1993 begegnete ich der Historikerin, die als 13-Jährige aus Wien nach Riga deportiert worden war, zum ersten Mal. Mit ihrer eingebrannten Erfahrung, mit ihrer historischen Kompetenz und mit ihrem Lebensfeuer schuf sie bleibende Erinnerung an frühere Nachbarn, die über Jahrzehnte verschollen und vergessen waren. Hier u.a. der Nachruf des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, ihre Rede im österreichischen Parlament am 8. Mai 2017 und Erinnerungsstücke.
„Schreib auf, was wichtig ist!“ Prof. em. Gertrude Schneider,
Überlebende des Ghetto Riga, der KZ Kaiserwald und Stutthof, ist
am 7. September 2020 im Alter von 92 Jahren gestorben.
Winfried Nachtwei
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Im Februar wurde die 13-jährige Gertrude zusammen mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester aus Wien in das Rigaer Ghetto deportiert. Anfang November 1943 wurde die Familie in das KZ Kaiserwald verbracht, im August 1944 schafften die Nationalsozialisten die Familie mit Schiffen über die Ostsee nach Danzig und von dort weiter in das KZ Stutthof.
Beim 1. Welttreffen der Lettischen Juden im Juni 1993 in Riga erlebte ich Gertrude Schneider zum ersten Mal, wie sie aus persönlicher Erfahrung und als Historikerin lebhaft von den eingebrannten Ghetto- und KZ-Tagen, -Monaten, -Jahren berichtete, das Unvorstellbare ganz nahe brachte und bleibende Erinnerung weckte. Sie wirkte bei der Gründung des Deutschen Riga-Komitees im Mai 2000 in Berlin und bei der Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki in Riga mit. Als Stimme der deutschsprachigen Überlebenden des Rigaer Ghettos erreichte sie,
besonders viele Menschen in Österreich, Deutschland und weltweit. In besonders herzlicher Weise unterstützte sie die Erinnerungsarbeit der Wolfgang-Suwelack-Stiftung in Billerbeck im Münsterland, wo die Realschule nach den Geschwistern Rolf-Dieter und Eva Eichenwald genannt wurde, die im Dezember 1941 als Fünf- und Vierjährige nach Riga deportiert worden waren.
Im Folgenden
- Der Nachruf des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
- Erste Begegnung mit Gertrude Schneider beim 1. Welttreffen der lettischen Juden 1993
- Einweihung der Gedenkstätte Riga-Bikernieki
- Buchvorstellung von Gertrude Schneider in der Villa ten Hompel in Münster 2008
- Deportationsausstellung im Bahnhof Münster, Mai 2008
- Gertrude Schneider in der Geschwister-Eichenwald-Realschule in Billerbeck Januar 2010
„Ihre Bücher sprechen“, Übergabe ihrer Bibliothek in Münster
- Exlibris – eine ausleihbare Wanderausstellung
- Rede von Gertrude Schneider im österreichischen Parlament 8. Mai 2017
- Wichtige Bücher von Gertrude Schneider
Nachruf des
Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
auf Gertrude Schneider
https://www.nationalfonds.org/meldung/nachruf-auf-gertrude-schneider
Am 7. September 2020 ist Professorin Dr. Gertrude Schneider verstorben. „Mit Gertrude Schneider ist eine wundervolle Frau, Journalistin und Historikerin, Überlebende des Rigaer Ghettos und mehrerer Konzentrationslager, von uns gegangen. Baruch Dayan haemet. Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie“, würdigt Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, die Verstorbene, die in so besonderer Weise Schicksal und Berufung vereinte.
Gertrude Schneider wurde am 27. Mai 1928 als Tochter von Pinkas Maier und Charlotte Hirschhorn in Wien, Ottakring geboren. 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wurde sie als Jüdin der Schule verwiesen, das von ihrer Familie in der Wiener Felberstraße geführte Volkswarenhaus Hirschhorn demoliert. Mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Rita wurde Gertrude delogiert – sie mussten in jüdische „Sammelwohnungen“ ziehen; im Februar 1942 folgte schließlich die Deportation in das vom Deutschen Reich okkupierte Lettland. Dort, im Rigaer Ghetto, dokumentierte die 14-Jährige in ihrem Tagebuch die grausamen Umstände des Ghettolebens. 1943 wurde die Familie in das KZ Kaiserwald weiterdeportiert, 1944 in das KZ Stutthof. Nach Sklavenarbeit und Todesmarsch erlebte Gertrude Schneider gemeinsam mit Mutter und Schwester im März 1945 die Befreiung und kehrte nach Wien zurück. Sie mussten erfahren, dass der Vater einen Tag vor der Befreiung im KZ Buchenwald umgekommen war.
1947 emigrierte Gertrude mit Mutter und Schwester in die USA. Sie holte ihren Schulabschluss nach, studierte Mathematik und Geschichte. 1973 promovierte sie an der Graduate School of the City University of New York (CUNY) – Thema ihrer Dissertation war „The Riga Ghetto, 1941–1944“.
Ihrer Heimatstadt Wien blieb Gertrude Schneider trotz allem verbunden. Im Rahmen der Wiedereinbürgerung von Opfern des Nationalsozialismus 1994 nahm sie die österreichische Staatsbürgerschaft wieder an, die ihr – so der damalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl anlässlich der Verleihung – „von der Geschichte weggenommen“ worden war.
Gertrude Schneider vereint in ihrer Arbeit die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Shoah mit dem persönlich Erlebten und Erinnerten – wie etwa in ihrem beeindruckenden Buch „Reise in den Tod“, in dem sie ihre Erfahrungen als junge Zeitzeugin mit der exakten Arbeit der Historikerin verband. In einem Interview hat sie einmal über die Lagererfahrung gesagt: „Es ist keine Verfolgung, es wurde ein Teil von mir.“
Ihr 1995 erschienenes Buch „Exile and destruction. The fate of Austrian Jews 1938–1945“ widmete Gertrude Schneider dem Schicksal der österreichischen Jüdinnen und Juden in den nationalsozialistischen Ghettos und Konzentrationslagern. Ihr ist es zu verdanken, dass dadurch auch die Schicksale der wenigen Überlebenden von Maly Trostinec – jenem Lager bei Minsk, wohin fast 10.000 österreichische Jüdinnen und Juden deportiert wurden – bekannt und für die Nachwelt dokumentiert wurden.
Gertrude Schneider war stets eine aktive Zeitzeugin. In besonderer Erinnerung bleiben ihr Gespräche mit SchülerInnen 2013 in der Demokratiewerkstatt des österreichischen Parlaments bei der Zeitreisewerkstatt „Annexion 1938“, ebenso ihre beeindruckende Gedenkrede im Jahr 2017 anlässlich des jährlichen Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im historischen Sitzungssaal des Parlaments in Wien, in der sie schilderte: „Vertreibung, Drohungen, Verarmung, Deportierung in eine teuflische Welt, in Ghettos, Arbeitslager, Konzentrationslager, Todeslager, ob mit Erschießen oder mit Gas, und am Ende des Krieges die blutigen Todesmärsche – ich erlebte und überlebte sie alle; deshalb bin ich heute hier, denn ich bin eine der Letzten. Außerdem hatte ich es meinem geliebten Vater versprochen. Schreib auf, was wichtig ist!, sagte er, als er mir am Freitag, dem 27. Mai 1938, meinem zehnten Geburtstag, ein Tagebuch schenkte. Es ist deine Pflicht! Sie, meine verehrten Zuhörer, die mich eingeladen haben, helfen mir an diesem offiziellen österreichischen Gedenktag, meines Vaters Wunsch zu erfüllen, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“
Ein Herzenswunsch Gertrude Schneiders wird sich jedoch nicht mehr erfüllen – sie formulierte ihn vor zwei Jahren gegenüber Kurt Yakov Tutter, dem Initiator der im Wiener Ostarrichi-Park entstehenden Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte: „Kurt, ich bin alt und krank, ich lebe aber jetzt nur für einen Traum: dass ich zur Vollendung der Gedenkstätte mit meiner Tochter nach Wien reisen kann, um den Namen meines Vaters graviert auf den Gedenkmauern zu sehen. Dann kann ich mich vom Leben verabschieden.“
Die Eröffnung der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte wird Gertrude Schneider nicht mehr erleben. Doch der Name ihres Vaters wird auf einer der Steintafeln verewigt sein. Und auch das Andenken an seine Tochter Gertrude wird erhalten bleiben – sie selbst hat es am Gedenktag 2017 gesagt: „Meine Bücher werden weiter sprechen, wenn die letzten Zeugen schweigen.“Erste Begegnung mit Gertrude Schneider beim 1. Welttreffen der lettischen Juden in Riga, Juni 1993, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1221&theme=print
(…)
Ziel des Treffens war, Wiedersehen und Begegnung mit der alten Heimat, mit Leidensgefährten, mit den Gräbern der Angehörigen zu ermöglichen. „Die Leute hatten das Bedürfnis zurückzukommen, nochmal zu sehen, wo ihre Familien gestorben sind. Viele Leute fühlten, dass in ihrem Leben irgendwas gefehlt hat von der Vergangenheit. Dieses Stück wollten sie einfügen“, so Steven Springfield, Präsident der „Jewish Survivors of Latvia“ aus New York. Zugleich wollte man auch die heutige jüdische Gemeinde kennenlernen und sie unterstützen. (…)
Sonntag, 13. Juni
Bei strahlender Sommersonne hat sich am Holocaust-Mahnmal an der Gogolstraße eine größere Menschenmenge eingefunden: Hier stand früher die größte und schönste Synagoge Rigas, die am 4. Juli 1941 mitsamt mindestens 500 Menschen niedergebrannt wurde. Das Mahnmal für die 1941 bis 1945 in Lettland ermordeten Juden wurde durch private Großspender und die Jewish Survivors of Latvia/USA, durch Spenden aus Lettland und von Einzelpersonen aus Israel, Schweden, Deutschland und Kanada ermöglicht und am 29. November 1992 eingeweiht. Die freigelegten und restaurierten Grundmauern der alten Synagoge bilden das Mahnmal.
Die Innenmauern sind mit zahllosen Blumen belegt. Nach Gebeten und Gesängen folgen sehr viele Redebeiträge (unter ihnen Prof. Getrude Schneider, als 13-Jährige aus Wien in das Rigaer Ghetto deportiert), auch von Vertretern der „zweiten Generation“. Für einen Großteil der Versammelten ist die unmittelbare Begegnung offenbar wichtiger als diese Zeremonie. Offizielle politische Repräsentanten sind nicht anwesend, ausdrücklich aber auch nicht eingeladen. (…)
Am Abend das helle Gegenteil zu den düsteren Orten von Rumbula und Bikernieki: Im Prachtsaal des alten Jüdischen Theaters (im Jüdischen Zentrum) feierliche Ehrung der Judenretter. Das Fernsehen überträgt. Nun sind auch politische Repräsentanten (u.a. der deutsche Botschafter) dabei. Zu getragener Hintergrundmusik und unter starkem Beifall kommen die Retter bzw. stellvertretend die Angehörigen einzeln herein. 200 Namen von Judenrettern wurden ermittelt, 33 werden heute vom stellvertretenen Parlamentsvorsitzenden Vaudis Birkavs (inzwischen lettischer Regierungschef) ausgezeichnet. Nach Gesangsdarbietungen, Rezitationen, (einer Rede von Prof. Gertrude Schneider), einem Video über einzelne Judenretter spricht Margers Vestermanis, Ghetto-Überlebender und Leiter der Dokumentationsstelle „Juden in Lettland“, über die Schwierigkeiten, die Judenretter überhaupt zu ermitteln. Sie kamen aus allen Volksgruppen und Schichten, auch aus den Spitzen der lettischen Intelligenz und den Baltendeutschen (z.B. Paul Schiemann, 1920-33 Vorsitzender der dt. Fraktion im lettischen Parlament). Am berühmtesten Janis Lipke, der allein 55 Menschen das Leben rettete (bei den Filmdreharbeiten im Herbst 1991 besuchten wir sein Haus auf dem anderen Ufer der Daugava, sprachen mit seinem Sohn). Oder Seraphina Parasa, die – obwohl selbst untergetaucht – Ella Medailje bei sich aufnahm, eine der beiden einzigen Frauen, die Rumbula überlebt hatten.
Menschlichkeit unter höchstem Risiko: Sieben verloren deshalb nachweislich ihr Leben.
Geehrt wird schließlich auch der ehemalige schwedische Ministerpräsident Per Almark wegen seines Einsatzes gegen den Antisemitismus. Er hält eine längere politische Rede, für die er starken Beifall erhält.
Fortsetzung der Spurensuche auch bei diesem 6. Riga-Besuch:
(…) Suche nach weiteren „weißen Flecken“ im ehemaligen Ghetto: auf der Ludzas iela, östlich vom Lazarett muss das große „Dortmunder-Haus“ gestanden haben. Das existiert offensichtlich nicht mehr. Südlich des Blechplatzes auf der Jersikas iela, die damals fälschlicherweise Moskauer Str. genannt wurde, Häuser, in denen HannoveranerInnen und WienerInnen lebten. Nr. 31 hieß „Herrenhausen“, weil hier junge Männer aus Berlin und Wien einquartiert waren. (Diese Angaben alle nach Prof. Gertrude Schneider, Ghetto-Überlebende aus Wien und Autorin von drei grundlegenden Büchern über das Rigaer Ghetto, der ich den von Angela und mir gezeichneten Ghetto-Plan zur Korrektur gebe.)
Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki, 30.11.2001
http://nachtwei.de/druck/druck%20Bikernieki.htm ; http://nachtwei.de/Bilanz/Einweihung.pdf
(An diesem Ort im Wald von Bikernieki am Stadtrand von Riga wurden zwischen 1941 und 1944 mindestens 35.000 Menschen, davon ein Großteil jüdische, von den Nazis und ihren einheimischen Helfern erschossen. 5.000 kleine, mittlere, größere Granitsteine stehen dicht gedrängt und erinnern an die hier Ermordeten, Verscharrten, Verbrannten. Steinplatten nennen die Städte, aus denen jüdische Menschennach Riga deportiert worden waren.)
Auf dem zentralen Gedenkplatz haben sich mehrere hundert Menschen eingefunden, unter ihnen viele ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge. Nach Ansprachen der lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, des österreichischen Botschafters Dr. Jilly und des deutschen Botschafters Herold treten VertreterInnen der Städte des Deutschen Riga-Komitees vor und stellen Metallkapseln mit Namenslisten der im Raum Riga Umgekommenen in den Gedenkstein. Der nordrhein-westfälische Innenminister Behrens tut dies für Düsseldorf, Arkadij Gurewitsch (Ex-Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands) für Hamburg, Bürgermeister Günter Schulze-Blasum für Münster, ich für Bielefeld. Berlin, Bocholt, Dortmund, Hannover, Kassel, Köln, Leipzig, Lübeck, Nürnberg, Osnabrück, Paderborn, Prag/Theresienstadt, Stuttgart, Wien sind die anderen Städte, für die Listen hinterlegt werden. (Ebenfalls vertreten ist Bremen als Rigas Partnerstadt.)
Danach wird die Deckplatte auf den Gedenkstein gesenkt: Es ist, als würden die Ermordeten und Verschollenen nun erstmalig würdig bestattet.
Staatliche Repräsentanten legen Blumen auf dem Gedenkstein nieder.
Der Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Riga, Vlad Shulman, beendet die Veranstaltung mit dem Kaddisch.
Vor der Einweihung der Gedenkstätte findet im Saal der Jüdischen Gemeinde eine große Gedenkveranstaltung statt. Hier sprechen der Vorsitzende der Gemeinde Grigory Krupnikovs, der Präsident des VDK, Karl-Wilhelm Lange, der lettische Ministerpräsident Andris Berzins, der stellv. Vorsitzende des Rates der Stadt Riga, Aivars Kreitschuss, der israelische Botschafter Avraham Benjamin, die Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, Hannah Lessing, der Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe, MdB Wolfgang Freiherr von Stetten, Erich Herzl aus Wien, der Präsident der Jewish Survivors of Latvia, Steven Springfield aus New York, Prof. Gertrude Schneider, Ghetto-Überlebende/New York, der Vorsitzende des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, Dr. Alexander Bergmann. Die Gedenkrede hält Dr. Fritz Behrens, Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, von wo vier Transporte nach Riga gingen.
Bergmann erinnert an sein erstes Zusammentreffen mit Erich Herzl 1994, als er sich eine Realisierung des Projekts angesichts des Geldmangels nicht habe vorstellen können. Gertrude Schneider: „Der Fluch ‚nicht gedacht soll ihrer werden’, wird jetzt aufgehoben“. Hannah Lessing nennt das Projekt eine „europäische Antwort auf den Nationalsozialismus“. Steven Springfield aus New York schlägt den Bogen zum 11. September: Für die Holocaust-Überlebenden und ihre Nachkommen gebe es nun den „sicheren Hafen“ nicht mehr.
Eingerahmt werden die Reden von musikalischen Darbietungen des Chores der Veteraninnen und Kindern der Jüdischen Schule, die pure Lebensfreude versprühen.
Im Foyer ist die neue Ausstellung zur Jüdischen Gemeinde Lettlands zu sehen, die von Margers Vestermanis erarbeitet und auch vom Außenministerium gefördert wurde. Das von ihm aufgebaute und geleitete Museum „Juden in Lettland“ wird zurzeit erheblich erweitert.
Am Samstag führen Gertrude Schneider und Alexander Bergmann Mitglieder der deutschen Delegation nach Rumbula und durch das ehemalige Ghetto. A. Bergmann schildert bewegend die drei Voraussetzungen für ein Überleben in Ghetto und KZ: Gesundheit, Arbeit – und vor allem Zufall. A. Gurewitsch: „Ich dachte, ich könnte vergessen. Aber die Erinnerung wird frischer und frischer.“
An der Gedenkveranstaltung am Sonntag in Rumbula zum 60. Jahrestag des „Rigaer Blutsonntags“ nehmen so viel Menschen teil wie seit Jahren nicht, darunter viele jüdische Schülerinnen und Schüler. Die Nachricht geht herum von den neuesten Selbstmordanschlägen in Israel. Das Gräberfeld wird ebenfalls vom VDK renoviert.
„Diese furchtbaren Erinnerungen soll man nicht nur vortragen, man muss sie aufschreiben“ Heike Hänscheid, echo Münster de , 16.05.2008
https://arbeit-und-leben-hochtaunus.de/Lettland.Der_Judenmord_in_Riga.pdf
(Zum Foto: Die Linke bin ich, rechts sieht man meine Schwester Rita“. Prof. Dr. Gertrude Schneider zeigt Chris-tiane Klein vom Laumann Verlag und Wolfgang Suwelack das Familienbild auf dem Zeitzeugen-Plakat. [Foto: Hänscheid]
Sie hat ihr Leben der Aufklärung der Shoah gewidmet. Jenes Leben, das Ghetto und Konzent-rationslager, Grausamkeiten und Verachtung nicht brechen konnten: Prof. Dr. Gertrude
Schneider ist die Zeitzeugin mit dem Tagebuch, das Hass und Tod, aber auch den Alltag im Lager in Riga festhielt. Heute Mittag stellte sie in der Villa ten Hompel ihr Buch „Reise in den Tod“ vor. Da sitzt die renommierte Historikerin, hoch anerkannte Dozentin und Autorin aus New York, und während sie strahlend den 200 Seiten starken, druckfrischen Band als „mein schönstes Geschenk“ zum bevorstehenden 80. Geburtstag in Empfang nimmt, blitzt immer wieder die „Traudel“ Hirschhorn durch, jenes jüdische Mädchen aus Wien, das mit 14 Jahren mitsamt Schwester Rita und den Eltern nach Riga deportiert wurde. „Noch heute hat meine Schwester die Narben von meinen Fingernägeln in der Hand, weil ich sie so festgehalten habe, als man die Kinder unter 14 Jahren zum Töten wegbringen wollte“. Glückliche Umstände – in Gestalt einer jüdischen Sekretärin – verhinderten, dass die Jüngere umkam; der letzte Gruß des schließlich ermordeten Vaters („Behütet einander“) hat ihrer beider Leben bis auf den heutigen Tag begleitet.
Gegen Vergessen – für Erinnern
Über Umwege erfuhren Wolfgang Suwelack und dessen Stiftung in Billerbeck von der Zeit-zeugin in den USA. Diese Stiftung „Gegen Vergessen – für Erinnern“ sorgte dafür, dass Schneiders Standardwerk „Journey into Terror“ als „Reise in den Tod“ in einer überarbeiteten und ergänzten Neuerscheinung (bei Laumann Druck & Verlag, Dülmen) jetzt auf den Markt kommt. Matthias Ester von der Stiftung: „Es erscheint an einer Zeitenwende – die Zeitzeugen werden allmählich verstummen. Und es erscheint passend zum Beginn der Deportations-Ausstellung „Sonderzüge in den Tod“, die vom 18. Mai bis 15. Juni im münsterschen Bahn-hof zu sehen ist“.
(Die Stiftung von Wolfgang Suwelack ermöglichte den Druck des Buches von Gertrude Schneider – das erste Exemplar nahm die in New York lebende Zeitzeugin und Historikerin gerührt entgegen. Foto: Hänscheid)
Zeitzeugin berichtet von den Deportationszügen
Im Rahmen der Ausstellungseröffnung am Sonntag um 11.30 Uhr im Rathausfestsaal wird Gertrude Schneider einen kurzen Erinnerungsbericht über ihre Deportation von Wien nach Riga geben. Am Montag, 19. Mai, spricht die Professorin, die inzwischen neben der amerika-nischen auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, um 20 Uhr im Erbdrostenhof in Münster (Eintritt frei) über das „Überleben in der Shoah“ – basierend auf ihren Tage-buch-Erinnerungen und den Forschungen, die sie als Historikerin des „Reichsjuden-Ghettos“ Riga seit Jahrzehnten zusammenträgt. Nach Riga wurden die meisten der in Westfalen – und auch die in Münster – lebenden Juden deportiert. „Ich habe mit vielen Menschen aus Münster im Lager Kontakt gehabt: Wir haben oft im Scherz gestritten, ob Münster oder Wien schöner sei“, so erzählt die New Yorkerin, die
32in diesen Tagen Münster nun wirklich kennen lernt. Eine Stadt in dem Land, das „wir Juden geliebt haben – man hat uns nicht zurückgeliebt“. Ihr Buch soll weiter sprechen, wenn die letzten Zeugen schweigen, so wünscht es sich Gertrude Schneider. Gertrude Schneider, „Reise in den Tod“, Laumann-Verlag, Dülmen, ISBN 978-3-89960-305-7
Kurzbesprechung des Buches „Reise in den Tod“ von W. Nachtwei
Als ich 1989 erstmalig den Spuren der nach Riga verschleppten Juden aus Westfalen und dem Rheinland nachging, war die Erinnerung an sie über Jahrzehnte verschüttet – in Deutschland wie in Lettland. Unbekannt war, dass im Ghetto, den Lagern und Wäldern von Riga (neben Kaunas/ Litauen und Minsk) die systematische Ermordung der deutschen, österreichischen und tschechischen Juden ihren Anfang nahm.
Der Ghetto-Überlebenden und Historikerin Gertrude Schneider gelang es mit diesem Werk, ihre persönliche Erinnerung mit ihren historischen Forschungsergebnissen so bewegend wie überzeugend miteinander zu verbinden. Das Buch ist ein Denkmal für die über 20.000 Nachbarn von nebenan, die auch aus Berlin, Sachsen, Norddeutschland, Kassel, Nürnberg, Stuttgart und Wien nach Riga deportiert worden waren. Insbesondere den Schulen der Herkunftsorte der Verschleppten ist das Werk dringend zu empfehlen.
Deportationsausstellung im Bahnhof eröffnet, Münstersche Zeitung18.05.2008
MÜNSTER. Langsam geht Gertrude Schneider, eine bald 80-jährige ergraute Frau, auf die Bühne des Rathausfestsaals und fängt vor vollem Saal an, ihre Geschichte zu erzählen. Wenn Gertrude Schneider Bahn fährt, werden heute noch Empfindungen wach: „Es tut mir das Herz noch immer weh, wenn ich einen Zug fahren höre.“ Die Besucher der Ausstellungseröffnung „Sonderzüge in den Tod“ am Sonntag im Rathaus hörten gebannt zu. Das gleichmäßige Rattern der Räder ist es, was die rüstige Dame immer wieder an ihre Deportation nach Riga erinnert, ins jüdische Ghetto. Mit einem Deutsch, in dem stark der Dialekt ihrer Heimatstadt Wien mitklingt, berichtet sie von der Zeit der Judendeportationen im Zweiten Weltkrieg. Sie berichtet lebhaft von 1942, von der Zugfahrt von Wien nach Riga ins jüdische Ghetto und lässt die Bilder der vergangenen Tage für das ganze Publikum noch einmal entstehen. Anfangs seien die Juden aus Wien noch gutgläubig gewesen, erst nach einigen Vorkommnissen „ist uns ein Licht aufgegangen und wir wussten: Wir haben keine Chance“, so Schneider. Sie überlebte dennoch, kam zurück nach Wien und emigrierte dann in die Vereinigten Staa-ten. Sie hielt das Versprechen, das sie ihrem Vater gab: „Alles aufzuschreiben, damit nichts vergessen wird.“
„Berichte von Zeitzeugen sind wichtig“
Oberbürgermeister Berthold Tillmann und Jürgen Hülsmann, Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster, ehrten während der Eröffnung drei Zeit-zeugen. Neben Gertrude Schneider auch Marga Spiegel und Marion Zambrano. „Einige Über-lebenden haben sich abgewandt vom Volk der Täter“, so Hülsmann. Er betont aber: „Berichte von Zeitzeugen sind sehr wichtig“. Darum gebühre den drei Frauen besonderer Dank für ihre Mühen. Dafür, dass sie sich weiterhin erinnern. Noch vier Wochen lang ist die Wanderausstellung der Deutschen Bahn im Hauptbahnhof zu sehen. Besucher können sich die Exponate im langen Gepäcktunnel ansehen. Auch dabei werden sie die Züge hören, die wenige Meter über ihnen in den Bahnhof ein- und ausfahren. Dieses Geräusch, das Gertrude Stein noch immer im Gedächtnis ist.
WDR Lokalzeit Münsterland 29 Mai 2008 Frau Prof. Gertrude Schneider - Eine Zeitzeugin berichtet, 6 Min., https://youtu.be/_GUNa5HiN7w
Prof. Dr. Gertrude Schneider, New York:
Vom Überleben der Shoah: Eine Zeitzeugin berichtet, 28. Januar 2010, Städtische Realschule Billerbeck. Eine Veranstaltung der Wolfgang-Suwelack-Stiftung anlässlich der Namensgebung „Geschwister-Eichenwald-Realschule“
( https://www.suwelack-stiftung.de/causes/das-riga-projekt-gedenkstatte/ )
Unvergesslich blieben für die Teilnehmer, vor allem Schülerinnen und Schüler, die Begegnungen mit Prof. Dr. Gertrude Schneider, der Historikerin, die selbst als Jugendliche in das „Reichsjudenghetto“ in Riga deportiert wurde. Dieser Zeitzeugin zuzuhören, hat alle sehr beeindruckt.
Auf Initiative der Wolfgang Suwelack-Stiftung ist die Stadt Billerbeck 2005 dem Deutschen Riga-Komitee beigetreten. Riga als Ort nationalsozialistischer Verbrechen wird auch für die Gedenkkultur immer wichtiger. Gemeinsam mit Partnerstädten wird dort der Opfer des Ghettos und der umliegenden Konzentrationslager gedacht. Im Rigaer Stadtteil Bikernieki wurde auch ein Mahnmal zum Gedenken an die Vernichtung der verschleppten Juden errichtet. Im Oktober 2004 legten dort Barbara van der Wielen, Direktorin der Billerbecker Realschule, und Guido Linden, der Projektleiter von „Spuren Finden“, im Namen der Stadt Billerbeck Blumen nieder. Der Tatort in Lettland ist zum Gedenkort an Billerbecker Bürgerinnen und Bürger geworden. Im Rahmen der Partnerschaft finanziert die Stiftung auch Reisestipendien für Jugendliche nach Riga.
„Ihre Bücher sprechen“, Westfälische Nachrichten 27.02.2013
Münster. Gertrude Schneider überlebte als Mädchen im Rigaer Ghetto den Holocaust. Erst im Alter bekam die in New York lebende Geschichtsprofessorin Kontakt ins Münsterland. Sie schenkte der Wolfgang-Suwelack-Stiftung in Billerbeck ihre Bibliothek, die in der Villa ten Hompel untergebracht ist. Nun ist daraus eine Ausstellung entstanden, die Gertrude Schneider in der Universitätsbibliothek Münster am Krummen Timpen am Mittwoch selbst eröffnet.
Von Karin Völker, https://www.wn.de/Muenster/2013/02/Holocaust-Ueberlebende-Gertrude-Schneider-verschenkt-ihre-Bibliothek-Ihre-Buecher-sprechen
Exlibris – Eine ausleihbare Wanderausstellung,
Suwelack-Stiftung Billerbeck, https://www.suwelack-stiftung.de/prof-dr-gertrude-schneider/ und https://www.stadt-muenster.de/villa-ten-hompel/geschichtsort/entleihbare-ausstellungen.html#c19316
Rede von Gertrude Schneider im österreichischen Parlament, 8. Mai 2017, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
im voll besetzten historischen Sitzungssaal des österreichischen Parlaments. Am Schluss ihrer persönlichen, die Zuhörer tief bewegende Rede geht Gertrude Schneider auf die ihr häufig gestellte Frage ein, wie eine so kleine und zierliche Person wie sie die Ghetto- und KZ-Jahre habe überleben können: Aus einem wundervollen Religionsunterricht habe sie eine Festigkeit bekommen. Sie singt die Hymne „Empor zu Dir, mein Gott und Herr, (…) von Dir allein kommt Hilfe mir (…).“
27. Min., Produktion des ORF, https://www.youtube.com/watch?v=lEtzN-V4zZA
Wichtige Bücher von Gertrude Schneider
- Schneider, Gertrude: Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941-1944, Edition
Hentrich Berlin 2006, 2. und überarbeitete Auflage Laumann-Verlag Dülmen 2008
- Dies., Journey into Terror: Story of the Riga Ghetto, (Wien) New York 1979, Journey into Terror: Story of the Riga Ghetto, New and Expanded Edition: The Story of the Riga Ghetto Rev Exp Auflage, 2001
- Dies.. Exile and Destruction: The Fate of Austrian Jews, 1938-1945, Praeger 1995, https://books.google.de/books?id=Yet6rYdXdhoC&printsec=copyright&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false
- Dies., (Ed.), „Muted Voices – Jewish Survivors of Latvia remember“, New York (Philosophical Library) 1987
- Dies., (Ed.), The Unfinished Road – Jewish Survivors of Latvia Look Back, New York/London (Praeger) 1991
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: