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"Wichtige Erinnerung": Mein Beitrag zur Leser-Debatte in den Westfälischen Nachrichten über "Ex-SS-Mann vor Gericht"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 28. November 2018 13:35:05 +01:00 (23698 Aufrufe)

17 Leserbriefe wurden bisher zum Stutthof-Prozess in Münster veröffentlicht. Ich nehme Stellung vor dem Hintergrund meiner Besuche in Stutthof und Begegnungen mit etlichen alten Frauen und Männern, die erst das Ghetto Riga überlebt hatten und dann auch noch das KZ Stutthof.

Zur Leser-Debatte in den Westfälischen Nachrichten zum Thema

„Ex-SS-Mann vor Gericht“

Am 17., 20. und 28. November 2018 veröffentlichten die Westfälischen Nachrichten aus Münster insgesamt 17 Leserbriefe zum Stutthof-Prozess. Acht äußerten sich ablehnend gegenüber einem solchen Prozess noch heute, neun befürwortend. Niemand stellte die Unmenschlichkeiten im KT Stutthof in Frage.

Am 28. November erschien mein Debattenbeitrag. Die redaktionellen Kürzungen sind kursiv gekennzeichnet:

„Wichtige Erinnerung

74 Jahre danach Prozess gegen einen 95-Jährigen – der Prozess kommt in der Tat viel zu spät. Ist er deshalb verfehlt?

Im Rahmen meiner Spurensuche zu den Riga-Deportationen von 1941 stieß ich Anfang der 1990er Jahre auf das KZ-Stutthof, in das viele Riga-Überlebende ab August 1944 eingeliefert worden waren. Mehr als 20 Stutthof-Überlebende lernte ich kennen. Sie berichteten, dass die Quälereien und das Morden in Stutthof die Unmenschlichkeiten im Rigaer Ghetto und KZ Kaiserwald noch übertroffen hätten.

Im noch erhaltenen „Eingangsbuch“ des KZ entdeckte ich 1994 zwei Schwestern aus Dülmen: Berta Wolff, gestorben am 10.12.1944, im „Sterbebuch“ vom Dezember die Nr. 850; Grete Wolff, gestorben am 28.12., Nr. 3060. Allein von den aus dem Münsterland, aus Osnabrück und Bielefeld nach Riga Deportierten sind in Stutthof mehr als 110 nachweislich gestorben bzw. verschollen. Von 1939 bis Anfang 1945 fielen den mörderischen Arbeits- und Haftbedingungen, den Erschießungen, den Phenol-Injektionen und Vergasungen in Stutthof und den Evakuierungsmärschen weit über 70.000 Menschen zum Opfer.

Insgesamt waren in Stutthof rund 3000 SS-Leute eingesetzt. 72 SS-Männer und 6 Aufseherinnen kamen vor Gericht - zum größten Teil in Polen, nur fünf in der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1964. Seit 54 Jahren gab es keinen Prozess zum KZ Stutthof.

Rund fünfzig Jahre waren in der Bundesrepublik das KZ Stutthoff und das Schicksal seiner Häftlinge nahezu unbekannt. Bis heute ist es noch weitgehend unbekannt. Die Nazis verfolgten gegenüber ihren Opfern ein doppeltes Vernichtungsziel: ihre Ermordung und das Auslöschen jeder Erinnerung an sie. Zu letzterem leistete nach dem Krieg das breite Verdrängen und Vergessen Beihilfe.

Nach vielen Jahrzehnten der Großzügigkeit gegen die Täter und Gleichgültigkeit gegen die Opfer ist es ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, das Justizversagen der Vergangenheit nicht fortzusetzen, sondern wenigstens jetzt noch diesen Prozess zu führen. Denn Mord verjährt nicht. Bei allen bisherigen Sitzungen fiel mir auf, wie äußerst rücksichtsvoll und entgegenkommend das Gericht mit dem alten Angeklagten umgeht, ohne jede Spur von Vorverurteilung. Überlebende betonen immer wieder, worum es bei einem solchen Prozess heute geht: nicht um eine strenge Bestrafung am Lebensende, sondern dass bekannt wird, was war, wie und warum auch „ganz normale Männer und Frauen“ mitmachten bei der organisierten Unmenschlichkeit. Der Prozess ist die Gelegenheit, wenigstens die Erinnerung an die lange vergessenen Stutthof-Opfer wiederzubeleben und die Absicht der Nazis zu durchkreuzen, auch die Erinnerung an sie auszulöschen.

Winfried Nachtwei, Münster“ (21.11.2018)

Hintergrundinformationen zum Stutthof-Prozess unter www.nachtwei.de