Ãœber seinen Besuch in Mazar-e Sharif und Kunduz berichtet W. Nachtwei in seinem 13. Afghanistan-REisebericht: "Erste, aber flackernde Lichtblicke seit Jahren", mit Aktualisierung zur Sicherheitslage im Sommer 2011.
Erste, aber flackernde Lichtblicke seit Jahren -Kurzbesuch in Mazar-e Sharif und Kunduz
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (Juli 2011)
Auf Einladung des Parlamentarischen Staatssekretärs im BMVg und langjährigen MdB-Kollegen Thomas Kossendey hatte ich am 20./21. April 2011 die Gelegenheit zu einem Kurzbesuch in Mazar-e Sharif und Kunduz. Mit zur Delegation gehören die Abgeordneten Anita Schäfer aus Zweibrücken und Nadine Schön aus Lebach (Wahlkreise der Saarlandbrigade) sowie Aga Zia Farsin, aus Afghanistan stammender, besonders engagierter Berufsschullehrer aus dem Landkreis Ammerland, dem Wahlkreis von T. Kossendey.
Gesprächspartner sind Lehrerinnen und Leiter der Ali Chapan High School in Mazar, Generalmajor Kneip (Kommandeur Regional Command North), der Base Commander von Camp Marmal/Mazar, Vertreter des Senior Civilian Representative (SCR) im RC North, militärische und zivile Leitung des PRT Kunduz, Kommandeur, Offiziere, Kompaniefeldwebel und Soldaten der Task Force Kunduz (Saarlandbrigade), Kommandierender General 209Corps ANA General Zalmai Weza, dt. Offiziere und Feldwebel des Operational Mentor and Liaison Team (OMLT) der 2. Brigade 209Corps ANA und dt. Mentor des Corps-Kommandeur. Das Gespräch mit Militärpfarrern und Psychologen schaffe ich nicht. Zufallsbegegnungen mit niederländischen Offizieren und dt. Polizisten.
Unter den Gesprächspartnern sind einige Bekannte: General Kneip, dem wir 2006 als erstem Regionalkommandeur RC North zweimal begegneten. Unvergessen sind mir seine damaligen eindringlichen Warnungen und Mahnungen angesichts der massiven Verschärfung der Sicherheitslage auch im Norden (parallel zu den mit der ISAF-Süderweiterung dort ausbrechenden schweren Kämpfen). Mein dringender Bericht „Afghanistan auf der Kippe?" vom Juli 2006 blieb damals  auf Seiten der Regierung und Großen Koalition ungehört. Fallschirmjäger der Saarlandbrigade, mit denen wir 2008 noch „draußen" unterwegs waren - als uns „Raketenhügel" gezeigt wurden, als ein PRT-Kommandeur den Obleuten des Verteidigungsausschusses gegenüber konstatierte, ISAF/Bundeswehr habe in Kunduz die Initiative verloren. Vertreter des AA, die ich im August 2010 traf und die jetzt über acht Monate mehr an Erfahrung verfügen. Angesichts der Kürze des Besuches sind die geschilderten Einblicke zwangsläufig selektiv und sicherheitslastig. Es ist mein 13. AFG-Reisebericht.
In Termez beim Empfangskomitee ist auch OTL Hein aus Telgte wieder dabei. Dem munteren Luftwaffenoffizier begegnete ich tatsächlich bei jedem seiner inzwischen fünf Einsätze hier seit 2006. Über Termez gehen zu Normalzeiten ca. 1.000 Passagiere pro Woche, beim Kontingentwechsel ca. 3.000.
MAZAR-E SHARIF
In Mazar Besuch der Ali Chapan High School an der Hauptstraße vor dem Stadtzentrum. Großer Empfang durch Schülerinnen und Lehrerinnen, die ein winkendes Spalier zum Zentralgebäude bilden. Junge Mädchen in bunten Trachten singen mit voller Kraft.
Zzt. besuchen 2.300 Schülerinnen und Schüler von 6-16 Jahren in drei Schichten die Schule. Im Mai 2010 wurde ein neues Gebäude mit Klassenräumen für über 1.300 Schülerinnen und Schüler in Anwesenheit von Gouverneur Atta und General Leidenberger eingeweiht. Die Schule wird u.a. von „Lachen Helfen", der Initiative von deutschen Soldaten und Polizisten für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten, sowie Aga Zia Farsin unterstützt. In 2010 stellte Lachen Helfen über 40.000 Euro für einen Erweiterungsbau zur Verfügung. Eine Steinplakette erinnert unter der deutschen und afghanischen Fahne an die ersten Unterstützer: „BMZ, Lachen Helfen, 15. DEU Einsktgt ISAF Sep 07-May 08". Natürlich gibt's hier mit Zia Farsin, Lehrerinnen und mir als Vorstandsmitglied von Lachen Helfen ein Erinnerungsfoto. Im hinteren Bereich muss noch in Zelten unterrichtet werden. Es ist erst April. Aber in den geschlossenen Zelten sind schon 30° C.
Ich empfinde den Besuch als zwiespältig. Es sind Begegnungen voller Lebendigkeit, Herzlichkeit, Hoffnung. Hier scheint Hilfe anzukommen, Selbsthilfe zu fördern. Hier ist Sinn von internationaler Unterstützung erlebbar.
Zugleich ist das Risiko erheblich, sich - und anderen - mit solchen herzerwärmenden Besuchen etwas vorzumachen. Denn so wichtig und gut solche Investitionen in Bildung sind: Sie sind keine Rechtfertigung/Sinnstifter für den Militäreinsatz und kein Gradmesser seiner Wirksamkeit.
Camp Marmal
Auf dem Flugplatz Mazar enormes Wachstum an Flugbewegungen: In 2010 ca. 46.000, + 217% ggb. 2009. Die Passagierzahlen stiegen von 70.482 in 2008 über 112.850 in 2009 auf 177.073 in 2010. Bisher wird die Flugsicherung ausschließlich durch ISAF bzw. im Auftrag von ISAF organisiert. Gemäß Civil Aviation Master Plan vom November 2009 soll schrittweise die Übergabe an die noch zu schaffende afghanische Flugsicherungsorganisation erfolgen.
Das Camp Marmal erstreckt sich inzwischen über eine Fläche von 3 x 5,5 km! Die durch Patrouillen gesicherte „Blue Box" umfasst 600 qkm.
Die Zahl der hier stationierten internationalen Truppen stieg von 6.500 auf 9.200. 2.000 lokale Arbeitskräfte sind hier beschäftigt.
Inzwischen gibt es zunehmend UAV`s (Unmanned Aerial Vehicles) vor Ort, darunter drei „Heron 1" der Bundeswehr. Gegenwärtig ist noch kein überlappender Einsatz möglich. Bisher gab es zwei Totalschäden: Am Ende des Erstfluges rollte eine Heron gegen das Fahrwerk einer Transall. Eine zweite Heron stürzte wegen Motorausfall in der Wüste ab. Beide sind inzwischen ersetzt.
(Max. Flughöhe 9.000 m, Flugzeit > 20 Stunden; seit 27.5. voll einsatzbereit, inzwischen auch überlappender Einsatz fast im gesamten Operationsgebiet des RC North)
Angesichts der knallheißen Sommermonate kann man sich kaum vorstellen, dass hier vor zwei Monaten eine Überschwemmung zur echten Bedrohung wurde: An der dem Marmalgebirge zuwandten Südmauer staute sich das Wasser auf ein Meter Höhe und drückte ein Tor ein. Die Hälfte der Rollbahn stand unter Wasser, das Tanklager wurde in Mitleidenschaft gezogen.
Eine erfreuliche Ãœberschwemmung erlebte Mazar wieder aus Anlass des Nawruz-Festes: Hunderttausende (einige sprechen von einer Million) feierten in Mazar das Neujahrsfest.
Das Regional Command North begann 2006 mit einem einzigen Brigadegeneral. Heute sind es sechs Generale mit sieben Sternen. Der Kommandeur Generalmajor Kneip (GE), sein Stellvertreter ein US-Brigadegeneral, Chef des Stabes (COS) ein Schwede, Deputy (stv.) COS Support Volker Thomas, Dep COS Security Dirk Backen, Base Commander Peter-Georg Stütz. Nach einer Schwächeperiode ist auch der dt. Generalsanteil in Kabul wieder gewachsen: Dep COS Stability GM Rosmanith, Dep COS Air GM Joachim Wundrak, ISAF-Sprecher BG Josef Blotz, Director Civil-Military-Synchronisation BG Jürgen Weigt.
Einen geradezu explosiven Aufwuchs erlebte seit dem vorigen Jahr die zivile Komponente im RC North, der Senior Civilian Representative (SCR): Er umfasst inzwischen zehn Entsandte des AA. Zwei sind zuständig für Government + Development, zwei für Stability, zwei für Verwaltung. Der SCR K.H. trägt einen Doppelhut: Er ist zugleich Leiter der Außenstelle Mazar der Dt. Botschaft. Bis Sommer 2010 bestand allerdings die zivile Komponente des RC North aus einem (!) Diplomaten. War er abwesend, gab es keinen Stellvertreter!
Ein Arbeitshindernis sondergleichen ist, dass die PRT`s der anderen Nationen nur auf ihren nationalen Strang an ihre Hauptstädte berichten und eine regelmäßige Information des SCR verweigern. Die USA habe für sich in der Region Nord eine zweite SCR-Struktur installiert.
Erheblich angewachsen ist das Personal der deutschen Entwicklungszusammenarbeit von 1.333, davon 236 Entsandten im März 2010 auf 1.898, davon 323 Entsandte im Juni 2011!
Der Sturm auf die UNAMA-Niederlassung in Mazar am 1. April (sieben getötete UNAMA-MitarbeiterInnen) habe gerade bei der EZ-Gemeinde voll reingehauen. Aber UNAMA komme wieder, wolle sich besser aufstellen.
Vor kurzem sei beim Krankenhaus Balkh Richtfest gefeiert worden.
Die Eröffnung der Bahnlinie Heiraton (Usbekistan) nach Mazar lasse noch auf sich warten. Es gebe noch keinen Betreibervertrag.
Polizeiaufbauhilfe bilateral durch das German Police Project Team (GPPT):
Neben der Infrastruktur- und Ausstattungshilfe liegt der Schwerpunkt bei Beratung, Mentoring und Training: als Mentoren für höhere Beamte von ANP und Innenministerium, Train-the-Trainer, Pre- and In-Service Training, Focused District Development FDD. Drei Säulen:
(a)   Ausbildung neuer Rekruten in den durch das GPPT geführten vier Ausbildungsstätten (5.000 jährlich zugesagt, in 2010 ca. 5.600), seit Februar 2011 auch in Kabul;
(b)  FDD Fortführung in den Distrikten Kash und Khaldar (Gesamtdauer 11 Monate, davon 8 Wochen Training im Police Training Center und 24 Wochen Mentoring und Nachbetreuung)
(c)Â Â Â Aufbau eines ANP-Trainerpools (zugesagt Ausbildung von 500 Trainern bis Ende 2012)
Trainingskapazitäten: in Mazar 400 (Ausbau auf 800), Kunduz 120 (auf 530), Feyzabad 80 (auf 200) plus 60 im Polizeihauptquatier, Kabul 100. (Stand Mai 2011) In Mazar stehen eineinhalb Infanteriezüge (> 30 Mann) für die Begleitung der Polizeiteams zur Verfügung.
Ein Informationssaustausch besteht zwischen ISAF und dem GPPT. Deutsche Polizisten sind in Mazar und Feyzabad am FDD beteiligt, in Kunduz nur an der sechswöchigen Basisausbildung. Die Auswahl der Distrikte für das FDD geschehe lt. ISAF durch das GPPT unter enger Führung des BMI. Eine Absprache mit ISAF finde hierzu nicht statt. Unverständlich sei, warum manche Distrikte für FDD ausgewählt worden seien. Insgesamt klaffe eine Schere zwischen den Kräften für Ausbildung und denen für das nachfolgende Mentoring.
(Vgl. meine Stellungnahme zum Sachverständigengespräch des Innenausschusses des Landtages NRW „Abzug deutscher (NRW-)Polizisten aus Afghanistan" Antrag der Fraktion DIE LINKE, 9. Juni 2011, www.nachtwei.de/index.php/articles/1049)
(Zurück in Deutschland  höre ich, dass Deutschland ganz aus dem FDD aussteigen will und nur noch in den Police Training Centers arbeiten will.
Ein erfahrener Insider gibt zu bedenken, dass bei den 8-Wochen-Kursen viel Zeit mit Übersetzung drauf gehe. Primärzweck der Ausbildung sei, Zahlen zu produzieren. Die EUPOL-Mission sei stark mit sich selbst beschäftigt, werde eng aus Brüssel geführt und durch ein extensives Berichtswesen beeinträchtigt. Es gebe eine Tendenz, sich selbst und die Afghanen zu loben, damit man raus könne.)
Osterüberraschung
Meiner langjährigen Tradition folgend habe ich wieder etliche Kilo Spezial-Weingummi aus dem Münsteraner „Bärentreff" mitgebracht. Ein Empfänger soll Oberstabsfelwebel K. aus dem Münsterland sein. Er gehört mit seinen Männern zur Task Force MES und ist über Wochen im OP North in Baghlan eingesetzt. Dahin kommen wir natürlich nicht. Nach wenigen Stunden bekomme ich aber schon Bescheid, dass die bunte Ware Ostersamstag beim Empfänger eintreffen wird.
KUNDUZ
Vorm Abflug nach Kunduz stoße ich vor der Abfertigungshalle in Mazar auf niederländische Offiziere, darunter welche aus Münster. Sie sind Wegbereiter der niederländischen Polizeiausbildungsmission, die mit über 500 Polizisten und Soldaten demnächst ihre Arbeit vor allem in Kunduz aufnehmen soll. Zum Schutz der eigenen Kräfte gehören auch vier F-16-Kampfflugzeuge zum Kontingent. (Am 28.7. in Berlin Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding zwischen dem niederländischen Generalmajor Tom Middendorp und Brigadegeneral Warnecke vom Einsatzführungsstab.)
Aus dem Transall-Cockpit kann ich unsere Flugroute verfolgen: Nach Osten über die Ebene, nach 10 Minuten die Oase von Kholm. Nach 18 Minuten wieder Felder, Überlandstraße Ost-West, dann städtische Siedlung an kurvenreichem Fluss ... Kunduz. Steiler Sinkflug in Linkskurve, kurzer Blick auf die inzwischen fünf Militär- und Polizei-Camps auf dem Plateau, Landung. Direkt neben dem Abfertigungsfeld ragte jahrelang das Seitenleitwerk eines Flugzeugwracks aus dem Boden - als Mahnung und Warnung. Jetzt ist es abgeräumt.
Im Sicherheitshohlweg der Toranlage des PRT kommt uns ein von Schutzgittern umgebenes Ungetüm, ein US-Minenräumfahrzeug (Route Clearance Package) entgegen. Seit Jahren ist die erste Station aller Besucher das stille Gedenken im Ehrenhain vor der Mauer mit den Plaketten für die im Raum Kunduz gefallenen Soldaten: Mischa Meier, Sergej Motz und viele mehr.
PRT Kunduz
Das PRT Kunduz hat seit 2010 einen erheblichen Funktionswandel erlebt. Der Kommandeur führt keine größere Truppe mehr. Über Unterstützungskräfte und Stab hinaus steht ihm nur noch eine Schutzkompanie mit drei Zügen zur Verfügung: einer für Taloqan, einer als Quick Reaction Force als Nahbereichsschutz, einer für CIMIC.
Als „battle space owner" ist der PRT-Kommandeur aber für die Unterstützung aller anderen Bundeswehreinheiten in seiner Region zuständig.
Sehr hilfreich für den Nahbereichsschutz ist die verbesserte technische Aufklärung: Die Kameras des PRT blicken über etliche km. Am Himmel steht seit wenigen Tagen eine Art Zeppelin, wie wir ihn im vorigen Jahr schon über Kabul sahen: „Persistent Threat Detection System". Vom PRT aus hoch gelassen auf maximal 1.000 m können die Kameras (auch Infrarot) bei bester Sicht Personen auf 20 km sehen und Kfz auf 30 km.
Die short/long time patrols der Vergangenheit gibt es jetzt nur noch vom PRT Feyzabad aus.
Insgesamt gibt es im Norden sechs PRT`s. Das türkische PRT in Sheberghan/Jowjan werde zivil geführt und funktioniere nach Aussage von Militärs recht gut. Schweden wolle unbedingt bis Mitte 2012 auf zivile Leitung umstellen. Die USA bauen in Mazar ein Generalkonsulat auf, das das größte in ganz Asien werden soll (wie schon die US-Botschaft in Kabul). Seit drei Wochen gebe es aus Kabul ein Papier zur Evaluierung der PRT.
Von AA-Seite gibt man zu bedenken, dass die zivile Seite ihre Aufgaben nur dank der militärischen Ressourcen erfüllen könne. Das fange schon bei Besuchen an. Insofern habe man persönlich keine Eile mit der zivilen Leitung. Vielleicht könne es in Richtung Deutsches Haus gehen. Allerdings müsse mit dem Aufbau der entsprechenden Personalkapazitäten jetzt begonnen werden.
Zivil-militärische Zusammenarbeit beginnt im PRT mit der einstündigen Morgenlage, an der neben der militärischen Führung immer AA, BMZ und USAID teilnehmen. Aus militärischer Sicht laufe die Zusammenarbeit im PRT hervorragend. Gestern seien Vertreter von „Ärzte ohne Grenzen" dagewesen, um sich über bestimmte Fragen auszutauschen.
(Im Juni höre ich aus einem Ministerium, dass auf Seiten des AA noch keine Aktivitäten zur Stärkung der zivilen Komponente im Transitionsprozess erkennbar seien. Die von der Bundesregierung mitbeschlossene COIN-Strategie von ISAF werde auf Seiten des BMZ und der EZ skeptisch gesehen bzw. abgelehnt.
Ein überfälliger Fortschritt ist das zwischen BMVg und BMZ vereinbarte Ausbildungsmodul „Zivile und militärische Interaktion im Rahmen der Friedenskonsolidierung", das im November erstmalig an der Führungsakademie der Bundeswehr in Kooperation mit der GIZ stattfinden soll. Zielgruppen sind zivile und militärische Fach- und Führungskräfte der vier Ministerien, ergänzt um VertreterInnen von NGO`s, Medien, Wirtschaft. Dass inzwischen das BMI aus diesem Pilotprojekt ausstieg, ist nicht nachvollziehbar. Es ist ein Signal gegen die Professionalisierung des Zusammenwirkens im Rahmen des umfassenden Ansatzes.)
Sicherheitslage im Norden insgesamt
(In der 16. KW ab 18.4. landesweit 411 Sicherheitsvorfälle (2010 364), davon im Norden 11 (22) - Ost 191, Süd 106, Südwest 89.)
Vieles habe sich über die Jahre nicht verändert: Strukturen, Powerproker ...Geändert haben sich Dimensionen, Komplexität und Tempo. Die eigenen Fähigkeiten hätten sich vervielfacht.
Die zwei deutschen Task Forces (in Berlin Ausbildungs- und Schutzbataillone genannt) machen einen deutlichen Unterschied. Norwegen und Schweden wollen ihre Kräfte deutlich aktiver einsetzen. Türkei und Polen agieren demgegenüber sehr zurückhaltend. Die 170. Brigade der US-Army aus Baumholder mache Polizeiausbildung und gehe auch mit raus. Inzwischen sei man deutlich weg vom früheren 1-Stunden-Radius. Inzwischen gebe es etliche Stützpunkte in der Fläche.
Spezialkräfteeinsätze erfolgen mit Billigung des RC North. Civilian Casualties seien ein zentrales Thema. Jeder Hubschraubereinsatz werde gefilmt. Jeder mit Waffeneinsatz sei zwei Stunden später beim COM ISAF.
Spezialeinsätze laufen alle im Partnering. Kein Einsatz, bei dem nicht Afghanen dabei seien. Grundlage seien afghanische Haftbefehle oder die mit den Hauptstädten abgestimmte Zielliste. Bei Operationen von Spezialkräften würden Zielpersonen möglichst gefangen genommen, gebe es Schusswaffeneinsatz nur, wenn nötig. Außer Gefecht gesetzt werden zwei- bis dreistellige Zahlen von Aufständischen. In einem Monat waren es 80. Spezialkräfte seien nicht die Mordkolonne, als die sie oft dargestellt würden.
(In den 90 Tagen vom 17.2.-18.5. wurden nach US-Quellen landesweit 1.478 Spezialoperationen durchgeführt. Dabei wurden 499 Aufständischen-Führer getötet bzw. gefangen genommen, 2.395 Aufständische gefangen genommen und 549 getötet. Lt. COM ISAF Campaign Overview Juni 2010 wurden in den zurückliegenden 90 Tagen im Raum Kunduz, Takhar und Baghlan bei 22 Operationen und 14 „Persons of Interest" 69 Gegner getötet und 51 gefangen genommen. Anthony Cordesman: AFG: Can Meaningful Transition Succeed? July 21 2011, www.csis.org)
Bestätigt wird die Meldung im Longwarjournal vom 7.4., wonach ISAF in mehren Nordprovinzen Ausbildungslager der Taliban und der IMU identifiziert habe. Ein solches Lager in Sar-i Pul existiere nun nicht mehr.
Die Aufklärung habe ergeben, dass die Stimmung bei den Aufständischen sehr unten sei. Aber die höheren, alle in Pakistan sitzenden Führer würden Druck machen.
Beunruhigend sei, wie schnell es Ersatz gebe, binnen Stunden und Tagen.
Insgesamt würden die Aufständischen behindert, aber nicht reduziert und in ihren Operationen verhindert.
(Nicht thematisiert wird die stark von Gerüchten bestimmte psychologische Lage auf Seiten der afghanischen Bevölkerung. Unklar ist für mich, wieweit ISAF und andere internationale Akteure die psychologische Lage überhaupt wahrnehmen (können) und diese in ihrer Kommunikation angemessen berücksichtigen.)
Sicherheitslage in Kunduz: Die Ausgangslage sei jetzt besser als 2010. Dass liege an der offensiveren Vorgehensweise, aber auch am Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF). Aber je mehr den Aufständischen an Raum genommen werde, desto mehr Selbstmordattentate gebe es. Dabei sei ISAF nicht der Hauptangriffspunkt. Auf afghanischer Seite wachse die Nervosität. Afghanische Verantwortungsträger seien angespannt.
Seit Januar gab es 18 sicherheitsrelevante Vorfälle überwiegend mit IED`s.
- Am 10.2. am Eingang der Distriktverwaltung CDR der Distriktgouverneur und sechs weitere Personen durch 16-jährigen Selbstmordattentäter getötet.
- Am 18.2, dem Tag, an dem im OP North in Baghlan drei deutsche Soldaten durch einen ANA-Soldaten erschossen und sechs verwundet werden, wird ein Schützenpanzer Marder der TF Kunduz nordwestlich des PRT erstmalig in Brand geschossen: zwei Treffer in der Panzerwanne mit Durchschlag in den Innenraum. Beteiligte Panzergrenadiere berichten mir, dass hier wohl stärkere Munition zum Einsatz gekommen sei. Man habe Glück im Unglück gehabt. Aber die Aufständischen hätten gezeigt, dass sie auch einen Marder vernichten können.
- Am 21.2. in der Distriktverwaltung Imam Shahib nördlich Kunduz ca. 30 Zivilpersonen durch Selbstmordattentäter getötet.
- Am 10.3. auf dem Markt von Kunduz Provinzpolizeichef mit drei Leibwächtern durch Selbstmordattentäter getötet.
- Am 18. März wird ein RCP von mindestens 70 kg Sprengstoff getroffen. Der Krater hat einen Durchmesser von vier Metern.
Task Force Kunduz
Sie wird im Wesentlichen von der Saarlandbrigade mit 650 Soldaten gestellt. Die 2. und 3. Kompanie waren auch 2008 hier im Einsatz.
Ihr Auftrag: (a) Die bisher erzielten Erfolge im Distrikt Chahar Darreh (CDR) durch die Operation „Aghas-e Bahar" halten und ausbauen, eigenen Einfluss Richtung Ali Abad erweitern; (b) Unterstützung der Polizeiausbildung in Feyzabad mit einer Infanteriegruppe; (c) Partnering mit ANSF. Das Operationsgebiet erstreckt sich über 35 km Nord-Süd und 27 km Ost-West im Raum westlich von PRT und Stadt Kunduz.
Im Juli 2010 war hier eine Aufständischenhochburg, war die eigene Bewegungsfreiheit eingeschränkt, agierten ISAF/Bundeswehr und ANSF aus der Defensive, während die Aufständischen expandierten. Im südlichen CDR bis 100 Mann, im nördlichen CDR ca. 120, nördlich davon ca. 200, insgesamt mehr als 500.
Änderungen bis Februar 2011: Die früheren no-go-areas sind nicht mehr, vollständige Bewegungsfreiheit, Agieren in der Offensive, keine Aufständische in den früheren Hochburgen und an den Versorgungsrouten. Ab Februar Beginn der Reinfiltration. Im März Selbstmordattentäter gezielt gegen VIP`s und Objekte der Regierung und ANSF, in CDR wieder erste IED`s gegen ISAF. In den ersten Aprilwochen hält dieser Trend an.
Man warte auf die Frühjahrsoffensive. Zzt. „machen wir die".
Feldwebel, die 2008 hier waren, sagen einhellig: Im Vergleich zu 2008 habe sich die Lage um 180° gedreht, „das Spiel gewendet".
Auch in den ehemaligen Hochburgen der Aufständischen sei die Reaktion der Bevölkerung positiv. Ihre Botschaft: „Wir arbeiten mit euch zusammen, wenn ihr unsere Sicherheit garantiert. Wenn aber nachts die Männer mit den Kalaschnikows kommen ...!?"
(Der ANSO QUARTERLY DATA REPORT Q. 1 2011 bestätigt diese erstmaligen Lichtblicke seit etlichen Jahren: Die Angriffe der bewaffneten Opposition gingen im 1. Quartal 2011 ggb. dem 1. Quartal 2010 in Kunduz von 79 auf 46 (-42%), in Baghlan von 35 auf 16 (-54%), in Takhar um 74% auf 5, in Sar-e Pul um 10% auf 19 zurück. Dem standen allerdings Zunahmen in bisher ruhigen Provinzen gegenüber: Jawzjian um 175% auf 33, in Badakhshan um 175% auf 11, in Balkh um 121% auf 31, in Fayab um 45% auf 55, in Samangan von 0 auf 2. The Afghanistan NGO Safety Office, www.afgnso.org)
Man ist sich bewusst, dass diese positive Entwicklung eine Momentaufnahme und noch kein Grund zur Beruhigung ist. Die Stunden der Wahrheit kämen im Sommer.
Das Partnering mit der ANA (1. Kandak) geht über das belgische OMLT. Dieses kann unabhängig operieren und wird ausdrücklich gelobt. Probleme macht das Selbstverständnis der ANA, die sich nur für die Clear-Phase, nicht aber die Hold-Phase für zuständig sieht. Dagegen laufe das Partnering mit der ANP täglich. Ihr Chef sei schon seit Jahren CDR. Die ANP habe in CDR ein gutes Ansehen.
Gliederung der TF: im Kern zwei Infanterie-Kompanien mit je einem Zug Panzergrenadiere (je vier Marder). Der 1. Kompanie sind drei Panzerhaubitzen 2000 zugeordnet (zwei im OP North Baghlan). Mit ihren werde fast der ganze Operationsraum abgedeckt. Beim (scharfen) Wirkungsschießen sei die Haubitze das dritte Mittel nach Luftwaffe und Hubschraubern. Seit Januar kein einziger scharfer Schuss. (Zum Vergleich: in Faryab im Nordwesten drei bis vier Mal pro Woche scharfer Mörsereinsatz)
Dislozierung: Vier Stützpunkte außerhalb des PRT - das ANP Headquarter in CDR, Höhe 432 (Gräben und Heskos, „wie 1. Weltkrieg"), J 92 (Zugang zur Westplatte, nur zeitweilig besetzt), Combat Outpost (COP) Quatliam (seit Januar). Die Soldaten sind jeweils zehn Tage und länger draußen, von 30 Tagen vielleicht acht im PRT. Der gewünschte Besuch von Minister Niebel im COP hätte 20 Mann zusätzlich erfordert und wurde deshalb abgelehnt.
Der gegenwärtige Einsatz bindet alle Kräfte fast durchgängig. Die Soldaten sind durch das hohe Operationstempo stark belastet - bei einer Stehzeit von inzwischen einem halben Jahr.
Kompaniechefs und Spieße der Saarlandbrigade: ´Wenn wir nichts machen, rutscht alles wieder weg. Eigentlich habe man zu wenig Kräfte für den Raum. Beide Task Forces seien voll gebunden. Man habe keine Reserve. Notwendig sei eine dritte TF als bewegliches Element.
In der am 13.4. von der ARD ausgestrahlten Dokumentation „Papi ist im Krieg" war auffällig, dass Soldaten ihren Angehörigen lieber nicht erzählen, was sie tun. Das gelte auch hier: Darüber rede man lieber nicht, das schaffe nur Unruhe.
COIN-Phasen: Nach dem CLEAR das HOLD: Um Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken und ein Wiedererstarken der Aufständischen zu verhindern, seien jetzt in CDR schnelle Aufbauprojekte vordringlich. Für diese brauche man gar nicht so viel Geld. Im Rahmen der Strukturen des National Solidarity Program vor allem Brunnen, Schottern von Straßen, Wasserspeicher. Das brauche zwei Monate Vorlauf und sei schnell abgeschlossen. Hierfür stehen AA-Gelder zur Verfügung. Die EZ-Durchführungsorganisationen brauchen wegen ihrer anderen Planungszyklen länger.
Operational Mentor and Liaison Team (OMLT)
(Der Kommandeur der 2. ANA-Brigade wurde inzwischen abgelöst. Beim Besuch im letzten August hatte ich den gut Deutsch sprechenden Ex-Kommandeur der Logistikschule in Kabul und Absolventen der Führungsakademie als Hoffnungsträger kennen gelernt.)
Im Juni 2006 wurde in Kunduz das erste deutsche OMLT in Dienst gestellt.
Auftrag der OMLT ist
-Â Â Â Â Â Â Â Â Ausbildung/Beratung
-        Verbindung/Führung
-        Planungsunterstützung
-        Führungsunterstützung
auf Korps-, Brigade-, Bataillons- und Kompanieebene. Alle sechs Wochen erfolgt eine Bewertung der ANA-Fähigkeiten.
Einsatzziel der OMLT ist, die Eigenständigkeit und Effizienz der ANA auf dem Weg zur Unabhängigkeit von ISAF zu erhöhen. Die OMLT seien ein wesentliches Element der Exitstrategie. In sie müsse viel mehr investiert werden.
Zzt. stellt die Bundeswehr 163 von den 308 Beratern in sieben OMLT bei der 2. Brigade. (Belgien 90, Ungarn 43, USA 12) Die 2. Brigade umfasst ca. 3.000 Soldaten in sechs Kandaks (Bataillonen), davon vier Infanterie-Kandaks. Bis Mitte 2011 soll ein fünftes Inf-Kandak dazu kommen. Die 2. Brigade ist für den ganzen Nordosten mit den Provinzen Kunduz, Baghlan, Takhar und Badakhshan mit jeweils einem Infanterie-Kandak zuständig.
Erst seit kurzem begleiten die dt. OMLT ihre ANA-Einheiten auch im Einsatz. Das sei eine entscheidende Voraussetzung für Lernbereitschaft.
Der ANA-Ausbildungszyklus geht über neun Monate, wird aber im Norden kaum einhalten. In der Vergangenheit ging es nach der Grundausbildung direkt in Operationen. Bisher standen Ausbildung und Operationen im Verhältnis 20:80.
Zur Operationsbegleitung stellt jedes dt. OMLT je zwei Kompanie-Teams für zwei Kompanien. (Ein Kompanie-Team besteht aus einer Fahrzeugbesatzung (v.a. Dingo), ein Doppelteam aus drei Fahrzeugen.) Mit anderen Worten: Nur die zwei jeweils wichtigsten Kompanien eines Kandak können begleitet werden. Die Mentoren müssen sich selbst schützen können, fahren z.T. auch auf den ANA-Fahrzeugen )(Pick-Ups) mit.
Um den Auftrag voll wahrnehmen zu können, wäre eine Verdoppelung der OMLT-Kräfte notwendig. Für die Bundeswehr hieße das eine Aufstockung von ca. 160 Mann. Erst damit sei man durchhaltefähig.
Beispiel: Begleitung der Operation Nawroz in Baghlan-i Jadid im Februar:
Der Auftrag war combat clearance operations, um neue Außenposten zu errichten.
In der gemeinsamen Planung entstand der Combined Operation Plan, den alle Beteiliogten unterschrieben. Bei zwei Shuren wurde er in Pol-e Khomri den einheimischen Autoritäten vorgestellt, zuletzt am 16. Februar. Botschaft an die Aufständischen sei gewesen: Entweder Aufgabe oder Kampf. Keine dritte Möglichkeit. Bei der zweiten Shura berichteten Älteste, dass Aufständische nicht aufgeben wollten. Die Ältesten drängten darauf, ja Zivilopfer zu vermeiden. Die Operation sollte am 19. Februar beginnen. Am 18. ereignete sich der Anschlag im OP North, dem drei dt. Soldaten zum Opfer fielen.
Die Operation wurde dennoch durchgeführt. Im Ergebnis wurde Raum genommen. Einige Aufständische seien getötet worden, ein Teil verschwand, andere wichen aus.
Die Wirksamkeit der OMLTs wird nicht nur durch den Kräftemangel beeinträchtigt: Die deutschen OMLT seien zusammengewürfelt aus 15 Dienststellen. Die einsatzvorbereitende Ausbildung der OMLT-Soldaten durch die NATO sei nach Teilnehmeraussagen mangelhaft: In Hohenfels sei es eine Katastrophe gewesen. Keine Zielgruppenanalyse, der US-Ausbilder war nie in einem OMLT. Ausgebildet werde überwiegend die militärische Seite. Die tiefgehende Andersartigkeit der afghanischen Soldaten finde kaum Beachtung. Schon die Unterschiede zu den US-Soldaten seien erheblich.
Hinderlich sei auch der dt. Vorschriften-Bürokratismus: zum Beispiel das grundsätzliche Verbot, gemeinsam mit den Afghanen zu essen. Man dürfe es nur mit Ausnahmegenehmigung - und werde dauernd eingeladen.
Einzelne OMLT-Soldaten äußern sich sehr kritisch zu den ANA-Soldaten: Es gebe viel Faulheit, Missgunst und Neid, ethnische Widersprüche. Auch Vorgesetzte würden nicht für Disziplin sorgen, Posten seien käuflich, Korruption verbreitet. Man wirft die Frage auf, ob beim Aufbau der ANSF nicht ähnliche Illusionen herrschen würden wie früher beim Statebuilding.
Auf jeden Fall brauche man eine erhebliche Frustrationstoleranz . Zentral seien respect & honour. Die US Green Berets seien genau auf eine solche dichte Ausbildung eingestellt.
ANA-Assessment, aktueller Status der 2. Brigade:
Von den sieben Stufen erreicht bisher keine Einheit die oberste (independent). Das 2. (Inf) Kandak erreichte die 2. Stufe (effective with advisors), ebenso die Kandaks Logistik/Sanität (CSS) und Garrison Support Unit (GSU), das 3. (Inf)Kandak erreichte gerade diese Stufe. Die 3. Stufe (effective with assistance) erreichen das Brigade Headquarter, das 1. und 6. (Inf)Kandak. (Die nächsten Stufen sind dependent on CF for success, established, not assessed.)
(Im April waren von insgesamt 158 ANA-Kandaks 56 Stufe 2 und 55 Stufe 3. Im Juli gab es zehn deutsche OMLT. Als erste ANA-Einheit in AFG erhielt Anfang Juli das GSU-Kandak die höchste Stufe „independent" zuerkannt.)
Reintegrationsprogramm
Berichtet wird von einem in einem Kader der Aufständischen in einem Unruhedistrikt im westlichen Badakhshan, der sich beim Gouverneur gemeldet habe.
(dpa-Reportage am 9.3.2011 von Can Merey „Überläufer in Kunduz - Taliban wechseln die Seiten". Allein in der Provinz Kunduz sollen nach Schätzungen zwischen 300 und 400 Taliban-Kämpfer übergelaufen sein. Lt. ISAF seien bis Anfang Mai 1.200 Ex-Kämpfer registriert, davon mehr als die Hälfte im Norden. In den meisten Provinzen seien inzwischen Friedensräte im Rahmen des „Afghan Peace and Reintegration Program" eingerichtet worden.)
PRT Kunduz am Morgen
Bei Kurzbesuchen brauche ich kaum Schlaf. Vor 6.00 Uhr spaziere ich durch das morgenstille Feldlager. Blanke Luft, blanker blauer Himmel. In einer Ecke des Camps fällt der Blick auf ein extra abgeschirmtes Lager mit auffällig großen Sattelitenschüsseln. Das riecht nach Spezialkräften. Auf dem nahen Flugfeld stehen fünf Hubschrauber, davon drei MedEvac. Daneben sechs Marder. Das sind auf einen Blick die gegenüber 2008 vervielfachten militärischen Fähigkeiten.
Weit zieht sich die Mauer mit Plattformen in Abständen. Blick auf`s Vorfeld: Hinter der Abbruchkante der Platte liegt die Landschaft im Morgendunst. Jede Minute zieht auf der Mauerpiste ein Jogger vorbei. Blick zurück auf das inzwischen riesige Feldlager mit seinen Antennen und Fahnen. Ein eigener Planet. Ich denke zurück an das kleine, primitive PRT Anfang 2004 inmitten der Stadt, umgeben von einer landesüblichen Lehmmauer, wo der gute Kontakt zu den Nachbarn als bester Schutz galt.
Alles liegt in tiefstem Morgenfrieden.
Zufallsbegegnung mit jungen Panzergrenadieren aus Augustdorf bei ihrem Frühstück, Kaffee mit Fladenbrot. Vor ihrem Unterkunftsgebäude hängen an einer Ziegelmauer sieben Kreuze mit den Namen von sieben Gefallenen. Darüber „In ewiger Treue". Robust sprechen sie mich an, diesen Überraschungsbesucher aus der fernen und verdächtigen Politik. Ob die Politiker denn überhaupt wüssten, was hier laufe? Ob ich wüsste, was am 18. Februar passiert sei. Zwei von ihnen waren bei dem Angriff auf den Marder dabei. Vermutet wird, dass da eine besondere Munition gegen den Marder zum Einsatz gekommen sei.
Der Morgenfrieden wird zu einem schönen Moment, einer dünnen Haut, die einige Kilometer weiter jederzeit zerplatzen kann - für die Jung`s vielleicht in ein paar Stunden.
Am Abend zuvor gab es einige Hubschrauberbewegungen. Irgendwo sollen Aufständische hochgenommen worden sein. (Vielleicht war es die von ISAF gemeldete Gefangennahme eines Top-Kommandeurs der Islamic Movement of Uzbekistan/IMU mitsamt zwei Kämpfern durch ein Special-Operations-Team von Koalitionstruppen und ANSF in Khanabad/Kunduz)
Die Tage danach draußen im Einsatz schildert ein stellv. Zugführer der TF Kunduz, ein Hauptfeldwebel der Fallschirmjäger aus Zweibrücken, in seinem „Einsatztagebuch", dessen 5. Folge in „Loyal" 6/11 erscheint.
Zusammenfassung und Nachtrag drei Monate später
Beim Besuch in Nord-AFG im August 2010 waren erste Wirkungen des gesteigerten Kräfteansatzes und der offensiveren Operationsweise erkennbar. In Nord-Baghlan konnte die dt. QRF, übergegangen in die Task Force Mazar, mit ANSF und US-Kräften Aufständische zurückdrängen. Diese Linie setzte sich im November und Dezember 2010 fort, als Aufständische aus ihren Hochburgen in Chahar Darreh und Imam Sahib/Kunduz verdrängt wurden. In no-go-areas von 2009/2010 konnten seit Jahreswende Initiative und Bewegungsfreiheit zurück gewonnen werden. In den ersten Monaten des Jahres geschahen keine komplexen Angriffe auf ISAF mehr. Dass das Mobilfunknetz in der Provinz Kunduz seit Anfang Januar wieder rund um die Uhr aktiv ist, nachdem die Taliban im Frühjahr 2010 seine Abschaltung während der Dunkelheit erzwungen hatten, war ein wichtiger Indikator.
Diese seit Jahren erstmaligen Lichtblicke wurden bekräftigt bei unserem Kurzbesuch im April und bestätigt durch den ersten Quartalsbericht 2011 von ANSO. (s.o.)
Lt. UNAMA nahm die Zugänglichkeit von Distrikten für öffentliche Bedienstete landesweit im Mai 2011 erstmalig seit März 2009 wieder etwas zu. (PPU Blue Sky Paper 014) Im Nordosten galten knapp 40 der Distrikte als 100% zugänglich, 26 zu 80-99%, weniger als 5 unter 50%.
Zugleich verstärkte sich aber der Taktikwechsel der Aufständischen hin zu IED- und Selbstmordanschlägen insbesondere gegen afghanische Autoritäten.
Inzwischen sind mehr als drei Monate vergangen, ist der Sommer als „Stunde der Wahrheit" da: Was bleibt von den Teilerfolgen vom Jahresanfang? Wieweit schlagen sich die taktischen Wenden zum Besseren auch auf der strategischen Ebene nieder?
In der 28. KW (ab 11.7.2011) ereigneten sich landesweit 657 Sicherheitsvorfälle (2010 780), davon 13 im Norden (23), 251 im Osten (144). In der 27. KW (ab 4.7.) 653 (767), N 12 (37), O 263 (217).
Besondere Sicherheitsvorfälle im dt. Hauptverantwortungsbereich:
- Nacht zum 18.5. in Takhar bei Einsatz von ANSF und ISAF zwei Männer und zwei Frauen getötet. Gegensätzliche Bewertungen: Lt. ISAF seien es Aufständische gewesen, aus lokaler Sicht Zivilpersonen. Am 18.5. in Taloqan nach Trauerfeier für die Getöteten Demonstration von bis zu 3.000 Personen. Brandsätze und Handgranaten auch gegen das Provincial Advisory Team, das sich mit Schusswaffeneinsatz verteidigt. Insgesamt 12 Tote und ca. 80 Verletzte. Mitarbeiter von UN-Organisationen und GIZ werden abgezogen.
- 25.5. 14 km nordwestlich vom PRT Kunduz in CDR Hauptmann Markus Matthes durch IED gegen Fuchs getötet.
- 28.5. im Dienstsitz des Gouverneur von Takhar in Taloqan nach hochrangigem regionalem Sicherheitstreffen IED-Anschlag: sieben Tote, darunter der Polizeichef der Nordregion General Daud Daud, der Polizeichef der Provinz, Major Thomas Tholi aus dem Stab von General Kneip und sein Personenschützer, Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein. Unter den Verwundeten Provinzgouverneur Abdul Dschabar Taqwa, Generalmajor Markus Kneip, eine deutsche Sprachmittlerin, vier Bundeswehrsoldaten und mehrere Afghanen. Der Gouverneur gilt als sehr bürgernah. General Daud begegnete ich erstmalig im Januar 2004 in Kunduz, Major Tholi im Sommer 2006 in Mazar.
- 2.6. in Baghlan OStGefr Alexej Kobelew in Schützenpanzer Marder durch IED getötet, fünf dt. Soldaten verwundet. Die > 250 kg Sprengstoff haben den Marder 1A5 (modernste Version) auseinandergerissen.
- 10.6. in Kunduz bei Trauerfeier für General Daud vier Polizisten durch Selbstmordattentäter getötet.
- 24.6. in Khanaba/Kunduz fünf Zivilpersonen und ein Polizist durch Selbstmordattentäter getötet.
Im Zwischenbericht Juli 2011 zum Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages heißt es:
„Diese Anschläge sind keineswegs Ausdruck der Stärke, sondern eine Reaktion auf den unvermindert hohen militärischen Druck, dem die Insurgenz durch ISAF und ANSF ausgesetzt ist. So betrachtet ist die angekündigte „Frühjahrsoffensive" der Taliban bisher ein Fehlschlag, da letztendlich keiner der durch die Regierung gewonnenen Distrikte zurückerobert werden konnten." Auch wenn richtigerweise auf den temporären und lokalen Charakter der verbesserten Sicherheitslage hingewiesen wird, ist die Wendung „keineswegs Ausdruck von Stärke" eher eine Selbstberuhigungsformel, wie sie in letzten Jahren vor allem im ISAF Headquarter immer wieder zu hören war.
Die Aufständischen sind nur in der direkten Konfrontation, vor allem bei Luftunterstützung, krass unterlegen. Diese partielle taktische Unterlegenheit scheinen sie aber durch ihren  Taktikwechsel - Verlagerung auf „weiche" afghanische und spektakuläre „Hochwert"ziele, räumliches Ausweichen - mindestens kompensieren zu können.
Der strategisch relevante Maßstab ist die Sicherheit des Umfeldes für Bevölkerung und staatliche Vertreter. Und hier scheinen die einzelnen Lichtblicke der ersten Monate des Jahres nicht mehr durch:
Der ANSO-Bericht für das 2. Quartal 2011:
Landesweit nahmen die Angriffe der bewaffneten Opposition im 2. Quartal im Vergleich zum Vorjahrszeitraum um 42% auf 7.178 zu. Gegenüber dem 2. Quartal 2009, dem Beginn der großen US-Verstärkung, ist das ein Anstieg um 119%! Die Zahl der Ziviltoten sei im selben Zeitraum um 106% gestiegen auf über 1.800 im ersten Halbjahr 2011. ANSO Director Nic Lee konstatiert: „By all measures, Afghanistan is a more violent country today than it was in 2009."
Der „Afghanistan Midyear Report on Protection of Civilians in Armed Conflict" von UNAMA vom 17. Juli kommt wohl zu einer niedrigeren, aber immer noch extremen Zahl von Ziviltoten im ersten Halbjahr 2011: 1.462 Menschen, zu 80% verursacht von den Aufständischen (+28%), zu 14% von den Pro-Regierungskräften (-9%).
49% der Ziviltoten wurden durch IED`s und Selbstmordattentäter bewirkt, 21% durch Bodenkämpfe, 13% durch Targeted Killings der Aufständischen, 5% bei Luftschlägen der Alliierten (hiervon 56% durch Apache-Hubschrauber).
Die ggb. 2010 ungefähr gleich bleibende Zahl an Selbstmordattentätern bewirkte 52% mehr Opfer. Zunehmend werden Kinder als Selbstmordattentäter rekrutiert. Am 1.5. fielen in Paktika einem 12-Jährigen drei Menschen zum Opfer, 12 wurden verletzt. Fast zwei Drittel der IED`s funktionieren mit Druckplatten - und wirken de facto wie Antipersonenminen. UNAMA erinnert daran, dass die Taliban 1998 den Einsatz von Antipersonenminen als „unislamisch und unmenschlich" bezeichnet und gebannt hätten.
Das Targeted Killing der Aufständische zielt auf Provinz- und Distriktgouverneure, Mitglieder von Provinzräten und Friedensräten, Polizeichefs, Stammesälteste und ausstiegswillige Kämpfer.
Neu ist, dass inzwischen auch Krankenhäuser angegriffen wurden: Am 21. Mai ein Militärhospital in Kabul mit sechs getöteten Medizinstudenten und 23 Verletzten, am25. Juni ein Zivilhospital in Azra/Logar, wo ein Selbstmordattentäter 20 Menschen tötete, darunter 13 zum Impfen anstehende Kinder, und 43 verletzte.
Insgesamt hätten die Taliban ihre vielen Erklärungen zur Reduzierung von Zivilopfern nicht in die Tat umgesetzt.
Auffällig ist, wie wenig diese systematischen Verletzungen des humanitären Völkerrechts und entgrenzte Gewalt seitens der Aufständischen in der hiesigen Öffentlichkeit und gerade auch unter Einsatzgegnern zur Kenntnis genommen wird.
Im Juli übergab ISAF in Mazar, Herat, Lashkar Gah (Helmand), Metherlam (Laghman), Bamyan und Panshir die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden. ANSO verweist auf die weniger durch die Sicherheitslage gerechtfertigten, sondern vor allem politisch motivierte Übergaben von Lashkar Gah und Metherlam: Hier haben sich die Angriffe der Aufständischen seit 2009 verdoppelt.
Trotz des enormen Einsatzes der letzten Jahre und der vielen eigenen Opfer sind ISAF und ANSF insgesamt der Erfüllung ihres Kernauftrages „Schutz der Bevölkerung" nicht näher gekommen, im Gegenteil.
Vor diesem Hintergrund wachsen Zweifel, wie und ob eine verantwortbare, schrittweise Ãœbergabe der Sicherheitsverantwortung geschafft werden kann.
Umso drängender ist die Suche nach politischen Arrangements und Lösungen.
Weitere Berichte und Stellungnahmen:
-         Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan - von der Stabilisierung zur Aufstandsbekämpfung, in: Jahresschrift des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr/SOWI (erscheint im Herbst)
-         11. September bis 22. Dezember 2001 - Von New York nach Afghanistan aus Berliner Sicht, Persönliche Aufzeichnungen von W.N., August 2011
-         GENAUER HINSEHEN: (1) Sicherheitsvorfälle AFG-Nord Aug. 2010 - Anfang Mai 2011; (2) Sicherheitsvorfälle AFG landesweit, derselbe Zeitraum
-         Reisebericht: Aufbau im Schatten von Guerillakrieg und Aufstandsbekämpfung - Dt. Afghanistan-Engagement vor dem zehnten Einsatzjahr, Bericht von meiner 15. AFG-Reise im August 2010
-         Better News statt Bad News aus Afghanistan, Folge VIII erscheint in Kürze
(alles unter www.nachtwei.de)
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: