei Wochen vor Kriegsbeginn,Stellungnahme zu den NATO-Luftangriffen vom 26. März 1999, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1581

Rückblende II: Bericht vom ersten Kosovo-/KFOR-Besuch Okt. 1999, Übergabe Camp Prizren Okt. 2018, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1551

(1) Persönliche Aufzeichnungen aus Fraktion und Bundestag April 1999 (Kladde IX)

(Am 27.03. fliegen meine Frau und ich in unseren Neujahr wegen des Todes meiner Mutter verschobenen Urlaub nach La Gomera. Nach zehn Tagen müssen wir vorzeitig zurück.

Zum Verlauf und Scheitern von Rambouillet vgl. G. Hoffmann, Wie Deutschland in den Krieg geriet, ZEIT 12.05.1999, https://www.zeit.de/1999/20/199920.krieg_.xml/komplettansicht )

08.04. a.o. Sitzung des Fraktions-AK IV zu KOS: Unterrichtung durch AA-Staatssekretär Wolfgang Ischinger

Zzt. wieder dramatische Flüchtlingssituation im Kosovo selbst, 250.000 intern Vertriebene, katastrophale Bedingungen, keine Nahrungsmittel, keine ärztliche Versorgung, keine Aussicht auf Hilfe. In Albanien 200.000 Flüchtlinge, davon über 100.000 in der NO-Region. Mazedonien: Massives politisches Problem wegen der demografischen Balance. 130.000 Flüchtlinge. Die Versorgungslage in N-Mazedonien sei nicht mehr so dramatisch wie vor einigen Tagen. NATO/Bw hätten sich ganz darauf eingestellt. Bei den deutschen Botschaften in Skopje und Tirana bestehe ein Koordinierungsbüros für humanitäre Hilfe.

Die Flüchtlingszahlern seien alles Schätzungen. Lt. UNHCR rund 400.000 ins Ausland vertrieben; insgesamt 700.000 auf der Flucht, ein Drittel der Bevölkerung.

Außenminister-Rat der EU: vor allem zur Koordinierung der Flüchtlingsbetreuung; Arbeit an einem Konzept für die Nachkriegszeit. Minister Fischer weise verstärkt auf einen Balkan-Stabilitätspakt hin.  Der Entwurf werde heute erstmalig von den Außenministern diskutiert. Er beinhalte politische, ökonomische, finanzielle und sicherheitspolitische Aspekte. Deutschland bemühe sich am intensivsten, Russland ins diplomatische Boot zurückzuholen. Die russische Ablehnung gegenüber der Militäraktion bleibe. Einigkeit sei möglich im Hinblick auf die Nachkriegszeit.

Schicksal des Rambouillet-Abkommens: (…) Der Text enthalte etliche Teile, die Basis für eine Lösung sein könnten. (…)

„Plan Hufeisen“: Eine von langer Hand vorbereitete Planung, Kosovo in Hufeisenform von Nord nach Süd zu „reinigen“. Angebliche Terrorismusbekämpfung sei das beste Mittel zur Vertreibung der Bevölkerung. Der Plan stehe kurz vor der Vollendung! Jetzige sog. Friedensoffensiven seien da kein Wunder! Allein in den letzten sechs Tagen seien 60 Dörfer niedergebrannt worden. (…)

Luftkrieg: Im Bündnis werde die Möglichkeit einer Kampfpause diskutiert. Dagegen gebe es Einwände aus militärischen Gründen. Deutschland trete dafür ein, die Luftangriffe wirklich auf militärische Ziele zu begrenzen. Die NATO-Militärplanung ziele auf zero losses (auf eigener Seite). Mit enormen Kräften würden wenige Ziele angegriffen.

Menschen würden als Schutzschilder für die serbische Artillerie missbraucht. (Bilder dazu) seien in der Öffentlichkeit oft nicht verwertbar, weil die Authentizität nicht immer nachweisbar sei.

Es herrsche blanker Vertreibungsterror und Angst. Und wenn man es gewusst hätte, hätte man dann vorsorglich Lager aufbauen sollen?

Zu (Präsident) Rugova gebe es Hinweise, dass er seelisch gebrochen wurde.

Serbische Teilungsstrategie? Eine solche sei aus den Militäroperationen nicht ableitbar. (…)

Zivile Opfer der NATO-Luftschläge: Wie mit alle Kraft eigene Verluste vermieden würden, so auch „Kollateralschäden“. Angesichts der Zahl der Angriffe seien sie sehr gering. Es gebe kaum eigene Möglichkeiten, serbische Verluste unabhängig zu überprüfen.

Russland wolle das VN-Waffenembargo weiter respektieren – gegen den Willen der Duma.

Es gebe ein starkes russisches Interesse, dass die Kosovo-Vorgänge in Russland keine Nachahmer fänden. Auch gebe es Ängste vor einer NATO-Umzingelung. Deshalb sei die deutsche Position sehr wichtig, dass es nicht um NATO-Ausweitung, -Hegemonie gehe. Keine Veränderung des Gesamtgefüges zu Lasten Russlands!!

- Christian St. zum Militäranhang Rambouillet, zu serbischen Flüchtlingen, zu Informationsquellen in Serbien (er habe E-Mails und Faxe, wonach die Philosophische Fakultät und eine Brücke mit Verkehr getroffen worden sei, über 1.000 Ziviltote)

- Staatssekretär. I. zum Rambouillet-Anhang: Der Vertragstext des politischen Teils sei der serbischen Seite am 1. Tag vom russischen Vertreter (Majorski) vorgelegt worden. Der militärische Teil des Vorschlags wurde der serbischen Seite nach Ende der ersten Woche vorgelegt. Die serbische Seite gab erst drei Tage vor Ende Kommentare. Keinerlei Kommentare gab es zum Implementierungsteil, der mit Billigung der russischen Seite vorgelegt, aber nicht zur Kenntnis genommen wurde. Beim politischen Teil habe es sehr wohl eine aktive Beteiligung der serbischen Seite gegeben, auch bei Kompromissformulierungen. Zur Abschlusserklärung: Der politische Teil sei im Prinzip in Ordnung, nicht der Implementierungsteil. Selbstverständliches Ziel der Initiatoren war, möglichst viel reinzupacken. Wie sonst Nachschub durch Albanien? Man hätte darüber reden können, der Text war Verhandlungsvorschlag, keine Kapitulationserklärung. Aber die serbische Seite weigerte sich, darüber überhaupt zu reden.

Er halte vom Vorwurf – auch des MdB (Hermann) Scheer – gar nichts. (Bei Dayton wurden drei Viertel der NATO-Forderungen durchgebracht.) Die Serben hätten keinerlei Vorschlag zur Implementierung gemacht!!

Es gehe auch um den Schutz des serbischen Bevölkerungsanteils im Kosovo.

Stellungnahme der fünf Außenminister zu Milosevic`s Waffenstillstandsangebot“: Nicht mehr wie bei Rambouillet, wo eine Präsenz serbischer Kräfte zugestanden wurde. Inzwischen sei ein Verbleib nicht mehr vorstellbar, ein vollständiger Abzug sei notwendig. Dann wären die Voraussetzungen für eine internationale Truppe anders, mehr polizeiliche Ordnungstruppe, weniger Abschreckungstruppe.

Falsche Erwartungen? Ja. In Bonn war man gegen die Vorstellung in manchen anderen Hauptstädten, wonach Milosevic nur darauf warte, nach einigen cruise missiles einzulenken. Aber dennoch gab es die Erwartung, dass die Militärschläge relativ schnell und massiv wirken würden. Wetter, Verstecken der Luftverteidigung verzögerten das. (…)

Bodentruppen: Die Bundesregierung sehe keine Veranlassung, sich an der Bodentruppendiskussion zu beteiligen. Niemand habe es bisher im NATO-Rat eingebracht.

Ziele in Montenegro: Dort gebe es Teile der integrierten Luftverteidigung, auch Nachschublinien. (…)

AK IV intern:

Die Hotline laufe weiter, werde sehr unterschiedlich frequentiert. Anrufer seien überwiegend interessiert, die eigene Meinung zu sagen. Legitimation und Materialübersendungen seien kaum erwünscht. Anrufe gebe es von allen Spektren, vor allem von Nahestehenden, die jetzt enttäuscht seien. Auch Leute mit verwandtschaftlichen  Beziehungen (in die Region). Inzwischen zunehmend auch Unterstützeranrufe. Das Maximum waren über 350 Anrufe am Tag. Anrufer vor allem Männer 30 bis 50 Jahre, weniger Frauen.

Bei anderen Parteien gebe es keine Hotline; beim AA 30 dran.

- Heiko/Mitarbeiter: Große Verunsicherung, wer noch was vertreten könne.

 Angelika B.: Die NATO müsse politisch in die Initiative kommen. Nur mit schroffer Ablehnung auf Milosevic`s „Angebote“ zu reagieren, sei unglaubwürdig, sie müssten anders gekontert werden.

Eine Umwidmung des Mandats der Tetovo-Truppe komme nicht in Frage. Sie sei nicht für einen Bodenkampfeinsatz ausgebildet und nur unter der Voraussetzung Friedenserhaltung dorthin gekommen. (…)

08.04. Informelles Beratungstreffen beim Bundesvorstand mit Fraktion, Landesvorständen:

- Vorsitzende Antje R.: Notorisch frage die Presse. Spalten sich die Grünen? Die Frage stelle sich zzt. nicht. Bisher gebe es eine gute Art der Konfliktaustragung. Die Spaltung gehe durch die meisten von uns mitten hindurch. Zu beachten sei, den jeweils anderen nicht die moralische Ernsthaftigkeit abzusprechen.

Die Frage sei, ob der eingeschlagene Weg noch vertretbar sei. Ausstieg aus der Kriegsspirale?

- AA-Staatsminister Ludger V.: Eine Versachlichung er Debatte sei unbedingt notwendig. Sonst gebe es üble Folgen für den Zusammenhalt der Partei.

Die (politischen) Versäumnisse der letzten zehn Jahre: 1991 gab es den ersten Antrag der Bundestagsgruppe Bündnis 90. Kosovo sei für Grüne immer Thema gewesen. Die Bundesregierung, der gesamte Westen gingen darauf nie hinreichend ein. Es gab kein Lernen aus Bosnien, dass man rechtzeitig hinsehen muss. Unsere Kritik der letzten zehn Jahre half uns kein bisschen, als wir in die Regierung kamen. (Die Eskalation seit Anfang 1998, verschärfte Übergriffe) Wir mussten mit dem gegebenen Konfliktrahmen vorlieb nehmen.

Der Washingtonbesuch: Das maximale Gesprächsergebnis wurde erreicht – Tolerierung des Luftschlages. Dann der Bundestagsbeschluss vom 16. Oktober. (…)

Zunahme serbischer Übergriffe, von OSZE registriert.

Racak-Massaker: Es wurde im AA eingeschätzt als erster Schritt zum Völkermord (ausdrücklich nach Völkerrecht als Töten  zur Zerstörung kultureller Identität) Weitere Racak`s seien in Sicht.

Es gab zwei Optionen: a) Sofortiges Zuschlagen (USA); b) Verhandlungsprozess (deutsche Initiative, ja grüne Idee). Dies wurde nicht nach außen gesagt, die Federführung lag bei dem britischen und französischen Außenminister. Rambouillet sei ein Stück realer grüner Friedenspolitik gewesen.

Das Scheitern von Rambouillet sei einzig und allein von Milosevic zu verantworten. Milosevic könne den politischen Teil tendenziell akzeptieren, wenn der militärische Teil fallen gelassen werde.

Die Vertreibung war keine Folge der NATO-Einsätze. Wer sowas sage, mache sich zum Werkzeug Milosevic`s. (Vertreibungs)Pläne wurden nur beschleunigt. Sonst hätte es langsamer nach Racak I ein Racak II, III … gegeben.

Die NATO-Angriffe wurden unausweichlich.

Er habe von seiner Kritik an der völkerrechtlichen Problematik vom letzten Oktober nichts zurückzunehmen. Allerdings sei nicht zu übersehen, dass es eine Blindstelle des Völkerrechts bei innerstaatlicher Verfolgung gebe. Das fehlende UN-Mandat war ein Manko. Aber warum? China drohte Veto an wegen „innerer Angelegenheit“ (wg. Tibet)

Was wollen die USA/NATO? In den USA sei die Zustimmung des Kongresses nur dann zu gewinnen, wenn nationale Interessen deutlich seien, wenn die NATO das Kommando habe und Kapitel VII (der UN-Charta) gelte. „Stellt euch vor, wir müssten allein mit dem Balkankonflikt ohne die Amis fertig werden!?“

Die Hauptkriegsziele wurden nicht erreicht. Jetzt würden ständig neue nachgeschoben.

Unser Dilemma: Wir handeln in eine Logik, die nicht unsere ist. Da rauszukommen, gehe nicht durch Wünsche und Resolutionen, sondern durch ein politisches Waffenstillstandskonzept.

An solchen Leuten wie Milosevic breche sich der gute Wille zu Verhandlungen. Da gebe es keine Missverständnisse per Mediation zu klären oder Interessen auszugleichen.

Das NATO-Argument sei vorgeschoben. Milosevic habe jede Friedenstruppe abgelehnt, auch eine der UN!!

ACTORD (Activation Order)wurde recht spät ausgelöst, weil noch jede diplomatische Lösung ausgelotet werden sollte!! Dann kamen Terminanforderungen: (…) vor NATO-Gipfel; möglichst vor Ostern zu Ende (!)

- Angelika B.: Bei der Flüchtlingslage sei Airdrop (Luftabwurf von Hilfsgütern) nicht drin.

Wer jetzt einseitige Waffeneinstellung von der NATO fordere, würde die schnelle Vollendung des Völkermords in Kauf nehmen. (…) Voraussetzung für einen Waffenstillstand der NATO sei eine glaubwürdige Einstellung der „Säuberungen“.

- Jürgen T.: Welche Fehler waren vermeidbar, welche nicht?

Wir konnten angesichts der Bosniengeschichte nicht untätig zusehen. Das Ergebnis sei äußerst unbefriedigend.

Raus aus der Eskalationsdynamik! Idiotisch sei, einfach weiter zu eskalieren.

So lange die Soldateska wüte, sei ein einfacher Abbruch nicht möglich. Konditionierter Waffenstillstand!

- Ralf F.: Es ist Luftkrieg. Kein Grund, den Scherbenhaufen zu überdecken!

Eine strategische Fehleinschätzung war, Milosevic zu unterschätzen. Trotzdem gab es keinen anderen Weg. Es gebe keinen Frieden, ohne dass die Kriegsfähigkeit des serbischen Regimes gebrochen werde.

- Winni N.: Wie fertig werden mit realem Konflikt, wo Wahl unter lauter schwersten Übeln?

Für Grüne ein programmatischer GAU: Teile unseres friedenspolitischen Programms schlugen  voll auf Beton auf, andere wurden massiv bestätigt!!

Zwischenbilanz und Illusion eines schnellen Luftkrieges.

Bodeneinsatz: keine moralische Frage, sondern eine der Wirksamkeit, Risiken, Kosten.

- Ludger V.: Der OSZE-Anzug wurde notwendig wegen Vergeiselungsgefahr. Nicht in Wettstreit mit PDS treten in Verbalradikalismus und Linkspopulismus!!

Aus den Länder:

- Thüringen: allgemeine Ratlosigkeit, hoher Bedarf nach Info-Kampagne.

Baden-Württemberg: 12 Aus- und 12 Eintritte wg. Kosovo.

- Bayern: Schweigende Mehrheit noch hinter der Bundesregierung. Aber nach jedem ausgeschlagenen Verhandlungsangebot wachsende Zweifel. Angst, wie noch raus aus der NATO-Logik? Von 2/3 zu 1/3 zu 1 zu 1 pro Bundesregierung.

- Berlin: Zwei Gremiendiskussionen fair und leidenschaftlich. Beim Ostermarsch kräftige Sprechchöre „Nie mehr Grün“ und „Fischer, wir kriegen dich“. 22 Austritte.

- Hamburg. Relativ gespalten; großer Zuspruch für Uli-Cremer-Aufruf.

- NRW: Rückmeldungen von 25 Kreisverbänden (KV): 20 mal Beschlüsse, 19 für sofortiges Ende der Bombardierungen; Meinungsbildung vielleicht 1 zu 1. Etliche angekündigte Austritte; Farbanschläge, Beschimpfungen. 99% gegen Bundesregierung. BDK erst am 13 Mai sei viel zu spät. So nah an der Zerreißprobe wie noch nie!

- Rheinland-Pfalz: Starke friedensbewegte Tendenzen, differenzierte Diskussion bisher.

- Sachsen: Massive PDS-Kampagne; offensiv dagegen vorgehen.

09.04. Interview mit WDR III: „Grüne vor der Zerreißprobe?“

10.04. Kurzfristige Gesprächsrunde zum KOS-Krieg mit Grünen-Mitgliedern in Münster

mit Input von mir: Viele aktuelle Stellungnahmen ohne den Hintergrund des letzten halben Jahres – als hätte es keine grüne Politik zum KOS gegeben. Eine lange verdrängte Debatte (pazifistisch-antimilitaristische Haltung vs. Regierungsbeteiligung) breche jetzt voll raus; programmatischer GAU! Je nach Art der Auseinandersetzung bestehe hohe, ja existenzielle Gefahr für die Partei. Anerkennung von Dilemmata oder Gesinnungschlacht. Meine Gefühlslage: Äußerst widersprüchlich/beschissen, zerrissen: Mit richtigen Gründen das Falsche getan? (Manuskript + Aufzeichnungen vorhanden)

13.04. KOS-Veranstaltung des KV Aachen (Manuskript vorhanden)

Erklärung „Zurück zur Politik“ der grünen MdB Christian Sterzing, Winfried Hermann, Winni Nachtwei, Claudia Roth, Hans-Josef Fell, Klaus Müller (4 Seiten), http://www.hagalil.com/archiv/99/04/nachtwei.htm

14.04. Verteidigungsausschuss

- Minister Scharping: Es gebe Anzeichen, dass Teil der integrierten jugoslawischen Luftverteidigung stark beschädigt und ausgeschaltet sei. Der andere Teil kam gar nicht zum Einsatz. Bei der Führungsfähigkeit des Nachschubs zeigen sich Wirkungen. Die UCK sei weitgehend zerschlagen. Serbische Kräfte treffen Verteidigungsvorbereitungen (Verminungen). Die humanitäre Situation sei äußerst schwierig.

„Operationsplan Hufeisen (Potkova)“: Im Dezember/Januar Vorbereitungen zur systematischen Vertreibung, Massenmord ggb. kos.-alb. Bevölkerung. Im Januar Manöver mit scharfer Munition. Der Operationsplan werde schrittweise verwirklicht. Bei KVM-Abzug schon 500.000 Flüchtlinge. Humanitäre Katastrophe nicht durch NATO! (…) Teile der Armee hätten sich dezidiert gegen KOS-Einsatz ausgesprochen. (…) Fülle von Belegen für Massenverbrechen und Vergewaltigungen liegen beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag: Bevölkerung wurde auf Platz getrieben, Vernichtung aller Identitätszeichen, Erpressung von Geld, z.T. Eintreten von Türen, „in fünf Minuten raus, sonst Erschießung!“

Lt. UNHCR vom 13.04. 315.000 Flüchtlinge nach Albanien, 116.000 nach Mazedonien, 65.000 Montenegro, 27.000 Bosnien & Herz.  Seit 30. März insgesamt 90 Hilfsflüge. Grauenhafte Lebensbedingungen, unmittelbar von Verhungern und Verdursten bedroht! Intensive NATO-Überlegungen zur Hilfe:

Airdrop unverändert hoch riskant.

Ges. humanitärer Korridor? Setzt Billigung der BR Jugoslawien voraus, dann immer noch sehr riskant. Skeptisch, ob das gelingt. Es könnte durch beschleunigte Vertreibung unterlaufen werden. (Humanitäres) NATO-Engagement, weil UNHCR erklärte, nicht die Mittel dazu zu haben.

Zwei Linien der Bundesregierung:

(a)    Völlige Festigkeit im Bündnis, notfalls Intensivierung (der Luftangriffe)

(b)   Verstärkte politische Bemühungen.

Waffenstillstandsbedingungen: Stopp der Vertreibungen, vollständiger Rückzug, garantierte Rückkehr der Flüchtlinge und Zugang für Hilfsorganisationen, internationale Militärpräsenz, Bereitschaft zu politischer Vereinbarung auf der Basis von Rambouillet. Diese Punkte von dt. Außenminister eingebracht und von EU, NATO, UN-Generalsekretär übernommen.

Der UN-Generalsekretär habe am 09. April eine äußerst beachtliche Rede gehalten zum Zielkonflikt zwischen UN-Charta/Souveränität der Staaten und Ächtung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. UN kein Refugium für Verbrecher.

Die militärischen Maßnahmen würden fortgeführt, bis die Bedingungen nachprüfbar erfüllt seien. Die Erfolgschancen der politischen Bemühungen seien abhängig von der Festigkeit im militärischen Bereich.

- AA-Staatssekretär I.: Über die fünf Punkte bestehe Übereinstimmung über den UN-Generalsekretär auch mit dem UN-Sicherheitsrat. Substanzielle Meinungsunterschiede zeigten bezüglich der Mandatierung und Durchsetzung einer Friedenstruppe. Russland sei zu Forderung weit über Rambouillet hinaus bereit. Die russische Seite wolle die Sache vom Ende her aufzäumen (welche Formel werde Milosevic akzeptieren?). Zugleich wisse man, wie schwach der eigene Einfluss in Belgrad inzwischen sei. (…)

- Br//Obmann Union fragt nach der Mandatsgrundlage für Bundeswehr in Mazedonien. Damals sei es an den Rambouillet-Vertrag gekoppelt gewesen. Der sei obsolet.

Alles sei dafür zu tun, dass wir nicht in unkontrollierbare Verpflichtungen hineinschliddern.

- Z./SPD-Obmann: Die Kritik an der NATO-Informationspolitik sei richtig. Gegen Spekulationen über Eventualitäten.

- A.B./grüne Obfrau: Hätte nicht gedacht, dass es ein Diktator so weit treibe – auch gegen sein Volk. Was seien die Risiken für Nachbarregionen? Welche Einwirkungsmöglichkeiten gebe es auf die Rep. Srpska und Mazedonien? Hinweise auf Provokationsstrategie? Anzeichen für russischen SFOR-Rückzug?

- L./PDS: Drei Wochen nach Beginn der Luftangriffe sei das Nachdenken über einen Friedensplan erfreulich. Was seien die Ergebnisse der Tornado-Einsätze? Erkenntnisse über zivile Schäden und Einschätzungen?

- Minister Scharping: Die jugosl. Armee versuche, v.a. Angehörige der bulg. und ungar. Minderheiten einzuziehen. Hier gebe es einen besonders großen Entzug.

Für die NATO sei die Stabilität der Anrainer von essentieller Bedeutung.

Zum Annex B von Rambouillet: Der sei mit dem von Dayton identisch. Vgl. die Rules of Engagement von UN-Peacekeeping-Truppen. Hier sei der Geburtsort solcher Regelungen.

„Rambouillet-Lüge“: Quatsch!

Die Gefahr bestehe, dass Milosevic`s Waffenstillstand auf einen Friedhof führe. 900.000 (mehr als die Hälfte der Bevölkerung) sei vertrieben. Die Wirkung dann sei, dass das

Bündnis zerstört werde, Milosevic die Beute behalte, dass irgendwo sonst Flammen hoch gehen.

Die dt. ECR-Tornados greifen nur die Luftverteidigung an. Bisher wurden ca. 90-100 HARM verschossen. Fehlschüsse würden bedauert. Viele geplante Angriffe seien abgebrochen worden, weil man zu hohe zivile Schäden befürchtete (in zehn Tagen 50%!!).

Keine Anzeichen für russischen Abzug aus SFOR.

Ein Stabilitätspakt Balkan sei eine Idee von Außenminister Fischer.

Von politischen End(state)-Szenarien für Kosovo rate er ab. Offen halten! (Unabhängiger KOS: nicht lebensfähig, Teilung?)

Friedensplan in Deutschland geboren!! (…)

- AA-Staatssekretär I.: Übergangsverwaltung statt Protektorat (z.B. wie Ostslawonien, was gut funktioniere). Nicht an der völkerrechtlichen Zugehörigkeit zur BR Jugoslawien rühren!

Im AA sei man was stolz auf den Stabilitätspakt SO-Europa unter OSZE-Dach. Das erfuhr vor wenigen Tagen guten Zuspruch bei EU-Außenministern, beim NATO-Rat. Hier Nägel mit Köpfen machen! Die Umsetzung setzt Ruhe im Kosovo voraus.

Annex B: Nicht anderes als Chimäre und Märchen. Fühle mich persönlich an meiner Berufsehre gepackt. Grotesk, dass wir unannehmbaren Vertrag vorgelegt hätten. Verhandler waren Majorski, Petritsch und Hill!! Absurd, man habe ein Diktat ins Auge gefasst. Platzhalter (so könnte es aussehen), mehr nicht!

- Generalinspekteur zu Tetovo und Piacenza.

14.04. AK IV

- Joschka: Er wolle die Debatte um die „Rambouillet-Lüge“ führen und das klarstellen. Es sei eine völlig virtuelle Debatte. Die Verhandler zuckten angesichts der Vorwürfe mit den Schultern. Was solle das? (…) Das Abkommen  beziehe sich auf den Kosovo mit Randstreifen und Landzugang. Die BRJ weigerte sich, über Implementierung zu reden. „Aber mir kommt kein Soldat ins Land, kein Blauhelm, kein NATO-Soldat“, so Milosevic zu Fischer. Laut Berichten der OSZE-Beobachter sei es lange vor den NATO-Bomben schlimm genug gewesen. (…)

SFOR habe Durchfahrtsrecht durch die BRJ.

- Polit. Direktor AA Pleuger: Was in Rambouillet verhandelt wurde, sei nicht neu gewesen. R. scheiterte schlichtweg an der Weigerung der serbischen Seite, über die Kap. II, V, VII (Sicherheit, Polizei) zu reden!!! Selbstverständlich waren Verhandler zu Kompromissen bereit. Im politischen Teil gab es Zugeständnisse. Beim Prozess auf Seiten der Kontaktgruppe habe es schon Abschwächungen beim Annex B gegeben.

Fischer: Milosevic wollte „keine fremden Soldaten im Land!“

- Dt. Sonderbotschafter für KOS Christian Pauls: Über Annex B fiel kein einziges Wort. Zu Kap. VII in 14 Tagen kein Kommentar.

Zum Stabilitätspakt mit drei Körben:

             Sicherheit/Minderheitenrechte, Garantien durch internationale Staatengemeinschaft

            - ökonomischer Korb, Hinführung an das Europa der Integration

            - Implementierung demokratischer Institutionen

Das nur über Jahrzehnte lösbar!! (Das alles) sei breit akzeptiert, vor allem bei betroffenen Staaten. Man sei mit Hochdruck dran. Alles, was zur Schwächung beitrage, würde die Perspektive verschütten. Nachgeben gegenüber Milosevic wäre der worst-case!!!

- Joschka: Besondere Krisenhaftigkeit um Karfreitag, als über Flüchtlingsmassen vor allem Mazedonien gefährlich destabilisiert wurde. Militärs/Bundeswehr halfen entscheidend bei der Kanalisierung. UNHCR hatte ausdrücklich drum gebeten. (…)

14.04. Fraktionssitzung nur zu Kosovo

- Grüner Bundesgeschäftsführer Reinhard B.: Innerparteiliche Lage unübersichtlich. Einflussfaktoren: „mehr Bomben/mehr Flüchtlinge“. Einstimmiger Buvo-Beschluss: grundsätzliche Unterstützung der Bundesregierung.

- Winne H.: Schwerste Veranstaltungen in politischer Laufbahn! Stimmung unterschiedlich, aber immer viel kritischer als hier!! Selbstkritische Bilanz! Waffenstillstand nicht an zu viele Bedingungen knüpfen!

- Hans-Christian St.: Es sehe nicht, dass hier Menschenrechte oder Friedenspolitik die Frage. (Alternative) seien. Auch wenn wir Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmen wollen, war Krieg trotzdem ein schwerer Fehler. Richtig sei, dass überhaupt was in Gang komme, jede Gelegenheit nutzen! Sonst Logik des Krieges! Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass Ziele nicht erreicht wurden. Der Friedensplan sei zu unterstützen, der Außenminister sei offensichtlich initiativ! Sein Bemühen, den Krieg möglichst lange zu verhindern, sei anzuerkennen.

Zu Rambouillet: Die Sätze des Anhangs seien falsch, die Zweifel nicht ausgeräumt. Art. 8 bedeute weitgehende Aufgabe der Souveränität.

- Joschka: „Militärische Logik“? Es gebe auch noch eine Logik des Milosevic!!

Wir sind am Ende eines Prozesses von zehn Jahren!!! Eine diplomatische Initiative ist keine Kapitulationsaufforderung. Er halte von Bodentruppen nichts! Er sage den Bündnispartnern, das sei im Parlament nicht durchsetzbar. Dann eher die Verteidiger instandsetzen.

- Winni N.: Zur Stellungnahme der Bundesregierung: zutreffende Rechtfertigung, die ernüchternde Zwischenbilanz fehle (falsche Erwartungen, Fehlkalkulation!! Überraschende Überraschung!)

Worst-case künftig? Wenn alles scheitert, dann Bodentruppen? Dazu klar Position beziehen!

Zur Forderung nach einseitiger Einstellung der NATO-Angriffe: Es bestehe Unklarheit über den Charakter dieses Krieges: (a) Serb. Krieg gegen Zivilisten; (b) NATO gegen Vertreibungskräfte. Einseitige Einstellung hieße „freie Bahn“ (für die Vertreiber). Erleichterung eines Waffenstillstandes durch Begrenzung auf Kosovo?

Zu Antikriegsprotest und innergrüner Debatte: Wachsende Sprengkraft (Teile des Antikriegsprotestes undiskutabel – deutlich gegenhalten!); gute Gründe; nur durchzustehen, wenn … andernfalls!!! (Beifall bei Bodentruppen, bei Teilen des Antikriegsprotestes, am Schluss)

Helmut L.: Er habe bei Besuchen in Belgrad öfter gesehen, dass der Nachschub für UNPROFOR/SFOR über Jugoslawien kam.

 Kerstin M.: Sie bezweifle sehr, dass militärische Deeskalation ggb. Milosevic irgendwas bewirke. Welches Signal sei das an die Flüchtlinge?

Ludger V.: Voll und ganz hinter die AA-Initiative stellen!! Waffenstillstand müsse zeitgleich mit dem serb. Abzug realisiert werden. Einseitige Vorleistungen würden die Einheitlichkeit des Westens wieder schwerer machen. Bitte auf andere Lieblingsideen verzichten!

Beschluss

15.04 Plenarsitzung Bundestag, Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder

(mein Geburtstag)

- Schröder: (…) (keinerlei Aufheizung; Äußerungen zu Rechtfertigung, Milosevic werden nicht beklatscht, dafür aber solche zu Russland)

- Gerhardt/FDP, Rezzo Schlauch, Gregor Gysi, Joschka Fischer: (…)

- Rudolf Scharping: (…) Sehen Sie hin: (Methoden der Vertreibungen, Einzelszenen, Fotos – meine Anmerkung: äußerst konkret, plastisch, tiefst bewegend, max. Intensität!! Tränen!)

- Gernot Erler/SPD: (…)

- Annelie Buntenbach/Grüne: Sofortige Einstellung der Luftangriffe und Rückkehr an den Verhandlungstisch! (…)

(Interviews mir ARD, ZDF, Vera Gaserow/Frankfurter Rundschau: Ihr Artikel „Aus richtigen Grünen das Falsche getan? Nicht nur der Abgeordnete Winni Nachtwei fürchtet, dass den rot-grünen Ministern Scheuklappen wachsen“ erscheint in der FR am 16.04., hier am Schluss S. 11 ff.)

15.04. „Krieg im Kosovo“ beim Grünen Kreisverband Osnabrück (Manuskript + Aufzeichnungen vorhanden. In Erinnerung ist mir das Klima bei vielen Diskussionsveranstaltungen, wo ich die verbreitete Enttäuschung sehr nachvollziehen konnte und meist gegen die große Mehrheit argumentierte. Bei etlichen TeilnehmerInnen – primär Nichtparteimitgliedern – erlebte ich nur tiefste Verachtung und völlige Dialogverweigerung. Da durchweg nichts an realitätstüchtigen Alternativvorschlägen gebracht wurde, wirkten diese „Bodenkämpfe“ auf mich kaum verunsichernd, sondern vor allem aufwühlend. Einmal so sehr, dass es mich zu Hause zum Heulen brachte. Mir blieb aber bewusst, dass ich angesichts unserer Art von Mitverantwortung keinen Grund zu Selbstmitleid hatte.)

16.04. Mitgliederversammlung KV Münster

(Vorschlag für eine Resolution der MV zum Kosovo-Krieg von Winni Nachtwei)

17.04. a.o. Sitzung der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frieden von B`90/Die Grünen:

- Andreas Buro: Der Friedensbewegung gehe es wie den Grünen – innerlich zerrissen. Vertreibungen, Zivilopfer, politische Perspektiven seien infrage gestellt. Gegenüber der neuen Regierung bestand die Hoffnung, dass Zivile Konfliktbearbeitung erheblich ausgeweitet würde. Schwerer Rückschlag für diese Perspektiven. (…) Vorwurf an die NATO-/Bonner Politik, sehr falsch eingeschätzt zu haben. Wer so einsteige, habe grob fahrlässig gehandelt. „Humanitäre Intervention“? Das sei nicht glaubwürdig.

- Ludger V., Barbara M., Dieter Br., Martina F., Roland Vogt, BAG`ler aus Trier,

- Kalle: Grüne haben Gewissensprüfung zur KDV nicht bestanden. Angriffskrieg gegen Jugoslawien – dann müsse man auch die Koalition verlassen und das Mandat zurückgeben. Die Bezugnahme auf Auschwitz sei unerträglich, demagogisch (Beifall)

- Ludger V., Andreas B.,

- Uli Cremer: Gut, dass hier die Debatte stattfinde, wo Grüne bei Kundgebungen oft ausgebuht werden, von serbischen Nationalisten, von Autonomen – dabei auch ein richtiger Kern. Grüne hätten in historischer Situation versagt. (…) Deutscher Ausstieg wäre gutes Zeichen. Eine UN-Truppe dürfe nicht nach Kapitel VII mandatiert sein. Kapitel VI mit neutralen Truppen. NATO-Länder hätten da als kriegführende Partei nichts zu suchen. (…)

- Ellen D./Oberhausen: Angst vor Machtverlust korrumpiere. Raus aus der NATO gehöre auf die Tagesordnung. (…)

- Dietmar P.: Notwendigerweise wurde so gehandelt. Wo sind die Rechte der Opfer?

- Albert St.: Einseitiger Ausstieg aus der Logik? Das sei alte grüne Position, aus pazifistischer Grundüberzeugung klar. Einseitige Schritte richten sich an die serbische Basis, an Russland. Gegen moralischen Overkill.

-BDK-Vorbereitungen (…)

20.04. AK IV der Fraktion:

- Humanitäre Hilfe Albanien

- KOS: Auffällige NATO-Fixierung mit mehr oder weniger latentem Antiamerikanismus; eine Folge nicht geführter Diskussionen nach dem Golfkrieg.

Beobachtungen aus der Debatte: programmatische Regression; keinerlei Verständnis für internationale Politik/Fluchtbedürfnisse; Grüne Handschrift zzt. in der Außenpolitik nicht erkennbar.

20.04. Fraktionssitzung

- Hans Koschnik: Drei große Tendenzen: (a) Die Gewaltorgie gehe zweifellos von Belgrad aus. , weit vor den NATO-Angriffen. Früher Ignoranz ggb. der serb. Bürgerrechtsbewegung, die nur mit guten Worten begleitet wurde. Dasselbe zu Rugova.

(b) Die UCK habe die albanische Bevölkerung als Geisel genommen. 399.000 Kosovoalbaner in Deutschland. In Bosnien wurden insgesamt 2 Mio. Menschen vertrieben. Einschätzung des NATO-Rates, dass im Kosovo die Wiederholung des 1995er Weges drohte. Keiner könne Milosevic richtig einschätzen. Zur Gruppenpsychologie: Jeder trage nur die eigene Opfergeschichte weiter. Ausblendung/Leugnung von Täter(geschichten).

Die Schutzschildtaktik sei schon in Bosnien ähnlich gewesen, wo Schutzgräben von Kriegsgefangenen ausgehoben wurden. (c) Was tun mit den Menschen? Rausholen? Humanitär wäre das richtig, aber … Mazedonien brodelt. Slawen fürchten um ihre Mehrheitsposition. Montenegro: Ca. 48% Belgrad-Anhänger, 52% nicht. Es gebe Hinweise auf schlimmste Entwicklungen. Wie weiter? Ich weiß es nicht. (…)

Regelmäßig wurde Geld erst dann gegeben, wenn Konflikte da waren.

Mit einem zerstörten Serbien gebe es keinen Frieden.

- Joschka: Russland fange an, mit den USA verstärkt über die Zusammensetzung eine internationale Friedenstruppe zu diskutieren. Vertreibungen halten an. Versorgung solle über Neutrale erreicht werden. Belgrad signalisiere große Starrheit. (…)

20.04. „Was bleibt von grüner Friedenspolitik zwischen Pazifismus, Völkerrecht, Menschenrechtsverletzungen und Regierungsverantwortung?“ KV Solingen (Manuskript + Aufzeichnungen vorhanden)

21.04. Verteidigungsausschuss, TOP 2 Ex-Jugoslawien/Kosovo

- Minister Scharping: (…) Die Selbstbindung der NATO-Einsätze sei in einer Demokratie notwendig: Die Vermeidung eigener und ziviler Opfer sei eine unvermeidbare Einschränkung. In der Strategie gebe es keine Änderung, sie werde auch von keinem Mitglied angestrebt. Allerdings stelle sich vermehrt die Frage, wieweit mit Milosevic noch eine Lösung möglich sei.

AMF/Land (Allied Mobile Force der NATO) nach Albanien, strikt humanitärer Einsatz, 18 dt. Soldaten im HQ dabei. Alles andere sei zzt. nicht entscheidungsreif. Vermutungen, dass damit schleichende Vorbereitung von Bodentruppen, zeigen völlige Ahnungslosigkeit.

- Generalinspekteur von Kirchbach (ab April 1999): Von 8.500 Soldaten 6.000 ausschließlich mit humanitärer Hilfe, Führung und Logistik befasst, 2.000 mit Sicherung. Vier Task Forces mit Transport, Sanität, Pionier, Wasseraufbereitung, Sicherungskompanie; ein Bataillon Transporthubschrauber.

Die serbische Verteidigung sei tief gestaffelt, vom Gelände begünstigt. Koordinierte Operationen des jugosl. Militärs im Kosovo mit 18.000 Mann und 220 Panzern, 12.000 Sicherheitskräften (Hauptvertreiber) und Paramilitärs (600).

Bei Allied Force sieben Zielkategorien: Integrierte Luftverteidigung, Luftverteidigung, ortsfeste Führung, Führung, Logistik/Nachschub, Betriebsstoffe, Rüstungsproduktion.

Wirkungen: Größte Zerstörungen bei ortsfester Führung, ach Betriebsstoffen (große Teil der Raffineriekapazitäten). Luftwaffe noch zu begrenzten Operationen fähig. Luftverteidigung noch relevant. Erhebliche Rekrutierungsprobleme mit Wehrpflichtigen und Reservisten, vie Einheiten bei 50% der Sollstärke. (…)

22.04. Plenarsitzung Bundestag zu 50 Jahren NATO

- Bundeskanzler Schröder: Drei Bedingungen zur Einstellung der Luftangriffe: Einstellung Kampfhandlungen, Rückzug serb. Kräfte, Zusage intern. Streitkräfte für sichere Rückkehr.

- Minister Fischer: Im Kosovo gehe es auch darum, in welchem Europa der Zukunft wir leben wollen. Heute gehe es nicht um hegemoniale Ansprüche im KOS. Alle Länder wollen in die EU, NATO. Europa der Integration. Milosevic vertrete das Gegenmodell. (…)

- Mit Joschka bilateral zu Öllieferungen/Seeblockade: Das wurde in der NATO beraten, scheiterte am Widerspruch Italiens. Außerdem bestehe hohes Risiko, weil dabei ja auch Gewalt gegen Dritte, Neutrale, Russland.

Große Gefahr, dass es in den USA eine Wende zum großen Hammer gebe.

23.04. KV Coesfeld zum KOS: Gute Grundstimmung, die allermeisten aber gegen die Position der Bundesregierung und für sofortige Einstellung der Luftangriffe. Pro-Stimmen praktisch keine. (Manuskript vorhanden)

24.04. Euregio Grüne Almelo zur Europawahl: Beim Thema KOS heiße Auseinandersetzung vor allem wg. zwei starrer, aggressiver niederländischer Altpazifisten.

24.04. DFG-VK-Tagung „Wende zur Entmilitarisierung“ in Kassel: (…) Trotz alledem bei Bekannten immer noch Grundfreundlichkeit („möchte nicht in euer Haut stecken“, „halt die Ohren steif“). KOS-Diskussion: Heidi L./PDS mit ihrer Billig-Opposition und Falsch-Vorwürfen: sehr ärgerlich, dito. Bundessprecher Ansgar S., dem ich Großmäuligkeit vorwerfe. Anerkennung bei vielen für meine Offenheit und dass ich mich stelle.

26.04. KV Kleve/Geldern mit Prof. Haberl (OSZE-Beobachter in Bosnien: gute, kontroverse KOS-Debatte. (Manuskript vorhanden)

27.04. KV Minden-Lübbecke zu KOS: (…) In Diskussion etliche hart-ideologisch und aggressiv   Ich attackiere z.T. hart zurück und trage zu gewisser Eskalation bei.

28.04. KV Unna zu KOS: Trotz Nachmittag gut besucht, sehr angenehmes Klima, auch wenn Beiträge überwiegend kritisch. (…) (Manuskript vorhanden)

30.04. KV Wuppertal: KOS (Manuskript vorhanden)

(2) Politische „Bodenkämpfe“ in Münster

11.04. Meine Stellungnahme zur Kundgebung „gegen den NATO-Krieg um Kosovo“ am letzten Samstag in Münster:

„Ernsthafte und gute Argumente sprechen gegen die NATO-Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Das ist mir als Friedensbewegtem und langjährigem Kritiker von Vorstellungen militärischer „Friedenserzwingung“ sehr wohl bewusst. Deshalb enthielt ich mich bei dem entsprechenden Bundestagsbeschluss im Oktober der Stimme, sah aber im März die Luftangriffe angesichts eines drohenden zweiten Bosnien und der serbischen Blockadehaltung gegenüber einer politischen Lösung als alternativlos an. Der bleibende Zwiespalt vertiefte sich nach dem bisherigen Kriegsverlauf.

Von daher erwartete ich von der Kundgebung gegen den Kosovo-Krieg auf dem Prinzipalmarkt am letzten Samstag Argumente und Druck für eine friedliche Lösung. Doch ich erlebte eine bloße Anti-NATO-Veranstaltung, die an Einseitigkeit und Selbstgerechtigkeit kaum zu überbieten war.

Die Redner markierten die NATO als alleinigen Kriegstreiber. De verbrecherische Nationalismus des Milosevic-Regimes und seine mörderische VErtreibungspo9litik wurden praktisch nicht erwähnt. Stattdessen bezeichnete Prof. Erich Küchenhoff die UCK als „terroristische separatistische Gruppe“ und verstieg sich zu der Behauptung, der „Separatismus“ habe das Leid auf dem Balkan verursacht.

Wie selten sonst auf einer „linken“ Protestkundgebung prägten Legalitätsargumente die Reden. Übergangen wurden dabei aber die bestehenden Lücken des Völkerrechts angesichts innerstaatlicher ethnischer „Säuberungen“ und die reale Blockade des UN-Sicherheitsrats. Wo sonst eher „Hoch die Internationale Solidarität“ gilt, stand nun die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität im Vordergrund.

Die vorgetragene „Rechtstreue“ ging einher mit einem auffälligen Schweigen gegenüber dem Schicksal der im Kosovo terrorisierten und vertriebenen Albaner. Damit stellten sich die Kundgebungsteilnehmer außerhalb der Tradition der Friedensbewegung, die sich immer auch als Solidaritätsbewegung für bedrohte und verfolgte Menschen und Völker verstand.

Es ist völlig legitim, Befürworter er NATO-Luftangriffe hart zu kritisieren. Wenn Kundgebungsteilnehmer mich als „Kriegstreiber“ und „Verräter“ beschimpfen, wenn Theo Knezger als ;Mitinitiator des Antikriegsbündnisses von der Bühne aus diejenigen, die den NATO-Luftangriffen zugestimmt haben – also auch alle Münster aber Bundestagsabgeordneten – ausdrücklich als „Kriegsverbrecher“ bezeichnet, dann signalisiert das eine Selbstgerechtigkeit sondergleichen. Solche Feinderklärungen zerstören jede politische Auseinandersetzung und leisten einer Marginalisierung des Antikriegsprotestes Vorschub. Ich bin überzeugt, dass längst nicht alle Kundgebungsteilnehmer dieses Freund-Feind-Denken mittragen.

Damit mehr politischer Druck gegen die militärische Eskalation und für eine friedliche Lösung entsteht, brauchen wir aber eine Debatte, die ehrlich die Dilemmata der verschiedenen Positionen anerkennt. Nur so werden Auswege aus er verfahrenen und äußerst gefährlichen Situation gefunden werden können.“

1. Mai-Kundgebung vor dem Historischen Rathaus (mit Friedenssaal) der Stadt Münster: Auf Einladung des Kreisvorstandes soll ich fünf Minuten zum KOS-Krieg sprechen. Das Redemanuskript:

„(1) Jetzt ist Krieg!

Jetzt ist wieder Krieg vor unserer Haustür, erstmalig mit bundesdeutscher Beteiligung, unter Rot-Grün.

Jetzt ist Krieg im Kosovo: Serbisches Militär, Sonderpolizei und Mörderbanden führen einen totalen Krieg gegen die UCK und die kosovoalbanische Zivilbevölkerung.

Jetzt ist Krieg in Jugoslawien: Die NATO greift mit Raketen und Bomben nicht nur das jugosl. Militär und seinen Nachschub an, sondern immer mehr auch die zivile Infrastruktur und das politische Machtsystem.

(2) Einig – uneinig

Wir sind uns einig, dass der Vertreibungskrieg gegen die Kosovoalbaner sofort aufhören muss, dass die Vertriebenen sicher zurückkehren können!

Unter Kolleginnen und Kollegen, in Familien, Parteien, ja auch unter Friedensbewegten sind wir uns uneinig gegenüber dem Krieg der NATO.

Die einen/Samstagsdemonstranten verurteilen die NATO-Angriffe als völkerrechtswidrig, durch nichts zu rechtfertigen, also zerstörerisch in jeder Hinsicht und fordern die sofortige und bedingungslose Einstellung der Luftangriffe.

Die anderen, darunter alle Münsteraner MdB, trogen die Luftangriffe mit, weil im letzten halben Jahr aller anderen Versuche gescheitert waren, den serbischen Diktator  von seinen mörderischen Vertreibungen abzubringen. Weil kein zweites Bosnien geschehen durfte.

Viele aber sind schlichtweg ratlos, bei vielen wachsen die Zweifel nach fünf Wochen Luftkrieg, die immer noch kein Ende der Vertreibungen gebracht haben, sondern immer mehr Zerstörungen, auch für die serbische Zivilbevölkerung.

(3) Wie weiter?

Der Krieg im Kosovo und in Jugoslawien eskaliert immer mehr. Immer offener Rede ist die Rede von der Entsendung von Bodentruppen. Diese vermeintliche „Konsequenz“ ist kein Ausweg, sondern ein absolut gefährlicher Irrweg. Dem muss sich die Bundesregierung in der NATO klar widersetzen.

Umso notwendiger ist die Suche nach diplomatischen Auswegen, wobei Russland und der UN-Generalsekretär Kofi Annan hervorragende Rollen spielen. Die deutsche Bundesregierung gilt als Drehscheibe für diese Friedensbemühungen.

Hilfreich könnte dabei die Einschränkung bzw. Unterbrechung der NATO-Luftangriffe sein als Zeichen der Verständigungsbereitschaft gegenüber der serbischen Bevölkerung und gegenüber Russland. (Wer einseitigen und bedingungslosen Stopp fordert, muss sich über die Konsequenzen klar sein)

(4) Wie Krieg und Vertreibung stoppen? Wie Rückkehr der Vertriebenen ermöglichen?

Das sind jetzt die politischen Schlüsselfragen, hierfür trägt die Bundesregierung entscheidende Mitverantwortung.

Aus dieser Mitverantwortung können wir uns nicht davonstehlen.

Danke für Widerspruch!

Danke für`s Zuhören!“

(Weiter Persönliche Aufzeichnungen, Kladde IX., S. 145:) Schon mein Name provoziert ein Pfeif- und Buh-Konzert, das dann während der ganzen Rede anhält, durchsetzt von „Heuchler“-, „Kriegsverbrecher“-, „Mörder“-Rufen. Massenweise Hass, Transparente verstellen die Sicht, Versuche, mir das Mikro zu entreißen. Nachher viel Anerkennung.

In der Konfrontation bin ich in Kampfstimmung und ziemlich unempfindlich. Am Nachmittag bricht die Kapsel auf, habe ich das Lachen verloren – als gebe es eine Zeit vor und nach dem 1. Mai.

(3) FR-Artikel „Aus richtigen Gründen das Falsche getan?Nicht nur der Abgeordnete Winni Nachtwei fürchtet, dass den rot-grünen Ministern Scheuklappen wachsen“ von Vera Gaserow, FR 16.04.1999, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=104&aid=828

„Eigentlich kann er es nicht erklären. Es war doch gar keine Atmosphäre für Tränen. Nüchtern, zwar auch mit moralischem Stoff unterfüttert, aber fast routiniert hat der Bundestag am Donnerstag über den Krieg debattiert, der in Kosovo seit nunmehr drei Wochen herrscht. Und dann sind ihm während der vierstündigen Debatte doch die Tränen in die Augen gestiegen. „Seelisches Kondenswasser" nennt der Grüne Winni Nachtwei das, was er da „ausgeschwitzt" hat. Als Abgeordneter sitzt der 53jährige Studienrat aus Münster bei der Kosovo-Debatte in einer der hinteren Reihen und macht sich Notizen. Festhalten von Gedankensplittern als Selbstvergewisserung. Denn Nachtwei, Leutnant der Reserve und seit den 80er Jahren Mitglied mehrerer Friedensinitiativen, hadert seit drei Wochen mit einem Problem — mit dem Problem, dass er recht behalten könnte.

Nachtwei gehört zu denen in seiner Partei, die eine „Friedenserzwingung mit militärischen Mitteln" immer abgelehnt haben. Und dann hat er doch für den Nato-Einsatz gegen Jugoslawien die Hand gehoben — weil er keine Alternative sah und bis heute nicht sieht. Als der Bundestag Ende März, einen Tag nach dem Beginn der Nato-Angriffe, erstmals darüber debattierte, hat sein aufgewühlter grüner Fraktionskollege Hans-Christian Ströbele „von einem Angriffskrieg" gesprochen, der wieder von deutschem Boden ausginge. Nachtwei hat ihm für diese Bemerkung ein „Pfui" dazwischengerufen.

Aber das war vor drei Wochen. Da hieß der Krieg im Bundestag noch „operativer Einsatz", und fast alle Redner glaubten damals, dass der Einsatz in einigen Stunden, spätestens aber in einigen Tagen vorüber sei. Auch der Abgeordnete Nachtwei hatte das gehofft — ganz gegen all seine friedensbewegten Gewissheiten. Nun scheinen sich viele der alten Gewissheiten zu bestätigen, und das schafft ein merkwürdiges Gefühl — das Gegenteil von Genugtuung jedenfalls. Nach drei Wochen Krieg treibt Nachtwei die Frage um, „ob wir mit richtigen Gründen nicht doch das Falsche tun". Von der Bundestagsdebatte am Donnerstag hatte er darauf nicht unbedingt eine Antwort erwartet. Aber wenigstens eine „selbstkritische, nüchterne Bilanz" hatte er von „seinem" rot-grünen Kanzler und dessen Ministern erhofft. Zumindest Zweifel, ob mit den gewählten militärischen Mitteln das angestrebte Ziel noch erreicht werden kann, hätte er gern gehört. Nach vierstündiger Debatte bilanziert Nachtwei: „Das war so fern von allen real bestehenden Unsicherheiten."

Fast unterkühlt verlas Gerhard Schröder seine Regierungserklärung. Immerhin: Als der Kanzler den deutschen Soldaten dankt, hat auch der grüne Skeptiker Nachtwei geklatscht. Und als Schröder warnt, wer die Nato-Angriffe verantwortlich mache für ethnische Vertreibung, der begehe „einen schrecklichen Irrtum oder bewusste Verleumdung", kann Nachtwei auch das unterschreiben.

Aber dann senkt sich von der rot-grünen Regierungsbank auch schon diese dichte argumentative Wand gegen alle Bedenken. Fischer, im Schlagabtausch mit Gregor Gysi brillant wie in besten Oppositionszeiten, Rudolf Scharping mit moralischem Overkill in der Stimme, Rezzo Schlauch, der grüne Fraktionschef, mit einer respektvollen Verbeugung vor

den Zweiflern in den eigenen Reihen — aber Unionschef Wolfgang Schäuble ist es schließlich, der sich aus der sicheren Oppositionsrolle heraus so selbstverständliche Worte zu sagen traut wie: „Es werden im Volk auch bange Fragen laut, vor allem die Älteren sind tief beunruhigt." Und: „Die Akzeptanz der Militärschläge setzt voraus, dass wir die Erreichbarkeit unserer Ziele auch plausibel vermitteln können."

Zweifel an der Erreichbarkeit der Ziele zu äußern — und damit nicht zuletzt Wählerstimmen und Neumitglieder zu sammeln —, das bleibt an diesem Tag allein der PDS überlassen. Und der Regierungskoalition scheint es nicht unlieb, eine angreifbare Projektionsfläche weit linksaußen gefunden zu haben. Denn Gregor Gysi, tags zuvor vom Händedruck mit Milosevic zurück, erlaubt leichtes Spiel. Wer suggeriert, die Bomben der Nato hätten erst die Flüchtlingswelle ausgelöst, sorgt selbst für die eigene Diskreditierung. Das macht es der Regierung einfach, das moralische und politische „Ob" eines militärischen Eingreifens in den Vordergrund der Debatte zu stellen und nicht die Sinnhaftigkeit und Effizienz des „Wie".

Das „Ob" des Eingreifens ist für Zweifler wie Winni Nachtwei längst eine Frage von vor drei Wochen. An seiner Entscheidung, dass es keine Alternative zum Militärschlag gibt, hat sich seitdem nichts geändert. Aber Nachtwei fragt sich, „ob bei allem Vertrauen", das er in die Regierung setzt, „nicht auch rot-grünen Ministern Scheuklappen wachsen". Vor allem gegenüber dem moralischen Gestus ist er misstrauisch geworden. Mehr Nüchternheit und klares Bilanzieren wären ihm lieber.

Da hat er, der Friedensbewegte, in den unzähligen Fachgesprächen der vergangenen Wochen von manch hohem Militär mehr Kritisches gehört als von den Politikerkollegen.

Als die Bundestagsdebatte zu Ende geht, haben sich die anfangs gut besetzten Stuhlreihen längst gelichtet. Der Abgeordnete Nachtwei hat vor allem den einen Eindruck aus der Debatte mitgenommen: Dass sie wenig mit den Fragen zu tun hatte, die ihm demnächst wieder auf Diskussionsveranstaltungen der grünen Basis oder der Friedensinitiativen bevorstehen. Erst letzte Woche hat er sich vor hundert Zuhörern als „Nato-Kriegstreiber" beschimpfen lassen müssen. Auf „verheerende Argumentationsmuster" stößt Nachtwei bei diesen Anti-Kriegsprotesten, „die haben nichts mit der guten Tradition der alten Friedensbewegung zu tun, da herrscht eine unglaubliche Verehrung für die Souveränität von Nationalstaaten". Wenn er selbst gestern im Bundestag am Rednerpult gestanden hätte, dann hätte er wohl das in den Vordergrund geschoben.

In den nächsten Wochen, bis zum Sonderparteitag der Grünen Mitte Mai, wird Nachtwei noch auf vielen Antikriegsveranstaltungen versuchen, die Kluft zwischen grüner Parteibasis und Funktionsträgern zu kitten. „Die rasanten politischen Veränderungen, die wir hier in Bonn durchmachen, sind für die Basis kaum nachzuvollziehen", sagt er, „aber wir müssen versuchen, das Unfassbare verständlich zu machen." Leicht wird das nicht. Nachtwei kommentiert es selbstironisch in der Terminologie dieser Tage: „Dafür braucht es jetzt den vollen Einsatz grüner Bodentruppen."

ANMERKUNGEN

Wie Deutschland in den Kosovokrieg geriet, erlebte ich als Abgeordneter der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen (seit 1994) aus Münster, als Mitglied des Verteidigungsausschusses und als Aktivist der Friedensbewegung (seit 1980) ziemlich hautnah mit. Noch dichter dran mit mehr Einblicken hinter die Kulissen waren die Obleute des Ausschusses, bei uns die Kollegin Angelika Beer, und teilweise die Fraktionsvorsitzenden.

Um in dem politischen Tagesgewühle nicht den Überblick zu verlieren und die vielen Fäden zu halten, notierte ich von Anfang an intensiv mit – hauptsächlich in DIN-A-4-Kladden (heute Nr. 45). Mit den Aufzeichnungen vor allem in den Bundestagsausschüssen, in Fraktion und AK IV (und auf Reisen) wollte ich den Überblick über Ereignisse, Informationen, Positionen behalten und meine Fähigkeit zu gezielten Diskussionsbeiträgen und Fragen verbessern. Bei wichtigen und strittigen Themen kamen die Aufzeichnungen nahe an eine paraphrasierende Mitschrift, waren ansonsten aber keineswegs vollständig. Sie sind eine schriftliche Quelle, dabei unvermeidbar selektiv und subjektiv. Zusammen mit meinen reichen Beständen an Papieren ermöglichen die Aufzeichnungen Einblicke in politische Prozesse und regelrechte Kämpfe, die in meinem Gedächtnis oft nur noch in groben Konturen präsent sind.

In Form meiner Reiseberichte betreibe ich schon seit 1988 eine Veröffentlichung meiner persönlichen Aufzeichnungen – angefangen mit der Spurensuche in Minsk und Riga (Ghetto, Deportationen) und einer vierjährigen NS-Prozessbeobachtung.

(Mit der Veröffentlichung von persönlichen Aufzeichnungen zu heißen politischen Phasen begann ich im August 2011 mit „11. September bis 22. Dezember 2001 – Von New York nach Afghanistan aus Berliner Sicht“(http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=11-87&aid=1074). 2013 folgten Aufzeichnungen 30 Jahre nach der Hoch-Zeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre, 2016 Aufzeichnungen von der Bosnien-Reise von Fraktions- und Parteispitze im Okt. 1996 und ihren Schlüsselerfahrungen usw.)

Jedes Mal war auffällig, wie „vergessen“ bzw.  verdrängt wichtige, oft auch schmerzhafte Phasen unserer gemeinsamen Gegenwartsgeschichte sind.

Das gilt ganz besonders für die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg 1999, beschlossen in der Startphase der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene, mitgetragen von der Mehrheit einer Grünen Partei, für die solches noch im Bundestagswahlkampf 1998 völlig undenkbar gewesen war. Ein Bundesparteitag billigte 2008 wohl einmütig den Abschlussbericht der Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission, der auch eine selbstkritische Bilanzierung der Kosovo-Kriegsbeteiligung beinhaltete. Nichtsdestoweniger blieb der Kosovokrieg für viele, gerade Ältere im grün-linken-friedensbewegten Spektrum eine nicht verheilte Wunde. Und für die vielen jüngeren Grünen ist es ein Streitthema aus grüner Frühgeschichte unter dem Teppich der älteren Generationen.

Während bei Grün`s Kosovo für ein belastetes, schmerzhaftes Kapitel der eigenen Vergangenheit steht und lieber verdrängt wird, ist bei Olivgrün eine andere Art des „Vergessens“ auffällig. Im Juni wird die deutsche Beteiligung am internationalen KFOR-Einsatz 20 Jahre alt. Der militärische UN-Auftrag, Absicherung der Friedensregelung und Verhinderung erneuter Kriegsgewalt im Kosovo, wurde erfolgreich erfüllt – und das ausgesprochen gewaltarm. Trotzdem gilt der KFOR-Einsatz von mehr als 100.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten als „vergessener Einsatz“, in der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch unter jüngeren Bundeswehrangehörigen.

Es besteht also wahrlich aller Grund, das gesellschaftliche Kurzzeitgedächtnis aufzufrischen:

  • Das Licht einer internationalen Gemeinschaftsleistung für Kriegsverhütung und Friedenssicherung auf dem Westbalkan sollte man nicht unter dem Scheffel halten!
  • Gerade für PolitikerInnen, die in einer Bundesregierung mitwirken wollen, kann die Erinnerung an eine Phase, wo internationale Verantwortung extrem gefordert war  und Wunschdenken auf dem Betonboden der Realitäten aufschlug, besonders lehrreich sein.

Dazu will ich mit der Reihe „Rückblende 20 Jahre Kosovo-Konflikt/-Krieg/-Einsatz“ und mit einem bebilderten Vortrag zu 20 Jahren KFOR beitragen. ( winfried@nachtwei.de )

Liste meiner Berichte + Stellungnahmen zu den Balkan-Kriegen und -Einsätzen (v.a. Kosovo) 1995-2019

Empfehlenswerte Neuerscheinung: Hans-Peter Kriemann, Der Kosovokrieg 1999, RECLAM, mit zahlreichen Farbabbildungen und Karten, erscheint Ende Mai 2019, https://www.reclam.shop/detail/978-3-15-011212-0/Kriemann__Hans_Peter/Der_Kosovokrieg_1999 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch