Vor einem Monat nahm ich an der Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez bei Minsk teil, am Ort der größten NS-Vernichtungsstätte in der ehemaligen Sowjetunion. Vor genau 30 Jahren besuchte wir mit der Grünen Friedens-AG/Münster als erste parteinahe Gruppe aus Westdeutschland Minsk und Chatyn: eine aufwühlende Erfahrung, Anstoß für meine folgende Spurensuche, Erinnerungsarbeit - Grundmotivation meiner friedens- und sicherheitspolitischen Arbeit.
Begegnungsfahrt der Friedens-AG von GAL/GRÜNEN Münster nach
MINSK in Belorussland vom 12. bis 19.8.1988
Reisebericht von Winfried Nachtwei
(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )
Vorbemerkung 30 Jahre später:
In den 80er Jahren erregten die vielen Kriegerdenkmäler in Münster vor allem längs der Promenade und die alljährlichen Gedenkfeiern zum Volkstrauertag am Dreizehner-Denkmal den Protest der Friedensbewegung. Wir sahen hier „Heldengedenken“ und Kriegsverharmlosung, zumindest aber den Versuch, die Mitmarschierer und Mittäter des deutschen Aggressionskrieges unterschiedslos zu Opfern umzuschminken, auf eine Stufe mit denen, die sie überfallen, deren Vernichtung sie den Weg bereitet hatten.
Für mich als Geschichtslehrer war das in den Sommerferien 1988 Anstoß, die Spuren der auf den Denkmälern verewigten Militärverbände aus Münster und Westfalen aufzunehmen – in den Kriegen des 19. Jahrhunderts, in den Kolonialkriegen (Boxer-Aufstand und Deutsch-Südwestafrika), im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hieraus entstand die Dokumentation „Spuren des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und anderer Kriege gegen Russland im Münsterland“ (s. Anhang), die ich im Hinblick auf die Begegnungsreise der Friedens-AG von GAL/Grünen Münster im August 1988 nach Minsk in Weißrussland zusammenstellte.
Dort begegnete ich erstmalig realen Spuren des deutschen Vernichtungskrieges im Osten.
Die aufwühlenden Erfahrungen dieser Reise wurden zum Anstoß meiner sich danach entwickelnden Spurensuche und Erinnerungsarbeit zum NS-Terror im Baltikum und zu den Deportationen jüdischer Menschen aus Münster, Westfalen und anderen Landesteilen in das „Reichsjudenghetto“ Riga im besetzten Lettland. Diese Erinnerungsarbeit, die menschlichen Begegnungen mit Dutzenden ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen und die Konfrontation mit den Tausenden Experten, Vollstreckern und Helfershelfern der zahllosen Massenmorde im Osten, wurden zum entscheidenden Motivationsgrund meiner weiteren friedens- und sicherheitspolitischen Arbeit zur Verhütung und Eindämmung von Kriegsgewalt, zum Schutz vor Massengewalt, zur Friedensförderung.
Ende Juni 2018 besuchte ich Minsk wieder – anlässlich der Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez am Ort der größten NS-Vernichtungsstätte in der ehemaligen Sowjetunion. (Der Bericht unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1534 )
Die vor 30 Jahren üblichen distanzlosen Traditionslinien zwischen Bundeswehr- und Wehrmachtsverbänden sind seit längerem gekappt. Meine letzten Vorträge und Reden zur Traditionspflege, zum Gedenken an die „Weiße Rose“ und Henning von Tresckow bei zentralen Veranstaltungen der Bundeswehr zeigen exemplarisch, wieviel sich im Verhältnis Bundeswehr – Wehrmacht geändert hat.
DER REISEBERICHT
20 Teilnehmer: Neben sieben Mitgliedern der Friedens-AG Leute aus befreundeten Friedensgruppen sowie andere friedensbewegte Menschen zwischen 26 und 71 Jahren.
Organisation und Reiseleitung durch das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk – Evang. Verein für Begegnung, Versöhnung und Zusammenarbeit e.V. – (IBB) Dortmund.
Vorbereitung der Reise, Erarbeitung des Programmvorschlags, einer friedenspolitischen Erklärung, der einzelnen Programmpunkte und der Gastgeschenken auf mehreren Abendterminen und einem Wochenende in Haus Husen durch die Gruppe selbst. (Anm. 2018: Unser professioneller Hauptorganisator ist Jürgen Thor
12. August
Start um 0.49 Uhr mit dem Zug Ostende-Moskau ab Hamm. Angenehme 3-Personen-Schlafabteile mit Waschecke. Strahlender Morgen über Berlin, die Menschen eilen zur Arbeit. Die Passkontrolle läuft problemlos. Gegen 10.00 Uhr Frankfurt/Oder, am polnischen Grenzbahnhof längerer Aufenthalt, wir betreten mit dem Bahnsteig erstmals polnischen Boden.
Am Nachmittag in sommerliche Hitze Warschau, auf dem ersten – unterirdischen – Bahnhof dichtes Gedränge. In einigen Wagen schweißtreibende Temperaturen, weil die Klimaanlage defekt und Fenster aus nicht einsichtigen Grünen nicht geöffnet werden dürfen. Der Ober im DDR-Speisewagen: „Wollen Sie noch was? Oder kann ich jetzt was anderes tun?“
In der Dunkelheit überqueren wir den Grenzfluss Bug, die Brücken sind angestrahlt. Brest um 22.00 (MEZ), 24.00 (OEZ). Bei der Zollkontrolle wird bei Martina eine Stichprobe gemacht, politische Karikaturen aus den 50er Jahren machen misstrauisch, sie muss mit dem Beamten raus aus dem Zug, Joachim und ich hinterher. Während der Zug zum Fahrgestellwechsel wegrollt, erläutert J. die Zusammenhänge. Wir warten ohne Beunruhigung im Zollbereich, wo gerade ein Koffer auf den Kopf gestellt wird und Video-Kassetten beschlagnahmt werden. Eion Ziviler mit gewissen Deutsch-Kenntnissen erscheint und plaudert mit uns, u.a. über Rust, seine Freilassung und Reaktionen in der BRD-Jugend. Nach 20 Minuten gibt’s die Unterlagen mit freundlichen Worten zurück.
Streifzug durch den verwirrenden Inselbahnhof, dann ins Brester Zentrum, wo wir auf unserem ersten Lenin-Boulevard landen. Martina bricht für den gerade ein Jahr älter werdenden Dietmar eine volkseigene Rose.
Der Bahnhof ist voller Reisender, in einer Halle die ersten Videospiele, darunter viele känpferisch-kriegerische.
13. August
Nach 6.00 Uhr Ankunft in Minsk, Empfang durch unseren Dolmetscher Pavel, der auch die letzte IBB-Reise betreute. Etwas unerwartet doch, dass wir nichts lesen können.
Untergebracht sind wir im Hochhaus-Hotel „Tourist“ (Gewerkschaftshotel), die Tische der verschiedenen Nationalitäten sind durch Landesfähnchen gekennzeichnet. Erstes Befremden weicht der Gewöhnung.
In der Umgebung des an einer großen Kreuzung liegenden Hotels ein Kaufhaus und andere Geschäfte, 5-6-stöckige Wohnhausreihen, hinter denen es mit viel Grün, Spielplätzen, Bänken und Tischen wohnlich wird. Vereinzelt Handwerksbetriebe, irgendwo probt eine Musikgruppe.
Stadtrundfahrt. Stationen sind:
- Der ca. sechsspurige Lenin-Prospekt als 12 km lange Hauptachse zwischen Nord- und Süd-Minsk; Platz des Sieges mit Obelisk; nahebei in einer Parkanlage ein einstöckiges Holzhaus: Hier wurde 1998 mit dem 1. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Russlands selbige gegründet: ein Platz weiter Denkmal des belorussischen Volksdichters Jakob Kolas, daneben eine Partisanengruppe und ein Gitarre spielendes ;Mädchen.
- Am historischen Hauptplatz Gebäude aus dem 18. Jahrhundert; in einem Gebäude war die Folterstätte der Nazis, auf eine Tafel wird des deutschen Gefreiten Schmenkel gedacht, der zu den Partisanen überwechselte und seit 1943 vermisst wurde; er wurde zum „Helden der Sowjetunion“ ernannt, seine Angehörigen aus Plauen/DDR kommen jährlich nach Minsk.
- Jenseits des historischen Zentrums großflächige Parkanlagen, auf einem Hügel erhebt sich ein großes Ehrenmal für Kämpfer und Opfer des Großen Vaterländischen Krieges;
- Denkmal mit dem T-34-Panzer, der 1942 als erster in Minsk einrollte.
- In einem Park des Zentrums Stauen zweier Mädchen, die Kränze ins Wasser werfen: Wie die Kränze sich finden oder allein bleiben, soll es auch mit der künftigen Zwei- oder Einsamkeit der Werferinnen laufen.
- Kunstmuseum: Auch wenn es uns nicht sehr ergiebig erscheint – die Zugehörigkeit Belorusslands zum europäischen Kulturkreis wird hier augenfällig demonstriert; bemerkenswert die Existenz auch einer demokratischen Traditionslinie in der darstellenden Kunst.
- Verschiedene Hochschulen, Traktorenfabrik, Fahrrad- und Motorradfabrik (…)
Gruppenbesprechung: Einübung zweier Lieder für den Internationalen Freundschaftsabend; Verteilung der einzelnen Verantwortlichkeiten für die einzelnen Gespräche und damit der Gastgeschenke, die längst nicht mehr auf einen Tisch passen. Mitgebracht wurden Friedenspublikationen verschiedener Friedensgruppen, Sticker, Plakate, Bildbände übers Münsterland, MS-Stadtplan auf Russisch, Öko-Literatur, Dokumentationen, deutsche Literatur, Drachen, einige Modehefte, westfälischer Schinken, Pumpernickel, Schinkenhäger und westf. Bier … und sogar Einmal-Feuerzeuge.
Als wir nach 22.00 fertig sind, leibt der Bierdurst unserer Leute ungestillt, auch bei der Disco im Speisesaal ist für uns nichts mehr drin. Westler-Ansprüche auf freien Zugang zu den Alkohol-Ressourcen kommen hoch – und mit ihnen Aggressionen. Unser mitgebrachtes Kollektivbier wird privat angeplündert. Doch wir lernen schnell: Dank längerfristiger Vorbestellung stehen uns an den folgenden Abenden immer Kästen von Bier zur Verfügung.
14. August
Fahrt durch eine leicht wellige Landschaft von Birken- und Kiefernwäldern, Feldern und ab und zu Dörfern zu der ca. 60 km von Minsk entfernten Gedenkstätte CHATYN.
Chatyn, ein Dorf mit 26 Bauernhöfen, wurde am 22. März 1943 von einem SS-Sonder-Bataillon unter Oskar Dirlewanger eingeäschert, 149 Menschen, darunter 75 Kinder wurden in einer Scheune verbrannt.
Der einzige Überlebende, der Dorfschmied Jossif Jossifowitsch Kaminski, berichtet:
„Auch ich wurde in die Scheune getrieben. Meine kleine Tochter, mein Sohn und meine frau waren schon drin. Und viele, viele andere. Ich sagte zu meiner kleinen Tochter: „Warum habt ihr nichts an?“- „Sie haben uns doch die Sachen runtergerissen“, antwortet sie. „Den Pelz haben sie mir weggenommen, ausgezogen haben sie uns …“ Leute wurden in die Scheune getrieben, dann wurde wieder zugemacht, wieder wurden welche reingestoßen, und wieder wurde zugemacht. Es wurden so viele Menschen zusammengepfercht, dass man nicht mehr frei atmen, nicht mal mehr die Arme heben konnte. Die Leute schrien, die Kinder! Das ist eine bekannte Tatsache: Je mehr wir sind, desto größer ist unsere Angst. Heu und Stroh lagen da, das wurde für die Kühe gebraucht. Oben legten sie dann Feuer. Sie steckten die Scheune von oben an. Das Dach brannte, Feuer fiel auf die Menschen, und Heu und Stroh fing an zu brennen, die Leute rangen nach Luft, keuchten, drängten sich zusammen, dass man einfach nicht mehr atmen konnte. Unerträglich. Ich sagte zu meinem Jungen: „Stemm dich mit Armen und Beinen gegen die Wand, stemm dich!“ Da wurde die Tür aufgemacht. Sie wurde aufgemacht, aber die Leute gingen nicht, rannten nicht hinaus. Warum nicht? Ja, sie schießen dort an der Tür, hieß es. Sie schießen. Das Geschrei war so groß, dass dieses Schießen, dieses Rattern gar nicht zu hören war. Das ist ja bekannt, die Leute brannten, Feuer fiel herunter, dazu die Kinder – ein Geschrei war das! Ich sagte zu meinem Jungen: „Sieh zu, dass du irgendwie über die Köpfe weg rauskommst!“ Ich half ihm hoch. Ich selbst versuchte es unten zwischen den Beinen durch. Da fielen Tote auf mich, Tote, ich konnte kaum atmen. Ich schüttelte sie ab – damals war ich noch kräftiger – und kroch los. Kaum war ich an der Schwelle, da stürzte das Dach ein, es krachte herunter, und das Feuer deckte alles zu! Ehe ich noch richtig draußen war, verpasste mir eins mit dem Gewehrkolben, dass die Zähne nur so rauspurzelten. Und mein Junge hatte es auch geschafft, rauszukommen, ihm waren bloß die Haare ein klein bisschen versengt. Fünf Meter rannte er, dann streckten sie ihn mit dem Maschinengewehr nieder … streckten ihn nieder … Unser Nachbar, Taddej, torkelte aus dem Feuer, fiel auf mich, setzte sich hin, er brannte wie ein Baumstamm, rot, und sein Blut floss auf mich … „Rette mich!“ schrie er. „Rette mich!“ Dann fuhren die Deutschen weiter. Ich ergriff den Jungen, zog ihn, aber die Därme schleiften schon hinter ihm … Er fragte nur noch, ob Mutter lebte, die Schwester … Möge Gott jeden auf Erden vor so was bewahren“ Dass Niemand so ein Leid zu sehen und zu hören kriegt!“
(Abgedruckt in Ales Adanowitsch, Stätten des Schweigens, Köln 1985, S. 192 f.; Ergänzung 2018: vgl. Paul Kohl, „Ich wundere mich, dass ich noch lebe“ – Sowjetische Augenzeugen berichten, Gütersloh 1990, S. 106-109)
Das Denkmal des Jossif Kaminski, der den verstümmelten Leichnam seines Sohnes auf den Armen hält, bildet den Eingang der Gedenkstätte. Sein Gesicht ist düsterstes Grauen.
Für jedes Gehöft steht ein nackter Kamin mit einer Glocke, die alle 30 Sekunden schlägt. Auf einer Tafel Namen und Alter der ermordeten Familienmitglieder, z.B. 15, 13, 11, 9, 5 Jahre. Vier symbolische Brunnen, offene Tote symbolisieren Gastfreundschaft.
Friedhof er toten Dörfer: 186 Dörfer verbrannten die Faschisten mitsamt ihrer Bewohnern in Belorussland – 34, 68, 175, 366 Tote. Denkmal der vernichteten und nach 1944 wiederauferstandenen 433 belorussischen Dörfer. Ihre Namen bilden die „Zweige“ eines „Lebensbaumes“.
Bericht des Oberleutnants der Schutzpolizei Müller (10./Polizeiregiment 15) über die Vernichtung des Dorfes Borky/Weißrussland, in der Zeit vom 22.9. bis 26.9.1941:
„10./Pol.15 O.U., den 28. September 1942
Am 21.9.42 erhielt die Kompanie den Auftrag, die Ortschaft Bokry, 7 km ostwärts Mokranie, zu vernichten.
In den Nachtstunden des selben Tages wurden die Züge der Komp. Über den bevorstehenden Einsatz in Kenntnis gesetzt. Vorbereitungen waren zu treffen.
Die Zahl der Kraftfahrzeuge reichte voll aus, um am 22.9. sämtliche Züge und der unterstellte Zug der 9. Komp. Verlastet zum Sammelpunkt Mokranie zu ringen. Die Fahrt verlief reibungslos. Ausfälle waren nicht zu verzeichnen.
Die für die durchzuführende Aktion erforderlichen Panjewagen wurden rechtzeitig bereitgestellt, so dass sie das Marschziel Borky zur befohlenen Zeit erreichten. Bei der Bereitstellung der Panjewagen wurden einige unwillige Bauern namentlich festgestellt, deren Bestrafung durch die Komp. veranlasst ist.
Die Durchführung der Aktion verlief planmäßig, doch mussten die einzelnen Abschnitte der Aktion zeitlich verschoben werden. Diese Verschiebung hatte im Wesentlichen folgenden Grund: (…) gelang es mir, alle Bewohner des Dorfes restlos zu erfassen und zum Sammelplatz zu verbringen. Als vorteilhaft hat sich erwiesen, dass der Zweck des Zusammentreibens der Bevölkerung bis zum letzten Augenblick unbekannt blieb. Auf dem Sammelplatz herrschte Ruhe und die Zahl der Bewachungskräfte konnte auf ein Minimum beschränkt werden und der weiteren Aktion zur Verfügung stehen. Das Schaufelkommando erhielt die Spaten erst am Exekutionsplatz, auch dadurch blieb die Bevölkerung von dem Bevorstehenden in Unkenntnis. Unauffällig aufgebaute LMG erstickten eine aufkommende Panik im Keime, als die ersten Schüsse von dem 700 m entfernten Exekutionsplatz zu hören waren. 2 Männer, die versuchten einen Fluchtversuch zu machen, fielen nach wenigen Schritten unter dem M.G.-Feuer zusammen. Die Exekution begann um 9.00 Uhr und hatte um 18.00 Uhr ihren Abschluss gefunden. Von 809 Zusammengetriebenen wurden 104 als politisch zuverlässig und deren Angehörige auf freien Fuß gesetzt, darunter befanden sich bewährte Arbeiter des Gutes Mokranie. Die Exekution verlief reibungslos, das Verfahren erwies sich als durchaus zweckmäßig.
Das Sicherstellen des Getreides und Gerätes verlief bis auf die zeitliche Verschiebung planmäßig. Die Zahl der eingesetzten Panjewagen erwies sich als ausreichend, da die Mengen an Getreide nicht groß und die Sammelstellen des ungedroschenen Getreides nict zu weit waren …
Haus- und Ackergerät wurden im Rahmender Getreidefuhren mit sichergestellt.
Im folgenden eine zahlenmäßige Übersicht der Exekutierten. Die Zahl der Exekutierten belief sich auf 705 Personen. Davon fielen:
Auf Männer 203, auf Frauen 372, auf Kinder 130.
Die Zahl des zusammengetriebenen Viehes kann nur ungefähr gebracht werden, da eine genaue Übersicht auch an der Sammelstelle nicht gegeben war: Die Zahlen belaufen sich auf folgende: 45 Pferde, 250 Rinder,65 Kälber,450 Schweine und Ferkel, 300 Schafe. (…)
An Gerät wurde sichergestellt: 70 Panjewagen, 200 Pflüge und Eggen, 5 Reinigungskasten für Getreide, 25 Häckselmaschinen und anders Kleingerät. Sämtliches sichergestelltes Getreide, Gerät und Vieh wurde dem Verwalter des Staatsgutes Mokranie übergeben (…)
Bei der Aktion Borky wurde an Munition verbraucht:
Gew.-Mun. 786 Schuss
Pist.-Mun. 2496 Schuss.
Ausfälle hatte die Kompanie nicht. Ein Wachtm. wurde wegen vermutlicher Gelbsucht in s Lazarett in Brest eingeliefert.
Müller, Oberleutnant der Sch. u. stellv. Komp. Führer“
(abgedruckt in Eine Schuld, die nicht erlischt – Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion, Köln 1987)
Gedächtnismauer: Große und kleine Nischen erinnern an die in insgesamt 263 Konzentrationslagern umgebrachten Häftlinge – 18.000, 20.000, 27.000 Häftlinge, 9 km von Minsk allein 206.500 Häftlinge. (Anmerkung 2018: Die letzte Opferzahl ist die von Malyj Trostenez)
Am Kopf des Friedhofs der toten Dörfer die Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus in Belorussland insgesamt: Ein Viertel der Bevölkerung, 2 Millionen 230.000 Menschen. Die ewige Flamme für jeden vierten, drei Birken für die Überlebenden. 209 Städte und Ortschaften, 9200 Dörfer waren in Schutt und Asche gelegt worden.
Heute, Sonntag, ist der Andrang von Besuchergruppen groß: alle Altersgruppen, auch etliche Soldatengruppen, eine chinesische Delegation. (…)
Museum für belorussische Volkskunst (…)
Historisches Museum von Belorussland:(…)
Große Markthalle (…)
Kulturpalast der Eisenbahner: Uns empfängt der heute aus dem Urlaub zurückgekehrte, dynamische Direktor dieser 100 Beschäftigte zählenden Einrichtung. Später kommen zwei Schauspieler eines Leningrader Jugendtheaters hinzu – bei ihnen macht schon das Zusehen beim Reden Spaß (…)
Die Perestroika hätte – so der Direktor – über kurz oder lang kommen müssen. Die Verhältnisse seien wie ein Geschwür gewesen, das irgendwann aufbricht. Er sein anfangs vom zuständigen Parteikomitee gefragt worden, ob er schon „umgestellt“ habe. Seine Antwort: Das sei nicht notwendig, da er schon immer gute Arbeit gemacht habe. Erbringt den Witz von einer Krähe, die mit dem Schwanz nach vorne fliegt, weil sie sich „umgestellt“ hat. Ein Kernproblem sieht man bei den Faulenzern und Bummelanten. Unsere Einwände, dass gerade gesellschaftliche Verhältnisse bei vielen Menschen demotivierend wirken, stoßen auf reichlich Unverständnis. Unter Hinweis auf ihre eigene Schöpferbegeisterung vertreten sie deutlich individualistisches Leistungsdenken. Dass jeder seines Glückes Schmied sei, liegt nicht mehr fern.
15. August
Vormittag mit Stadtplanern – Ebene Abteilungsleiter – aus dem Institut „Minsk-Projekt“.
Das alte Minsk (Gründung offiziell 1067) wurde im Krieg zu 80% zerstört, von 332 Industriebetrieben standen noch 19 – aber nur deshalb, weil man sie nach der Befreiung sofort entmint hatte. Es gab Überlegungen, Minsk überhaupt an einer anderen Stelle wiederaufzubauen. Heute hat die Stadt 1,6 Mio. Einwohner, jährlich kommen 35.000 hinzu (…). Für 2000 rechnet man mit 2 Mio. Einwohnern.
Da Minsk weder am Meer noch an einem großen Fluss liegt, wurde der Beeinflussung des Stadtklimas besondere Beachtung geschenkt: Anlage von künstlichen Gewässern, von Parks umsäumt; das System der Grünanlagen und Gewässer verbreitert sich nach außen. Die für die Bewohner schnell erreichbaren „Erholungszonen“ gehen über in die „Sanierungszone“, die sich als Waldgürtel in einem 25-km-Ring um die Stadt zieht. So soll die Durchlüftung der Stadt gewährleistet werden.
Wohnungsbau: Nach dem Krieg war allererste Devise, die Menschen überhaupt mit Wohnungen zu versorgen. Heute werden 17.000 Wohnungen pro Jahr errichtet. (…) Neun Satellitenstädte sind inzwischen angelegt worden, die Wohnhäuser haben 9, 12, 14 und 16 Stockwerke. (…) Das dichter Zusammenleben mehrerer Generationen gilt als ein zentraler Grund für die enorme Scheidungsrate in der UdSSR (2. Platz weltweit). (…)
Verkehr: Angestrebt wird eine maximale Fahrtzeit Wohnung – Arbeitsplatz von 30 Minuten. Ein erstes 10 km Teilstück der Metro ist in Betrieb, drei Linien sind geplant. (…) Zzt. kommen 80 Pkw`s auf 1000 Einwohner, geplant sind 150. Wir erleben den Verkehr meist als relativ dünn auf großzügigen Straßen, erinnerlich ist mir ein einziger kleinerer Stau.
(…)
Die Rückfrage der Stadtplaner, ob die grünen ´Großstädte auflösen` wollten (nicht nur Maschinen-, auch Stadtstürmer!), kann differenziert verneint werden. Als Gastgeschenke überreichen wir nach der Stadtrundfahrt durch Neubaugebiete die Bildbände „Wasserschlösser im Münsterland“, „Wiederaufbau Münsters nach dem Krieg“ sowie das GAL-Plakat „Gegen Filz und Spekulanten“.
(Bei der Rundfahrt wird auf Seiten der Stadtplaner ziemliche Bewunderung für bundesrepublikanische Fortschritte z.B. bei der Energieeinsparung deutlich).
„Haus des Lehrers“ – Treffen mit Deutsch-Lehrerinnen: Die Einrichtung wird von der Lehrergewerkschaft betrieben. Ihre Aufgaben sind: Kulturarbeit, politische Arbeit, Arbeitsmöglichkeiten für Laienkollektive, acht Klubs … (…)
Aus den Erfahrungen der letzten IBB-Gruppe klug geworden, die bei ihrem Besuch im Haus des Lehrers nur ein langweiliges „Gespräch“ mit den offiziellen Wortführern hatten, gelingt uns eine kleine Überrumpelung. In drei Gruppen mit je vier bis fünf Deutsch-Lehrerinnen können wir uns recht intensiv unterhalten. Bemerkenswert, dass in den Stufen 10-16 Jahren ca. 30% Deutsch als erste Fremdsprache wählen. Allerdings ist die materielle Ausstattung für den Deutsch-Unterricht reichlich dürftig – wir versprechen Nachschub.
Zum Abschluss tritt für uns eine Gruppe pensionierter Lehrerinnen auf. Die alten Damen in ihren Festgewändern spielen und singen uns einige muntere Lieder, eine liest sogar ein Heine-Gedicht vor. Die jüngeren Deutsch-Lehrerinnen finden`s – nach ihrem Gemurmel zu urteilen – offenbar eher peinlich. Ich empfinde blanke Rührung. Fast alle tragen Orden. Was mussten sie und ihre Familien alles unter der deutschen Besatzung erleiden?
Die Gastgeschenke sind wieder sehr passend, u.a. ein ganzer Stoß deutscher Literatur. Richard macht`s, Lenin darüber strahlt in der Nachmittagssonne. (…)
16. August
Museum der Großen Vaterländischen Krieges (1944 begonnen):
Plan Barbarossa, Kampf um die Festung Brest, 26. Juni Minsk, Kampfszenen im Modell (zwischen Bialystok und Minsk erste große Vernichtungsschlacht mit ca. 300.000 sowjetischen Gefangenen); Stalinrede „kämpfen bis zum letzten Blutstropfen! Partisanenverbände aufbauen!“
Verteidigung von „Heldenstädten“ (Minsk ist eine), von Moskau. Beerdigung eines vorbildlichen sowjetischen Generals durch die deutsche Wehrmacht mit allen militärischen Ehren („so muss jeder Soldat kämpfen“). Leningrad: 125 g Brot Tagesration, 600.000 Menschen verhungerten; 40.000 kamen bei Luftangriffen um. Stalingrad: Ein Haus wurde 58 Tage verteidigt, es galt beim deutschen Oberkommando als „Festung“.
Besatzung: „Der Russe muss sterben, damit wir leben!“ („Die stramme 6. Kompanie“ 1941) Aufruf des Befehlshabers der besetzen Gebiete an die Bevölkerung: Bei wem Waffen gefunden werden, wer sich gegen die Wehrmacht „feindselig verhält, wir auf der Stelle erschossen“ („Freischärler, Flintenweiber, Spione, Agenten, kommunistische Hetzer, aber auch die Helfer und Hintermänner solcher Frevler“), Androhung von Kollektivstrafen, Geiselnahme, Niederbrennung von Häusern.
Nachgebaute Zelle des Minsker SD-Gefängnisses; Modell eines KZ; Urne mit Teilen der Asche von 6.000 Toten aus dem Lager nahe Minsk. In den Kriegsgefangenenlagern wurden die Gefangenen auf freiem Feld „untergebracht“. Feuermachen war verboten, Verpflegung gab es nur alle sechs Tage.
Partisanenkampf: In Minsk im Juli 1941 schon 28 illegale Gruppen, 1942/43 im Bereich der Heeresgruppe Mitte etwa 80.000 Kämpfer, Mitte 1944 in Belorussland 140.000 Männer und Frauen. Der Generalkommissar für „Weißruthenien“, Wilhelm Kube („Allein mein Name muss jeden Weißrussen und Russen in Schrecken versetzen. Ihr Gehirn muss zu Eis erstarren, wenn sie den Namen Wilhelm Kube hören“) wurde von drei Partisaninnen 1943 mit einer Mine getötet.
In der dreijährigen Besetzung von Minsk wurden mehr als 1000 Untergrundoperationen durchgeführt. Minsk ist unter den acht (?) sowjetischen „Heldenstädten“ die einzige, die wehen des illegalen Kampfes ausgezeichnet wurde. Es gab regelrechte „Partisanenrepubliken“. Mit den Partisanenkämpften auch Antifaschisten aus Spanien, Polen, Jugoslawien, sogar Deutschland. (…)
Befreiung der Sowjetunion: Skulpturengruppe „Witwen des Friedens“, „Befreiungsmission der Roten Armee in Osteuropa“ (…)
„Saal des Sieges“, „Saal der Heldenstädte“, drei Säle mit den Namen der sowjetischen Militärverbände im 2. Weltkrieg, „Heldensaal“, „Leninsaal“ – hier finden regelmäßig feierliche Zeremonien statt.
Gespräch mit Vertretern des „Komitees der Kriegsveteranen“ (eine Stunde): Die ca. 70-jährigen, ordensgeschmückten VeteranInnen schildern ihre militärischen Lebensläufe.
- Einer, Angehöriger der Luftwaffe seit 1937, war bei der Befreiung von Minsk und den baltischen Republiken dabei, sah die Folgen faschistischer Herrschaft mit eigenen Augen, kam bis Berlin. Er wisse aber auch um die Opfer in Deutschland, z.B. Dresden. Er habe eine Patenschaft zu zwei Schulen, „um die Schüler die Liebe zu Vaterland und Heimat zu lehren“.
- Eine 70-Jährige meldete sich freiwillig an die Front, war Scharfschützin.
- Eine ehemalige Partisanin bezeichnet sich als „Ausstellungsstück dieses Museums“. Sie hat hier von Anfang an gearbeitet und war zuständig für die Abteilung Besatzung und Partisanen. In der Regierungskommission zur Aufdeckung der Nazi-Verbrechen in Belorussland war sie Mitglied. Sie erinnert sich, wie am 22. Juni 1941 übers Radio die Nachricht vom deutschen Überfall kam (die Regierung solle über den bevorstehenden Angriff Nachrichten gehabt, diese aber nicht genommen haben), am Abend des 24. Juni stand Minsk in Flammen. Der Gegner sei sehr brutal gegen die Zivilbevölkerung gewesen, „russisches Schwein“ sei ein geflügeltes Wort gewesen. Sehr viele erhängte, erschossene Menschen habe sie gesehen, darunter viele Frauen, Kinder. Vom Komsomol sei sie so erzogen worden, nicht in jedem Wehrmachtsangehörigen einen Faschisten zu sehen. „Aber jeder fremde Soldat im Land war ein Feind. Das müssen Sie verstehen“. Diese Differenzierung zwischen Deutschen und Faschisten wird auch von einem anderen Veteranen gebracht.
- Der Veteranen-„Chef“ zum Schluss: „Euch steht eine ernsthafte Maßnahme bevor – das Mittagessen!“ Er wünscht uns Frieden – und dass auch die allerletzten schnell heiraten mögen!
Pawel übersetzt an einigen Stellen grammatikalisch falsch, aber inhaltlich umso richtiger: dass „Krieg ausgebrochen wurde“, dass Menschen „verhungert wurden“.
Dreistündiges Gespräch mit dem Geschichtsprofessor Iwan Bejdin (bei der Allunionsvereinigung „Wissen“ zuständig für Auslandsgäste; Kriegsteilnehmer, Führer zweier vom „Nationalkomitee Freies Deutschland“ organisierter bewaffneter Gruppen von ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, die im Hinterland vor allem Aufklärung betrieben; später bei der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und im Alliierten Kontrollrat):
Heute werde die sowjetische Geschichte kritisch betrachtet, viel Negatives komme dabei hoch, Gutes werde dabei vergessen („Schwarzmalerei“). Erreicht wurde in den 70 Jahren seit der Oktoberrevolution der Aufbau einer neuen Gesellschaft, die erfolgreich verteidigt wurde. (…) Fehler und Probleme seien dadurch entstanden, dass es noch keine Erfahrungen gab, aus denen man hätte lernen können. Repressalien wurden von Stalin zugelassen. (…) Bei allen Revolutionen habe es bisher solche Entwicklungen gegeben. (…) Vor allem die Kriegführung 1941 sei durch die vorhergehenden „Säuberungen“ und die Missachtung von Warnungen geschwächt worden. (…)
Zur Perestroika: Die politischen und juristischen Grundlagen würden nun geschaffen (Trennung zwischen Partei-. Und Staatsaufgaben, Rücknahme der absolut führenden Rolle der Partei …). Ein „sozialistischer Rechtsstaat“ soll geschaffen werden. (…) Zum Vorwurf, Perestroika sei vor allem eine Sache schöner Worte: P. sei nicht von heute auf morgen zu schaffen. „Wenn wir auf halbem Wege stehen bleiben, gibt es eine Katastrophe!“ Der Prozess dauere deshalb so lange, weil seine Träger keine ausformulierten Vorstellungen besäßen, das Programm entwickle sich etappenweise. Gegner seien Machthaber mit Privilegien und leitende Funktionäre, die an selbständiges Arbeiten nicht gewöhnt seien. (…)
Zu „Deserteuren“ und Deutschen auf sowjetische Seite: Für ihn ist der Begriff „Deserteur, auch wenn mit Anführungszeichen gebraucht, grundsätzlich beleidigend. In den Kriegsgefangenenlagern habe es einen bitteren Kampf gegeben zwischen Faschisten, „Umkehrern“ und Unentschiedenen. Nach der Schlacht am Kursker Bogen Gründung des „Nationalkomitees Freies Deutschland“, das an jedem Frontabschnitt Bevollmächtigte hatte. (…) Man stellte sich nicht in den Dienst der SU, sondern verstand sich als deutsche antifaschistische Gruppe von rechts bis links. (…)
Internationaler Freundschaftsabend im Bühnensaal des Hotels: Zunächst Gesangs- und Ballett-Darbietungen aus weißrussischen Gefilden, dann locker im großen Vorraum Vorführungen von MexikanerInnen, Polen, Mongolen (Zaubereinen, Paul als Medium), Italienern … und auch uns: Wolfgang M. singt als unser Vorsänger streckenweise herzerweichend den Song vom „brennend heißen Wüstensand““ und Einsamkeit, wir als Chor „so schön, schön war die Zeit“ … und dabei schön wippend. In der zweiten Runde weren wir inhaltlich-getragen: „Darum Menschen achtet und trachtet, dass sie es bleibt …“
Nach den Delegationsdarbietungen Ratespiele, Tanzspiele, Tanzerei, schweißtriefende Gemeinschaftserlebnisse, private Entfaltungen (…)
Im kleinen Kreis Gespräch mit drei Frauen und einem Mann einer Grippe von „global family“. In Minsk gebe es sieben Gruppen zu je 30 Leuten, in der SU insgesamt 200. (…)
In einer als Kooperative organisierten Gruppenpraxis betreibt man ganzheitliche Medizin, berücksichtigt Schadstoffbelastungen in der Umgebung der Kranken, betreibt Aufklärung für gesündere Ernährung.
17. August
Tagesseminar mit Mitgliedern des Belorussischen Friedenskomitees (das Programm kam zustande, indem wir erste Wünsche anmeldeten und die sowjetische Seite dann einen Vorschlag zusandte …)
Wir bauen einen geradezu üppigen Stand mit Materialien, Plakaten usw. zur freien Bedienung auf.
Plenum im Kinosaal, auf dem Leitungstisch die sowjetische und deutsche Fahne. Die ca. 20-köpfige sowjetische Gruppe ist ausnahmslos männlich, fast nur „etablierte“ Altersgruppen der 40er und 50er, z.Z. drüber, etliche Professoren, Veteranen, der UN-Delegierte von Belorussland.
„Die Friedensbewegung in der BRD und ihr Einfluss auf die Politik der Bundesregierung in Abrüstungsfragen“: Was Renate und ich eigentlich per Dias präsentieren wollten, müssen wir nun rein verbal überbringen – aber es kommt wohl auch über (Themen der Friedensbewegung, Aktionsformen, Phase nach der Stationierung mit thematischer Auffächerung, Bilanz der Friedensbewegung und ihrer Wirkung).
Anknüpfend an das zentrale Thema der FB „Versöhnung und Frieden mit den Völkern der SU“ übergebe ich unsere
Dokumentation „Spuren des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und anderer Kriege gegen Russland im Münsterland“ stellvertretend dem Veteranen und „Helden der Sowjetunion Bardanoff. Zusammengestellt haben wir in dieser Dokumentation
a) Die Militär- und Polizeiverbände aus Westfalen, die seit den napoleonischen Kriegen gegen Russland zogen, die Spuren ihres Wütens, Fotos ihrer Denkmäler,
b) Die Orte in Münster und Umgebung, an denen sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter gefangen gehalten, hingerichtet, beerdigt wurden,
c) Listen der hie umgekommenen und umgebrachten Sowjetbürger und ihrer Gräber (Stadt und Landkreis Münster, Dülmen, Bocholt).
Während wir bei den Gräbern als Spuren auf die Arbeiten von Marcus Weidner zurückgreifen konnten, waren die anderen Zusammenstellungen Neuland. Groß geworden sind viele von uns mit den Drohungen „der Knecht Ruprecht kommt“ und „die Russen kommen“. An der Militärgeschichte Westfalens zeigt sich konkret und exemplarisch, was die Wirklichkeit war: „Die Deutschen kommen!“
Listen der in Deutschland im 2. Weltkrieg gestorbenen Sowjetbürger sind bisher nur aus zwei Bundesländern – NRW nicht – in die UdSSR weiter geleitet worden!
Gewidmet ist die Dokumentation
„den zahllosen sowjetischen Opfern der in dieser Dokumentation genannten Militär- und Polizeiverbände aus Münster und Westfalen.“
Sie endet mit den Worten
„WIR DÜRFEN NIEMALS VERGESSEN! FÜR VERSÖHNUNG UND FRIEDEN MIT DEN VÖLKERNDER SOWJETUNION!“
Der anwesende TASS-Reporter will die Dokumentation zum Aufmache eines größeren Artikels über das heutige Friedensseminar machen.
Es folgt das Referat „Die Tätigkeit der sowjetischen Friedensanhänger zur Verwirklichung einer Politik der Abrüstung in er gegenwärtigen Etappe“, gehalten von einem etwas jüngeren Abgesandten der Moskauer Zentrale des sowjetischen Friedenskomitees: Sein streckenweise polit-wolkiger Stil macht Zuhörern und Mitschreiben schwer, deshalb hier nur vereinzelte Splitter:
Das Treffen sei ein wichtiges Ereignis der Volksdiplomatie; Raketenzerstörung in Kasachstan; INF-Vertrag erster gemeinsamer Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen, Perestroika habe gute Voraussetzungen für gesellschaftliche Organisationen und Bewegungen geschaffen, die Tätigkeiten traditionelle Organisationen, z.B. des Friedenskomitees, weiteten sich aus; es si von der Kritik der ausländischen Partner gelernt worden; Diskussionsclub zu Frieden + Ökologie, Frieden + Menschenrechten seien entstanden, „Rock für den Frieden“; an des Diskussionen beteiligten sich auch solche, die früher als „Dissidenten“ bezeichnet wurden; die militärisch-patriotische Erziehung habe sich früher bewährt, müsse aber jetzt auf eine neue, den heutigen Verhältnissen entsprechende Stufe gestellt werden; ?
Früher sei das Friedenskomitee in erster Linie für Auslandskontakte zuständig gewesen (in de „Phase der Stagnation“ sei auch die politische Aktivität der Bevölkerung beschränkt gewesen), jetzt angesichts einer regelrechten Explosion gesellschaftlicher Aktivitäten trete die Arbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, die Einbeziehung der Bevölkerung immer mehr in den Vordergrund.
Das FK verfüge über ein Informationszentrum, wo Informationen für die Bevölkerung erarbeitet würden. Ein Institut für Frieden und Abrüstung soll an der Akademie der Wissenschaften aufgebaut werden. (Die bisherige Konstruktion des FK von oben nach unten wird offenkundig, die Zentralisierung von Expertentum etc. Demgegenüber wir als Gruppe von Basisaktivisten und „Laienexperten“.)
10.45-12.00 Arbeitsgruppen
1. Ursachen und Folgen des Wettrüstens: Die Diskussion leidet etwas unter der Tatsache, dass hier von sowjetische Seite vor allem Ökologen versammelt sind, die auch am liebsten über solche Themen sprechen würden.
Thema Feindbilder (hierfür waren von uns Karikaturen gesammelt worden): Die sowjetischen Partner behaupten, in der SU sei das kein Problem, gebe es keine Feindbilder; eine sonderliche Sensibilität scheint in diesem Bereich nicht vorhanden zu sein. Propaganda a la Rambo ist ihnen neu.
Ökologie: Saurer Regen aus dem Westen, der sowjetische Wälder schädigt, radioaktiver Niederschlag aus Tschernobyl, er bei uns Nahrungsmittel verstrahlt – der grenzüberschreitende Charakter ökologischer Probleme ist allen klar. Allerdings scheint man noch einem schlichten technokratischen Ökologie-Verständnis anzuhängen: mit Grüngürteln und entsprechendem know-how meint man, die Probleme schon in den Griff zu bekommen.
Bei Besuchen in der BRD trifft man wohl auch nur mit „offiziellen“, nie mit Alternativ-Experten zusammen.
Bei der Atomenergie wird der Dissens ganz deutlich, sie gilt des Sowjets weiter als unverzichtbar; aus Tschernobyl habe man die Konsequenzen gezogen (Erhöhung der Sicherheitsmaßstäbe, AKW-Neubauten nur noch in dünner besiedelten Regionen, weshalb auch das fast fertige AKW nahe Minsk nicht weiter gebaut wurde), das Atommüllproblem scheint nicht sonderlich präsent zu sein, auf die von uns vorgestellten Alternativvorschläge reagiert man eher ungläubig-abwertend (hier ist der Informationsstand deutlich zurück).
2. Einschätzung des INF-Vertrages: Während von uns der Vertrag nicht ohne bzw. mit Skepsis beurteilt wird, ist er in den Augen der FK-Männer total positiv. In der Vergangenheit habe die sowjetische Seite sich z.B. in der Frage der Kontrolle falsch verhalten, heute blockiere die USA. Angesichts des westlichen Verhaltens an den verschiedenen Verhandlungsplätzen beurteile man die weiteren Chancen von Abrüstung skeptisch. Wir fordern einseitige Abrüstungsschritte der BRD, die sowjetischen Partner lehnen einseitige Schritte ihres Landes ab, das Verhalten der USA gegenüber dem sowjetischen befristeten Atomteststopp habe diesen Weg als unmöglich erwiesen. Anzustreben sei eine gleichgewichtige Abrüstung auf möglichst niedriges Niveau. Defensivverteidigung, Auflösung der Militärblöcke seien dabei keine Tabus. Wirtschaftlichen Beziehungen ordnet man einen hohen Stellenwert zu (Entspannungsfaktor).
Der Diskussionsverlauf wird durch die Aneinanderreihung längerer Statements behindert.
3. Die Entwicklungsländer: Schwierigkeiten, Probleme und mögliche Lösungswege (eigentlich wollten wir dieses Thema weniger; da Umstellung nicht mehr klappt, diskutieren wir hier aus dem Stand mit)
*Übereinstimmung erzielen wir weitgehend in der Sicht der Hauptprobleme und Ursachen. Einige Aspekte wie Verschuldung, Abholzung der Regenwälder, Giftmüllexporte in die 3. Welt (hier kommen aber auch die peinlichen in die DDR zur Sprache), werden ergänzt.
Der belorussische UN-Vertreter berichtet von der Diskussion um Statuten für transnationale Kooperation: seit 7 Jahren in der Mache, Vorschlag von Belorussland (es sollen jeweils z.B. die Umweltnormen des Landes international gelten, wo sie am schärfsten sind) wurde auch von der BRD abgelehnt.
Gegenüber Waffenexporten äußern wir unsere grundlegende Ablehnung, die FK-Leute hingegen stellen die sowjetischen Lieferungen als Hilfe zur Selbstverteidigung dar. (Mangels konkreter Länderbeispiele unterbleibt von uns aus die Gegenargumentation, die zeigen würde, dass „proletarischer Internationalismus“ bei den sowjetischen Waffenexporten schon lange nicht mehr das treibende Motiv ist, dass es vielmehr und in erster Linie um Einfluss und Macht geht)
Befragt zu den sowjetischen Vorschlägen/Forderungen zur Entwicklungspolitik müssen wir passen. Was uns dann aber genannt wird, sind auch nur Normen der allgemeinen völkerrechtlichen Ebene.
Austausch über Stand und Aktivitäten im Bereich der humanitären Hilfe (der erfreulichste Aspekt, der aus der BRD zu berichten ist: sehr viele Basisaktivitäten).
Nach anfänglicher Gegenwehr wird später doch zugegeben, dass die SU früher so manchen Gigantismus gefördert habe, Unserem Abriss einer alternativen Entwicklungspolitik (Grundbedürfnisse, angepasste Technologien, Initiierung von Entwicklungsprozessen, nicht Expertenexport, Rolle von IWF und Weltbank) wird voll zugestimmt.
Von den Sowjets sprechen einige deutsch, der junge Übersetzer spricht akzentfrei – allerdings auch reichlich arrogant. Im Plenum Zusammenfassung der Gruppenergebnisse.
Nachmittag und Abend im Beresino-Naturschutzgebiet, zwei Stunden mit dem Bus von Minsk entfernt: Am Oberlauf der Beresina, ab 1925 errichtet, eines der ältesten Naturschutzgebiete der SU. Es besteht zu 60% aus Sümpfen, die meist noch im ursprünglichen Zustand sind. Zzt. gebe es in der SU 23 Naturschutzgebiete mit den Aufgaben (a) Erhaltung der ursprünglichen Natur, (b) wissenschaftliche Untersuchungen, (c) Propagierung der Ideen des Natur- und Umweltschutzes. Diarama mit Landschaftsausschnitt.
Museum: Naturszenen in Originalgröße ohne Verglasung, aber mit Ton. Elche, Marder, Wisente, Wölfe, Braunbären, Nerz. In der Vogelabteilung konstatieren wir eine enge Verwandtschaft zwischen Beresino-Naturschutzgebiet und Münsterland. „Auch wir haben einen Sumpf, allerdings aus Menschengemachtem (Rieselfelder). Wir werden überprüfen, welche Vögel von Ihnen zu uns und welche von uns zu Ihnen fliegen.“
Schule: liebevoll gestaltet. Im schuleigenen Heimatmuseum , das von Lehrern und Schülern aufgebaut wurde, auch ein Teil über den Vernichtungskrieg – drei Dörfer des Naturschutzgebietes wurden verbrannt, Bilder von in den Flammen umgekommenen Kindern. In der Schulmensa wachsen hinter der Glasfront Kakteen und andere tropische Gewächse. (…) Wegen Zeitverzögerung fällt unser Dia-Vortrag zu Friedens- und Öko-Bewegung in der BRD ganz aus.
Opulentes Abendessen, zu dem wir als Gastgeschenke westfälische Spezialitäten (Schinken, Pumpernickel, Steinhäger, Bier) anbieten. Vor allem die Flüssigkeiten weren voller Begeisterung aufgenommen. Die Köpfe röten sich, die Stimmung steigt. Einzelne witzige Toasts. Eine unserer Frauen konstatiert einen deutlichen Charme-Vorsprung der russischen Männer. Veteranen „beanspruchen“ wegen ihrer vaterländischen Verdienste als erste mit Steinhäger nachversorgt zu werden. Ein Glück, dass wir nur zwei solcher Flaschen dabei haben! Es wäre die große Völkerfreundschaft und Wegsackerei geworden. Ein Vorbild in Selbstbeschränkung.
So bleibt uns noch Kraft für zwei Referate zur Ökologie. Der Direktor des Instituts für experimentelle Botanik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR: Wie in anderen Staaten gebe es auch in der UdSSR ökologische Krisengebiete. Eingriffe in die Natur seien für diese immer negativ. Also sei es die Aufgabe, die Folgen dieser Eingriffe abzuschätzen. In Belorussland sei die Gewinnung von Neuland eine zentrale Aufgabe (Trockenlegung von Sumpfgebieten). Es sei gelungen, die Negativwirkungen dabei zu minimieren. Seit jüngster Zeit spiele die öffentliche Meinung eine zentrale Rolle: Z.B. seien in Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und öffentlicher Meinung ein Staudammprojekt zwischen Belorussland und Estland sowie ein AKW nahe Minsk zu Fall gebracht worden. (Ob es zzt. etwa größere Durchsetzungschancen von unten gegen etablierte Politik gibt als bei uns, wo die Macht- und Wirtschaftskartelle so fest im Sattel sitzen?)
Wolfgang B. referiert druckreif zu Altlasten und Sanierung (alte Industrieregion NRW), zu den sich entwickelnden Reaktionen der Industrie auf die Umweltkrise, zu AKW`s, Bewegung für`s Energiesparen. Widmung ins Museumsbuch: „Ihr habt die Erde nur von Euren Kindern geborgt.“
Nach kurzer Diskussion stimmungsvolle Übergabe des Stapels an Gastgeschenken an die Schule, das Friedenskomitee und die Ökologen, herzlicher und langanhaltender Abschied.
18. August
Kindergarten in einem Neubauviertel: Wir werden mit Brot und Salz empfangen, Führung. 400 Kinder werden in Gruppen zu je 20-30 betreut über maximal 12 Stunden von je zwei Erzieherinnen und einer Helferin. Diese arbeiten fünf mal sieben Stunden in der Woche für 100-170 Rubel/Monat, die Direktorin 230 R. Die Gruppe für sprachbehinderte Kinder bleibt auch über Nacht. Folgen übermäßigen Fernsehkonsums sind feststellbar.
20 putzig angezogene Kinder führen Lieder, Tänze und Sprechstücke vor. Eine Küchenkraft schmettert so laut ihre Lieder, dass sich einige Kinder die Ohren zuhalten. Gemeinsamer Tanz, friedensmäßige Ordensverleihung (Kinder bekommen von uns Friedens-Sticker angestickt). (…)
Besuch der „Belorussischen Gesellschaft für Freundschaft und kulturelle Beziehungen mit dem Ausland“, die in einem repräsentativen Bau residiert. Erschienen sind für uns ein bekannter belorussischer Schriftsteller, der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, Journalisten und Künstler, der Vorsteher der Minsker Kathedrale sei verhindert.
Funktion von Kunst und Literatur: Ihre Hauptaufgabe heute in der SU sei, Perestroika zu unterstützen. Viele Schriftsteller sein zzt. in erster Linie publizistisch tätig mit Interviews, Zeitungsartikeln. „Wenn ich viel Zeit habe, schreibe ich ein Buch. Heute haben wir wenig Zeit.“
Zur Meinungsfreiheit der Vorsitzende: Zu allen Zeiten habe er so geschrieben, wie er wollte. „Aber in gewissen Abschnitten unserer Geschichte gab es Momente, , Augenblicke, wo man ersuchte Künstler in einen Rahmen zu zwingen.“ Seit drei Jahren gebe es völlige Veröffentlichungsfreiheit, auch für solche, die „emigriert wurden“.
Große Sympathie äußert man gegenüber en Grünen: Ihr Anliegen sei lebenswichtig, über ihren Aufstieg sei am sehe erfreut. Die Tätigkeit der Grünen entspreche voll und ganz den Anforderungen an Künstler hier: Probleme erkennen, sie vertiefen und anpacken. „Die Entwicklung Eurer Partei bringt uns näher. Wir müssen heute das Gemeinsame und nicht das Trennende betonen.“
Intensive Auseinandersetzung um Atomenergie, die „sicherer gemacht werden soll.“ Überrascht ist man über die Existenz konkreter Szenarien für den schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. Entsprechende Zusendungen hätte man gerne. Ein Journalist und Künstler: „In der BRD wäre ich Mitglied der Grünen. In ihren würde ich aber dafür kämpfen, die Probleme zu Ende zu denken.“ (Hier stellt sich wieder heraus, dass wir dass wir das ökologische Interesse auf sowjetische Seite, ihr grünes Interesse an den Grünen unterschätzt haben und deshalb auch zu wenig vorbereitet waren)
Im Hotel Verabschiedung von Pawel, unserem immer bereiten, sehr fähigen, humorigen Übersetzer und Freund. Unser Dankgeschenk: ein Aufenthalt mit Familie in Münster.
Die Rückfahrt hat sich verkompliziert: Nicht mit dem Flugzeug, geht’s ab nach Berlin-Schönefeld, sondern erst mit dem Nachtzug nach Moskau (800 km östlich), von da mit dem Flugzeug zurück. Den sowjetischen Verantwortlichen ist es aber gelungen, den Umweg so lohnend wie möglich zu arrangieren.
20.00 Uhr Abfahrt von Minsk, eine Frau der Öko-Gruppe sowie der Kulturpalast-Direktor sind zum Abschied erschienen.
Milde Abendsonne. Blick auf das Riesendenkmal „Hügel des Ruhmes“ 21 km hinter Minsk, Erinnerung an die Befreiung Belorusslands im Juli 1944. Hier gerieten über 10.000 deutsche Soldaten in einen Kessel.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fahren wir durch Borisov an der Beresina. Hier fanden im Oktober 1941 Vernichtungsaktionen gegen Juden statt: Innerhalb eines Tages wurden 6.500 Juden aus dem Ghetto getrieben und in den umliegenden Wälder erschossen. (Dokumentiert in Krausnick/Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges, Stuttgart 1981, S.576-580); Anmerkung 2018: vgl. Paul Kohl, a.a.O., S. 113 ff. zu Borisov. Im Waldlager von Borisov befand sich das damals das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte mit Oberstleutnant Henning von Tresckow als Erstem Generalstabsoffizier, zugleich treibende Kraft im militärischen Widerstand gegen Hitler. Im Stab der Heeresgruppe stieß das Massaker in unmittelbarer Nachbarschaft auf Empörung. Tresckow bestürmte den Befehlshaber der Heeresgruppe; „Das darf nie wieder passieren. Darum müssen wir jetzt handeln. In Russland haben wir die Waffengewalt. Schreiten wir unnachsichtig ein, wird es Schule machen.“ Zit. Bei Bodo Scheurig, Henning von Tresckow, Berlin 2004, S. 126)
Der Zug braust über die weite Ebene, sternklare Nacht. Ich schaue und spüre durch`s offene Fenster: Hinter der Ruhe, dem Frieden der Nacht das Sengen und Morden, mit dem Wehrmacht, SS, SD jahrelang dieses Land überzogen, das endlose, namenlose Leid, das wie verflogen zu sein scheint. Das Russland des Verreckens – und der nachträglichen Abenteuergeschichten vieler ehemaliger Soldaten.
Gehen 6.00 Uhr Ankunft am belorussischen Bahnhof in Moskau. (…) Allen Schwierigkeiten zum Trotz schafft Joachim uns doch noch eine Führerin für die Stadtrundfahrt herbei – und die hat sich mit ihrer fröhlichen Frechheit gewaschen.
Während das Hotel in einer „besseren“ Gegend liege, gebe es andererseits einige ärmliche Viertel. Ein Viertel der Moskauer lebe in kommunalen Wohnungen, d.h. mehrere Familienmüssen sich eine Küche teilen etc. Brühwarm tischt sie uns die neuesten Katastrophenmeldungen auf: Von dem Zugunglück zwischen Moskau und Leningrad mitten in den Sümpfen. „Aber Sie haben ja Ihre Eisenbahnfahrt hinter sich.“ Vom Flugzeugabsturz des pakistanischen Präsidenten. „Aber – seien Sie beruhigt – die Chancen eines Absturzes stehen 1: 1 Mio.“
Bei der Lomonossow-Universitär spricht sie vom gigantomanischen Baustil. Kalinin-Prospekt, Arbat. Bei älteren Häusern kommt sie auf die verheerende Stadtplanung zu sprechen, der schon viele schöne Ecken zum Opfer gefallen seien. So stand an der Stelle des großen Freibades im Zentrum die große Kathedrale. Für Leningrad, die „schönste Stadt der Welt“, ist es ein Glück gewesen, dass es nicht zum Regierungssitz wurde. Denn dann wäre auch viel zerstört worden. Gegen die Zerstörungen habe es Proteste, Demonstrationen, Presseberichte, ja Blockaden gegeben. Studenten, die sich daran beteiligten, seien auf Schwarze Listen gekommen und benachteiligt worden.
Kreml von der Moskwa-Seite: Neben dem Schloss die verschiedenen goldkuppeligen Kirchen, die jede für eine Station im Leben der Zarenfamilie stehen, von der Geburt bis zum Tod.
Auf dem Roten Platz gibt sie ihre letzte Vorführung_ Kaum noch vor Lachen halten kann sie sich, als sie uns erzählt, , nun erlebe sie schon den dritten Tod Stalins – seinen leiblichen, seine Ausquartierung aus dem Lenin-Mausoleum, und nun wisse man nicht, wohin mit ihm. Zu den neu geschriebenen Geschichtsbüchern: Verwunderlich sei nur, wer die Autoren seien – die alten!
„Freigang“ vorbei am Grab des „Unbekannten Soldaten“ (…) und den Gedenksteinen für die „Heldenstädte“ durch dichten Fußgängerverkehr zum Arbat-Platz: In der Unterführung sind mindesten 20 Portraitmaler am Werk. In der anschließenden breiten Fußgängerzone massenweise künstlerische Umtriebe in Geschäften und auf der Straße, echt buntes, allen Vorstellungen vom grauen Osten widersprechendes Leben. Überhaupt gefällt uns Moskau bei der heutigen Kurzvisite viel, viel mehr als vor neun Jahren, als das Stadtbild noch von Parolen geprägt war. Jetzt ist`s eine stressige, aber äußerst lebendige Riesenstadt mit Schönheiten. Zugleich springen die endlosen Wohnmaschinen ins Auge, getrennt von großzügigen Straßenzügen und Parkanlagen. Wie weit sind wir hier weg vom kleinen und überschaubaren Münster – und wohl wie nahe der Zukunft eines Großteils der Menschheit.
Knappe zwei Stunden Flug nach Berlin-Schönefeld (…) Gegen Mitternacht zurück in Münster. Wir haben das Gefühl, als seien wir mehrere Wochen fort gewesen!
Auswertungsgespräch eine Woche später: (…) Zufriedenheit mit Programm, Organisation und Leitung hoch und allgemein. Mit dem IBB und Joachim als unsrem Reiseleiter waren wir ausgezeichnet bedient. Wir können beide dringend weiterempfehlen!
Dass wir fast nur Kontakte mit der mittleren Generation hatten, lag schlichtweg an der Ferienzeit. Auffällig war aber die recht hochrangige Zusammensetzung unserer sowjetischen Gesprächspartner. Zumindest auf der Gewerkschaftsschiene waren wir die erste (teil-)grüne Gruppe in Belorussland. Einige bemängeln, dass die sowjetische Seite relativ wenig Neugier gezeigt habe gegenüber den Verhältnissen und den Politik-Alternativen in der BRD. Aber vielleicht hing das auch damit zusammen, dass wir durch häufige Vergleichsfragen („bei uns wird das so gemacht/diskutiert, wie bei Ihnen?“) der Neugier das Wasser abgruben, die andere Seite unter Rechtfertigungszwang setzten. Denn immer wieder wurde deutlich, dass wir vorne waren in Problembewusstsein, ihnen ihr Bild vom technisch-wissenschaftlich-etc.-fortschrittlichen Westen ankratzten.
Unverkennbar war auch die Konsensorientierung auf sowjetische Seite („das Gemeinsame betonen, das Trennende hintanstellen“), die Betonung von Einheit, die wir ja auch aus der hiesigen traditionellen Szene kennen. Demgegenüber bei uns, in der links.-alternativen Szene eher Dissens-Orientierung, Primat der kritischen Abgrenzung.
Auch wenn manche Gesprächspartner nicht frei waren von ideologischer Phraseologie, auch wenn zu Perestroika stellenweise vorsichtig formuliert wurde (sich nicht zu weit aus dem Fenster hängen), so waren die Gespräche insgesamt doch offen und ergiebig.
Sehr zufrieden konnten wir schließlich mitunserer eigenen Vorbereitung sein, mit dem vorzüglich klappenden Wechsel der Verantwortlichkeiten bei den verschiedenen Besuchen und Gesprächen, mit unseren Gastgeschenken.
Die Begegnungsreise wird einiges nach sich ziehen:
- Artikel werden gemacht für die Tages- und Alternativpresse und andere Publikationen,
- ein Dia-Vortrag wird zusammengestellt, auf eigenen Veranstaltungen präsentiert sowie anderen Gruppen angeboten. Er soll ergänzt werden um Bilder zum Vernichtungskrieg, so dass damit ein weiterer Vortrag („Krieg gegen die SU“) zur Verfügung steht;
-. eine Ausstellung für den Info-Stand
- Veranstaltung im November zu Vernichtungskrieg und Aktualisierungen;
- Aktivitäten zu den offiziellen Veranstaltungen zum Volkstrauertag;
- Materialpakete an die Deutsch-Lehrerinnen, global family, den belarussischen Schriftstellerverband und das Friedenskomitee;
- die Einladung, Bewirtung usw. von Pawel
Münster, September 1988 Winni Nachtwei
Presseveröffentlichungen
- Ganzseitiger Artikel in „Wetscherni Minsk“ (Minsker Abendzeitung), Zeitung des Minsker Stadtkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands (240.000 Auflage) zum „Internationalen Gedenktag für die Opfer des Faschismus“, 10.9.1988
- Westfälische Nachrichten 13,10.1988, Münstersche Zeitung 21.10.1988
- Stadtblatt Münster 12.11.1988, Raster 49/1988 (Schülerzeitung Gymnasium Dülmen)
- Grüne Zeitung 11/1988
- KlarText Nr. 14, hrsg. vom AK „Überleben durch Abrüstung“ Münster
Nachbemerkung (2018):
Am 17. Oktober 1988, zwei Monate nach unserem Besuch in Chatyn bei Minsk, erfuhr ich in der Tagesschau von dem mutmaßlichen, in Münster lebenden Kriegsverbrecher Boleslavs Maikovskis. Dem ehemaligen Hauptmann der lettischen Hilfspolizei wurde vorgeworfen, maßgeblich an der Ermordung von 170 Einwohnern des ostlettischen Dorfes Audrini im Januar 1942 beteiligt gewesen zu sein. Vor dem Chatyn-Hintergrund wurde ich hellhörig, fand in meinem Archiv Dokumente zu Audrini und gab sie an den WDR weiter. Kurz später machte mich Paul Wulff auf den Bericht des Münsteraners Siegfried Weinberg aufmerksam, der im Dezember 1941 mit dem „Bielefelder Transport“ ins Ghetto Riga deportiert worden war. So kamen die Steine ins Rollen: Erster Riga-Besuch im Sommer 1989, noch zur sowjetischen Zeit, aber bei aufbrandender Unabhängigkeitsbewegung; am 12.12.1988 mein erster Vortrag „Verschollen in Riga“ – am 48. Jahrestag der Münster-Deportation; 1990-1994 Beobachtung des Maikovskis-Prozesses am Landgericht Münster; „Entdeckung“ der Villa ten Hompel, Sitz des Befehlshabers der Ordnungspolizei im Wehrkreis VI und seine Verwicklung in die Bewachung der Deportationszüge und Aufstellung von Reserve-Polizei-Bataillonen für den Kriegs- und Vernichtungseinsatz …
ANHANG (Auszüge):
Kriegsspuren – Dokumentationüber
Spuren des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und anderer Kriege gegen Russland in Münster (1988)
Unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1539
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: