Fast 50 Jahre war das Schicksal der 1941/42 aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakeit nach Riga deportierten, über 25.000 jüdischen Menschen weitgehend unbekannt. Vor 20 Jahren gründeten 13 Herkunftsorte der Deportationen, darunter Münster, Osnabrück und Bielefeld, in Berlin das Dt. Riga-Komitee. Jetzt lud Berlin zum inzwischen 5. Symposium des Riga-Komitees nach Berlin ein - den "Ort der Täter". Dazu ein Bericht.
5. Symposium des Deutschen Riga-Komitees in Berlin:
„Ort der Täter. Vom schwierigen Umgang mit der eigenen Geschichte“
Winfried Nachtwei, 03.10.2020
VertreterInnen von mehr als 30 Mitgliedsstädten des Deutschen Riga-Komitees trafen sich auf Einladung der Stadt Berlin am 24./25. September 2020 im „Roten Rathaus“ zum inzwischen 5. Symposium des Komitees. 20 Jahre zuvor war das Riga-Komitee in Berlin als Zusammen-schluss der Städte gegründet worden, aus denen ab Ende November 1941 bis Oktober 1942 in Zügen der Reichsbahn über 25.000 jüdische Menschen in das „Reichsjudenghetto“ Riga deportiert worden waren. Es waren sieben Transporte aus Berlin, je einer ausNürnberg/Würzburg/Bamberg, Stuttgart, Hamburg/Lübeck/Kiel, Köln, Kassel, Düsseldorf, Münster/Osnabrück/Bielefeld, Hannover, Leipzig, Dortmund, vier Transporte aus Wien, drei aus Theresienstadt - und im Juni 1944 rund 5.000 ungarische Jüdinnen aus dem KZ Auschwitz.
Das bundesweit einmalige Erinnerungsnetzwerk ist von damals 13 auf heute 64 Mitglieds-städte angewachsen. Wegen der Corona-Pandemie war die Teilnehmerzahl strikt auf 60 begrenzt, so dass etliche Städte und Interessierte nicht teilnehmen konnten.
Das Symposium stand unter dem Thema „Ort der Täter. Vom schwierigen Umgang mit der eigenen Geschichte.“
Herzlich zu danken ist den vorzüglichen Organisator*innen und Helfer*innen des Symposiums:
Thomas Rey, dem Verantwortlichen im Hauptstadtbüro des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge für das Riga-Komitee, mit seinen Mitarbeiter*innen;
Dr. Ute Herdmann, Leiterin der Abteilung III (Europa, Denkmal, Religion und Weltanschauung) in der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, und ihren Mitarbeiter*innen.
Programm des 5. Symposiums des Deutschen Riga-Komitees
Donnerstag, 24. September 2020
13:30 Uhr Eintreffen der Teilnehmer*innen GRUPPE A (20 Personen) im Berliner Rathaus, Mittagessen in der Kantine (Menü)
14:00 Uhr Eintreffen der Teilnehmer*innen GRUPPE B (40 Personen)
14:30 Uhr Offizielle Begrüßung der Teilnehmer*innen im Wappensaal des Roten Rathauses, Dr. Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa. Erwiderung Wolfgang Wieland, Stellv. Präsident des Volksbundes
14:45 – 15:45 Uhr Impuls/Vortrag „Was kann Gedenken heute leisten?“ Prof. Dr. Wolfgang Benz, TU Berlin – anschl. Diskussion Pause
16:00 – 17:30 Uhr Spaziergang (ca. 700 m) zur Rosenstraße Besichtigung der Litfaßsäule und der Skulptur »Block der Frauen« 1995 von Ingeborg Hunzinger – Führung Marie Rolshoven, Mitbegründerin der Berliner Gedenk-Initiative „Denk Mal am Ort“ ( https://www.denkmalamort.de/ )
18:00 – 19:30 Uhr Abendveranstaltung
Grußwort Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes
Vortrag „Die Verbindung nach Osteuropa: Deutsche Verbrechen und deutsche Juden im östlichen Europa zwischen Geschichte und Erinnerung“, Prof. Dr. Dieter Pohl, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt / Podium mit Michaela Küchler, Botschafterin AA und Vorsitzende der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken (IHRA),Dr. Klaus Lederer, Moderation Uwe Neumärker, Stiftung Denkmal
19:30 Uhr Empfang Begrüßung Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin Ort: Berliner Rathaus (der Staatssekretär für Europa Gerry Woop vertrat den kurzfristig verhinderten Regierenden Bürgermeister)
Freitag, 25. September 2020
09:00 – 09.30 Uhr Abfahrt zum Haus der Wannseekonferenz – direkt vor dem Rathaus
10:00 Uhr (Aufteilung in vier Gruppen) Gruppen besuchen jeweils allein die neue Ausstellung in der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz Jede Gruppe bekommt eine etwa halbstündige Einführung mit der Möglichkeit Fragen zu stellen (innerhalb der Zeit wechseln sich die Gruppen jeweils ab) spätestens
12:00 Uhr Abfahrt in Richtung Mahnmal Gleis 17, S-Bahnhof Grunewald (von hier fuhr am 27. November 1941 der erste Deportationszug aus Berlin in das deutsch-besetzte Riga. Der Zug traf dort am Morgen des 30. November ein. Seine 1.035 Gefangenen wurden alle im Wäldchen von Rumbula erschossen, vor der Erschießung von 15.000 Gefangenen des lettisch-jüdischen Ghettos von Riga)
ca. 12:30 Uhr dort Gruppe 1 Einführung durch Frau Dr. Susanne Kill, Konzerngeschichte/ Historische Sammlung Deutsche Bahn AG Berlin Gruppe 2 Imbiss am S-Bahnhof Grunewald, (nach ½ Stunde wechseln sich die Gruppen jeweils ab)
anschl. 13:30 Uhr Weiterfahrt
14:00 – 15:30 Uhr Gruppe 1 gemeinsame Diskussion mit Frau Dr. Andrea Riedle, Direktorin Stiftung Topographie des Terrors, zum Thema – Vom schwierigen Umgang mit der eigenen Geschichte (Wechsel nach 45 Minuten) Gruppe 2 – unterteilt in 3 Kleingruppen, jeweils geführte Einführung in Ort und Ausstellung in der Topographie des Terrors
Folgende Herkunftsorte von nach Riga Deportierten nahmen an dem Symposium teil:
Ahlen, Berlin, Bielefeld, Billerbeck, Bocholt
Borken, Bottrop, Bremen, Bünde, Coesfeld
Datteln, Dortmund, Drensteinfurt, Dresden, Fürth
Gelsenkirchen, Gescher, Gronau, Gütersloh, Hannover
Heek, Kassel, Kiel, Krefeld, Leipzig
Lemgo, Leverkusen, Lübeck, Magdeburg, Marburg
Münster, Nürnberg, Oberhausen, Osnabrück, Paderborn
Recklinghausen, Würzburg
(noch nicht überprüft)
Bericht zum Symposium auf der Website des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge:
„Der Umgang mit den Tätern fällt schwer - Deutsches Riga-Komitee diskutiert beim 5. Symposium in Berlin und besucht Orte der Erinnerung, von Diane Tempel-Bornett, Pressesprecherin des Volksbundes, 25.09.2020
https://www.volksbund.de/meldungen/aktuelles-artikel/news/mit-den-taetern-tun-wir-uns-schwer.html
Ergänzung zum Plädoyer von Prof. Wolfgang Benz für ein Dokumentationszentrum,
das an die zivilen Opfer deutscher Besatzung in Europa insgesamt erinnert:
„Dokumentationszentrum zum Vernichtungskrieg
An die deutsche Besatzungsherrschaft erinnern - mit europäischer Mission
Über die Denkmäler hinaus: Berlin braucht ein Dokumentationszentrum, das an die deutsche Besatzung und deren Folgen in ganz Europa erinnert. Ein Plädoyer von Wolfgang Benz
Ein Denkmal für die polnischen Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Zweiten Weltkrieg, ein Gedenk- und Informationsort für alle Ermordeten, Verschleppten und Gefallenen im Osten - oder in ganz Europa? Seit Jahren wird in der Berliner Politik und unter Historikern und Historikerinnen über einen Weg gestritten, wie die offensichtlichen Lücken in der Erinnerungskultur geschlossen werden können.
Jetzt haben die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und das Deutsch-Polnische Institut einen gemeinsamen Kompromissvorschlag entwickelt. Der Historiker Wolfgang Benz stellt ihn hier vor.
Wolfgang Benz ist Beiratsvorsitzender der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und unterstützt gemeinsam mit Rita Süssmuth, der Beiratsvorsitzenden des Deutsch-polnischen Instituts, den Kompromissvorschlag für ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft. Benz’ Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus einem Themenheft der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zur deutschen Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg 1939–1945, das Mitte September erscheint. (…)“
Mitteilungen und Ankündigungen
- Am 7. September starb in New Jersey/USA Prof. em. Dr. Gertrude Schneider im Alter von 92 Jahren. Sie war im Januar 1942 als 13-Jährige zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester von Wien nach Berlin deportiert worden. Anfang November 1943 wurde die Familie in das KZ Kaiserwald verbracht, im August 1944 schafften die Nationalsozialisten die Familie mit Schiffen über die Ostsee nach Danzig und von dort weiter in das KZ Stutthof.
Beim 1. Welttreffen der Lettischen Juden im Juni 1993 in Riga erlebte ich Gertrude Schneider zum ersten Mal, wie sie aus persönlicher Erfahrung und als Historikerin lebhaft von den eingebrannten Ghetto- und KZ-Tagen, -Monaten, -Jahren berichtete, das Unvorstellbare ganz nahe brachte und bleibende Erinnerung weckte. Sie wirkte bei der Gründung des Deutschen Riga-Komitees im Mai 2000 in Berlin und bei der Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki in Riga mit. Als Stimme der deutschsprachigen Überlebenden des Rigaer Ghettos erreichte sie,
besonders viele Menschen in Österreich, Deutschland und weltweit. In besonders herzlicher Weise unterstützte sie die Erinnerungsarbeit der Wolfgang-Suwelack-Stiftung in Billerbeck im Münsterland, wo die Realschule nach den Geschwistern Rolf-Dieter und Eva Eichenwald genannt wurde, die im Dezember 1941 als Fünf- und Vierjährige nach Riga deportiert worden waren. Nachruf des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozia-lismus: https://www.nationalfonds.org/meldung/nachruf-auf-gertrude-schneider ; „Erinnerungsstücke“: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1659
- Die Ausstellung „Bikernieki – Wald der Toten“, die in vielen Mitgliedsstädten des Riga-Komitees zu sehen war, wird samt Broschüre neu gestaltet.
- Anregung eines Riga-Guide zu Erinnerungsorten an die Opfer von NS-Verbrechen in Riga: Viele Menschen aus Deutschland und Österreich besuchen Jahr für Jahr die lettische Hauptstadt, unter ihnen viele historisch, kulturell, politisch Interessierte. Die Erinnerungsorte an die Opfer der deutschen Besatzungszeit und des Holocaust in Riga sind vor Ort relativ wenig bekannt und nicht leicht erreichbar. Ein Guide (Broschüre, App) könnte diese Orte bekannter und zugänglicher machen. Die Anregung zu einem Riga-Guide wurde von der Leitung des Volksbundes aufgenommen und soll in nächster Zeit realisiert werden.
- Ende 2021 jähren sich die Deportationen nach Riga zum 80. Mal – und die Einweihung der Gedenkstätte Riga-Bikernieki am 30. November 2021 zum 20. Mal (Jahrestag des „Rigaer Blutsonntags“) Das wird eine Gelegenheit sein, an das Schicksal der früheren Nachbarn von nebenan zu erinnern, an die es bis Anfang der 1990er Jahre – 50 Jahre lang! - in Deutschland praktisch keine kollektive Erinnerung gab. Mit meinem Vortrag „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“ stehe ich für Gedenkveranstaltungen zur Verfügung.
Berichte von früheren Symposien, Gedenkreisen und Veranstaltungen des Deutschen Riga-Komitees
- (4.) „Symposium des Riga-Komitees in Recklinghausen regt weitere Kommunen zum Beitritt an Initiative in der Stadt Datteln dem Städtebündnis beizutreten“, 17.10.2019,
- Deutsches Riga Komitee: Zur Geschichte der Deportationen, Lettland unter deutscher Besatzung, Transporte nach Riga, Gedenkstätte Bikernieki, Buch der Erinnerung, Städteliste, Reden Gedenkreise 2010 u.a.: http://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee.html
- Brücken der Erinnerung zwischen Nationen und Generationen: 2. gemeinsame Gedenk- und Erinnerungsreise aus Städten des Deutschen Riga-Komitees 3.-6. Juli 2017 nach Riga (Bericht), 14. Juli 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1490 , und Anhang: Weitere Erinnerungsorte in Riga, 14.07. 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1489
- „Kann man gerecht gedenken? Erinnern an Verschleppung und Vernichtung in Europa
Eindrücke von einer Gedenkreise nach Riga, 2017, https://www.volksbund.de/ru/partner/deutsches-riga-komitee/meldungen/meldungen000/artikel/kann-man-gerecht-gedenken-erinnern-an-verschleppung-und-vernichtung-in-europa.html
„Wo starb Herbert Goldschmidt?“ (Magdeburgs Bürermeiser) von Annette Schneider-Solis, Volksstimme 06.08.2017, https://www.volksstimme.de/sachsen-anhalt/drittes-reich-wo-starb-herbert-goldschmidt
- 3. Symposium des Riga Komitees 2016 in Osnabrück, https://www.noz.de/lokales/osnabrueck/artikel/778806/meckel-traegt-sich-ins-goldene-buch-der-stadt-osnabrueck-ein
- 2. Symposium des Riga Komitees 2015 in Münster
http://www.ns-gedenkstaetten.de/arbeitskreis/aktuelles/detailseite/2-symposium-des-riga-komitees-in-muenster.html ; https://www.wn.de/Muenster/2015/04/1948259-Symposium-des-Riga-Komitees-Eine-gemeinsame-Erinnerung
- 1. Symposium des Riga-Komitees 2012 in Magdeburg, https://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/staedteliste-riga-komitee/magdeburg.html
- 10 Jahre deutsches Riga-Komitee, 1. Gedenkreise des Riga-Komitees im Juli 2010 nach Riga, https://www.gegen-vergessen.de/archiv/detailansicht/article/10-jahre-deutsches-riga-komitee/
- 60 Jahre danach: Einweihung der Gedenkstätte Riga-Bikernieki –Erinnerung an Ermordete bekommt Ort und Gesicht, Bericht Dezember 2001, http://nachtwei.de/druck/druck%20Bikernieki.htm
- RIGA-KOMITEE GEGRÜNDET für die Gräber- und Gedenkstätte Riga im Wald von Bikernieki, der ersten Gedenkstätte für nach Osteuropa deportierte deutsche und österreichische Juden, Bericht 01.06.2000, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=86%2B107&aid=451
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: