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Erinnerungsarbeit + Bericht von Winfried Nachtwei
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8./9. Mai "Tag der Befreiung" der Völker Europas und Deutschlands vom Naziterror - halbierte Erinnerung?

Veröffentlicht von: Nachtwei am 9. Mai 2021 18:17:33 +01:00 (25872 Aufrufe)

Bei der 8. Mai-Initiative Bottrop berichtete ich am 8. Mai in einem Webinar über einen Ausschnitt des deutschen Vernichtungskrieges im Osten, den Judenmord in Riga, und die Erinnerungsarbeit dazu vor allem durch das 2000 gegründete Deutsche Riga-Komitee. Besonders ging ich dabei auf Margers Vestermanis ein, der als einziger seiner Familie drei Jahre Ghetto und KZ überlebte, der dann ab August 1944 als Partisan zur Befreiung Europas beitrug und heute vor 76 Jahren seine Befreing erlebte. Seit Jahren fällt mir auf, dass dieser fundamentale Gedenktag hierzulande wenig Beachtung findet - und friedens- und sicherheitspolitische Erfahrunge und Lehren oft nur halbiert zur Sprache kommen. Zum Beispiel bei einer Demo gegen "Defender Europe 21" im Münsterland.

8./9. Mai „Tag der Befreiung“ der Völker Europas und

Deutschlands vom Naziterror –halbierte Erinnerung?

Winfried Nachtwei[i], 9. Mai 2021

(Fotos www.facebook.com/winfried.nachtwei  )

Seit 1980 begeht die „8. Mai-Initiative Bottrop“ den Gedenktag. Nach dem Gedenken an der Gedenktafel am Bottroper Rathaus mit Oberbürgermeister Bernd Tischer war ich eingeladen, in einem Webinar über das Riga-Komitee und seine Erinnerungsarbeit  zu den 25.000 Jüdinnen und Juden zu berichten, die 1941/42 von den Nazis in das Ghetto Riga deportiert worden waren. Aus Bottrop waren neun jüdische Menschen mit dem Dortmunder Transport am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert worden. Am 27. Januar 2019 trat Bottrop dem Städtebündnis als 60. Stadt bei.

Eine zentrale Person in dem bebilderten Vortrag war Margers Vestermanis, dem ich 1989 zum ersten Mal in Riga begegnet bin. Als 16-Jähriger war er im Herbst 1941 von den deutschen Besatzern mit seiner Familie ins das Ghetto gesperrt worden. Sein älterer Bruder, ein Konzertpianist wurde im Oktober erschossen, sein Vater, seine Mutter und seine Schwester am 8. Dezember 1941, dem nach dem 30. November zweiten Tag der Vernichtung des lettisch-jüdischen Ghettos, als insgesamt über 26.000 Menschen ermordet wurden. Er überlebte zwei Jahre und konnte im Juli 1944 aus einem Todesmarsch des SS-Seelagers Dundangen in Kurland entkommen.

Mit der Öffnung der Erinnerung im unabhängigen Lettland konnte der Historiker seit den 1990er Jahren endlich ungehindert zum Judenmord in Lettland arbeiten, publizieren und das Museum „Juden in Lettland“ aufbauen. Zahllose Besuchergruppen, viele davon aus dem Riga Komitee, erlebten ihn und werden die Begegnungen mit ihm nie vergessen.

Zum Schluss meines Vortrages zeigte ich ein Bild des 19-jährigen Margers Vestermanis aus dem Mai 1945 mit seinem Bajonett. Der ehemalige Ghetto- und KZ-Häftling gehörte zu denjenigen, die die  angegriffenen und terrorisierten Völker Europas von den Wehrmacht, der SS, den Nazis befreiten.

Nach seiner Flucht im Sommer 1944 gaben ihm arme Bauern zu essen und alte Kleidung. Über Bauern kam er zu einer antifaschistischen Partisanengruppe der „Waldbrüder“, zu der auch aus deutscher Gefangenschaft entflohene Sowjetsoldaten  und ein deutscher Deserteur gehörte – der Obergefreite der Luftwaffenartillerie Egon Klinke. Egon und Margers wurden gute Kameraden.

Seit Oktober waren die 16. und 18. Armee der deutsche Heeresgruppe Nord im Kurland-Kessel von der Rote Armee eingeschlossen, Am 26. Dezember wurde Margers` 27-köpfige Einheit von Wehrmachtssoldaten, die die Wälder durchstreiften, umzingelt und bis auf ihn, Egon und einen dritten vernichtet. In der Neujahrsnacht verlor Margers seinen Freund Egon durch eine Handgranatenexplosion. Danach schlug er sich – so seine Worte – als „bewaffneter Partisaneneinzelgänger“ in den Wäldern von Kurland durch, ohne Dokumente immer auf der Hut vor deutschen wie sowjetischen Truppen.

Am Nachmittag des 9. Mai kam er bei der Kreisstadt Talsi/Talsen mit der Waffe in der Hand aus dem Wald. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches zogen Massen an deutschen Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft an ihm vorbei, jeder zweite, dritte am Stock. (Insgesamt mehr als 200.000 deutsche Gefangene)

(Vgl. „Der letzte jüdische Partisan“ von Lorenz Hemicker in der FAZ vom 26.11.2017

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/der-letzte-ueberlebende-des-ghettos-in-riga-15302933.html )

76 Jahre später, am Nachmittag des 9. Mai 2021 rufe ich Margers Vestermanis in Riga an und berichte ihm, dass ich ihn bei einer 8. Mai-Veranstaltung als 19-jährigen gerade Befreiten gezeigt hätte, als einen, der zur Befreiung Europas beigetragen hätte. Der 95-jährige „letzte jüdische Partisan“ (FAZ) ist freudig überrascht über den Anruf auf die Stunde genau, erzählt vom Nachmittag des 9. Mai 1945  – und berichtet dann von seinem bald fertigen großen Buch über Judenretter in Lettland: 469 machte er ausfindig, Und es gebe 200 weitere Gerettete, von denen die Retter nicht bekannt seien.

Halbierte Erinnerung?

Im Mikrokosmos meiner Medienwahrnehmung (vier Tageszeitungen, Zeit. Spiegel, Internet) verstärkt sich seit einigen Jahren mein Eindruck, dass der 8./9. Mai in der sonst relativ entfalteten deutschen Erinnerungskultur eine ziemlich untergeordnete Rolle spielt und sich oft in Kranzniederlegungen erschöpft. Gelegentlich wird die Forderung erhoben, den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu machen. In Reden dominieren die Aufrufe gegen Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und für Erinnern, Verständigung, Entspannung. Das ist so richtig wie unvollständig.

Ausgeblendet bleiben sehr oft elementare friedens-und sicherheitspolitische Erfahrungen und Lehren. Kaum mal ist die Rede davon, dass die meisten Staaten in den 1930er Jahren das Aggressionspotential Nazi-Deutschlands fürchterlich unterschätzt hatten und deshalb ab 1939 gnadenlos besetzt werden konnten. Kaum mal wird offen benannt, dass nach versäumter Kriegsprävention der hochprofessionelle deutsche Staatsterrorismus nur militärisch unter höchsten Opfern besiegt und Europa befreit werden konnte. 13 Millionen Sowjetsoldaten, 407.000 US-Soldaten, 270.0000 britische und 210.000 französische Soldaten verloren dafür ihr Leben.

Dass daraus bei den meisten europäischen Nachbarn als eine erste Lehre „Nie mehr wehrlos, nie mehr allein“, also gemeinsame Sicherheit erwuchs, liegt eigentlich auf der Hand. Ihren Niederschlag fand diese fundamentale Lehre in der UN-Charta, der europäische Integration, den Bündnissen im Westen und Osten.  Dass diese sicherheitspolitische Lehre auf UN- und EU-Ebene einherging mit tatsächlicher Verständigung, Kooperation und Partnerschaft, gehört zu den historischen Großleistungen der Nachkriegsgeneration.

In diesem Jahr sehe ich nur in der taz eine zweiseitige Reportage zu den sowjetischen Ehrenmalen in Berlin. In der Schlacht um Berlin sind allein 80.000 Soldaten der Roten Armee gefallen. In der FAZ und SZ jeweils nur kurze Meldungen zum Aufruf des Bundespräsidenten, die Erinnerung an die NS-Verbrechen wachzuhalten. In meiner Lokalzeitung Westfälsche Nachrichten  nur ein Hinweis auf eine Radtour zu Erinnerungsorten an den 2. Weltkrieg. In der Dülmener Zeitung findet sich am 8. Mai nichts zum Gedenktag, sondern nur der Aufmacher mit der Überschrift „Sand im Getriebe des Militärs“. Ausführlich berichtet wird von einer Protestdemonstration der DFG-VK und der „Dülmener Friedensfreunde“ an einem US-Depot gegen das NATO-Manöver „Defender Europe 2021“, das von den Rednern als „Provokation“ und „aggressive Kriegsvorbereitung“ gegen Russland gebrandmarkt wird – bei großem Verständnis für die darauf nur „reagierende“ russische Politik. Am Vortag des 8. Mai fällt kein Wort zum bevorstehenden Tag der Befreiung, in Dülmen am 29. März 1945 durch britische und polnische Truppen.

( https://nrw.dfg-vk.de/nrw-unsere-themen-eu-nato-nachrichtenleser/defender-2021-stoppen )

Zum diesjährigen 76. Jahrestag des Kriegsendes in Europa zeichnete  Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 7. Mai drei Frauen und drei Männer mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aus. Sie hätten sich in herausragender Weise für die Erinnerungsarbeit engagiert, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gefördert, sich für ein tolerantes Miteinander in unserer Gesellschaft und für die Verständigung in Europa eingesetzt. Ein Kernsatz zum 8. Mai lautete:

„Heute bekennen wir Deutsche uns zu diesem 8. Mai 1945 als einem Tag der Befreiung. Die Alliierten aus dem Westen und aus dem Osten haben uns, haben den gesamten Kontinent von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten befreit. Und dafür sind wir ihnen zutiefst dankbar.“ ( https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/05/210507-OV-Jahrestag-Kriegsende.html )

Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte davor, gedanklich einen Schlussstrich zu ziehen. Es bleibe die immerwährende Verantwortung, die Erinnerung an die Millionen von Menschen wachzuhalten, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Leben verloren hätten, erklärte Merkel nach Angaben von Regierungssprecher Seibert. Der 8. Mai 1945 sei ein Tag der Befreiung gewesen. Er bedeutete das Ende der NS-Diktatur und des Zivilisationsbruchs der Shoah.

Berlin und Brandenburg erinnerten an diesem Wochenende mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 76 Jahren.

In Berlin sind neben Kranzniederlegungen wegen der Corona-Krise auch digitale Gedenken geplant. An den Sowjetischen Ehrenmalen in Buch und Niederschönhausen wurden am Samstagvormittag Blumen und Kränze niedergelegt.

Das Brandenburger Tor wurde mit einer Lichtinstallation angestrahlt, die das Wort "Danke" auf den Sprachen der Alliierten zeigte. Am Sonntag gab es Kranzniederlegungen an den Sowjetischen Ehrenmalen im Tiergarten und im Treptower Park.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge veranstaltete eine Gedenkwoche  vom 3. bis 9. Mai zu 76 Jahren Kriegsende. Den Auftakt bildete unter dem Motto „Was die Kriegsenkel bewegt“das  virtuelle Filmgespräch „Der Krieg in mir“.

https://www.volksbund.de/nachrichten/innerer-krieg-und-frieden

„Krieg und Holocaust – Der deutsche Abgrund“, neue zehnteilige, HERVORRAGENDE Doku auf ZDFInfo und in der Mediathek, sehr hilfreich gegen jede Spielart von Geschichtsvergessenheit, verfügbar bis 07.05.2031:   https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/krieg-und-holocaust-der-deutsche-abgrund-100.html

Teil 6 „Flächenbrand 1936-1940“ (45 Min.) zur krassen Aufrüstungs- und Kriegspolitik unter Hitler, im Ausland verkannt und hingenommen, viel Zustimmung im Innern, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/krieg-und-holocaust-der-deutsche-abgrund-flaechenbrand-1936-1940-100.html

Teil 7 „Tor zur Hölle 1941-1942“, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/krieg-und-holocaust-der-deutsche-abgrund-tor-zur-hoelle-1941-1942-100.html

Teil 8 „Völkermord 1943-1944“, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/krieg-und-holocaust-der-deutsche-abgrund-voelkermord-1942-1944-100.html

Warum die Doku „Krieg und Holocaust“ sehenswert ist“, FAZ 08.05.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/warum-die-doku-krieg-und-holocaust-sehenswert-ist-17331365.html



[i] Mitglied im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und Deutsche Gesellschaft für die Vereinte Nationen,, im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, MdB 1994-2009, AG Gerechter Friede von Justitia et Pax

 

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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