Die Auslandseinsätze der Bundeswehr - Bilanz, Erfahrungen, Schlussfolgerungen aus der Sicht eines parlamentarischen Mitauftraggebers. Vortrag bei der Clausewitz-Gesellschaft in Mannheim
Von: Nachtwei amSa, 24 Oktober 2020 15:02:41 +01:00Zu Auslandseinsätzen gibt es oft mehr Meinung als Kenntnis, angefangen damit dass ihre diplomatischen, zivilen und polizeilichen Kompenenten meist ausgeblendet werden. Der Vortrag fußt auf meinen Erfahrungen mit diesen Einsätzen seit 1995, angefangen bei den Beratungen zu Dutzenden Mandatsentscheidungen bis 2009, mehr als 40 Besuchen vor Ort, Begegnungen mit Hunderten Einsatzrückkehrern (nicht zuletzt im Kontext der G36-Kommission und der AG "Einsatzrükkehrer" im Beirat Innere Führung) bis zu Recherchen und Veröffentlichungen zu Wirkungsanalysen, Sicherheitslage Afghanistan, Krisenprävention.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr:
Bilanz, Erfahrungen Schlussfolgerungen
aus der Sicht eines parlamentarischen Mitauftraggebers
Vortrag beim Regionalkreis Südwest der Clausewitz-Gesellschaft
am 23.01.2019 in Mannheim
Vorbemerkung
Der Vortrag wurde mit einer PowerPoint-Präsentation gehalten. Die Bildmotive der einzelnen Folien bilden hier die Zwischenüberschriften. Gegenüber dem gesprochenen freien Wort des Vortrages im Januar 2019 ist der Vortragstext etwas erweitert und aktualisiert.
Ein Grüner und Auslandseinsätze? Seit meinem Wehrdienst Mitte der 1960er Jahre habe ich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Friedens- und Sicherheitspolitik zu tun. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages ab 1994 habe ich den Übergang zur Einsatzarmee Bundeswehr hautnah miterlebt und durch die Beteiligung an 70 Mandatsentscheidungen bis 2009 auch mitverantwortet. Diese Verantwortung endete nicht mit meinem freiwilligen Abschied vom Bundestag, sondern hält bis heute an.
Übergabe des Feldlagers Prizen Oktober 2018
Mit der Übergabe des Feldlagers Prizren an die kosovarische Seite endete für die Bundeswehr der KFOR-Großeinsatz. Es verblieb ein kleines Kontingent von rund 70 Soldatinnen und Soldaten. Die Übergabe wurde in Deutschland praktisch nicht wahrgenommen. Ein Zeichen dafür, wie sehr dieser bisher längste Auslandseinsatz der Bundeswehr ein vergessener geworden ist. Angesichts der mehr als 50 Auslandseinsätze insgesamt und 12 mandatierten gegenwärtig muss ich eine Auswahl treffen. Ich konzentriere mich auf die Großeinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan. Auf die Mali-Einsätze gehe ich nicht detaillierter ein, weil mir dazu bisher die Erkundung vor Ort fehlt.
Internationale Hilfseinsätze und die Sarajevo-Luftbrücke
Diese ersten Auslandseinsätze begannen 1960 mit der Erdbebenhilfe in Agadir/Marokko.
Seitdem leistete die Bundeswehr über 130 solcher Einsätze. Als Anfang der 1990e Jahre auf dem Balkan der Krieg nach Europa zurückkehrte, unterstützte die Bundesluftwaffe von Juli 1992 bis Januar 1996 mit 1.412 Hilfsflüge die Luftbrücke in das belagerte Sarajevo. Die Transall gerieten mehrfach unter Beschuss. Ab August 1995 beteiligten sich deutsche ECR- und RECCE-Tornados an der Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina und sicherten ab Dezember den Friedensvertrag von Dayton.
Am Hang von Sarajevo und Begegnung mit deutschen IFOR-Soldaten (1996)
In der Friedensbewegung der 1980er Jahre war das Motto verbreitet: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Das stimmte gegenüber der Vorstellung, der Krieg gehe von Deutschland aus. Aber was ist, wenn Krieg woanders stattfindet. Wie verhält man sich da? Da einfach wegzusehen, entsprach weder friedenspolitischen Vorstellungen noch dem Anspruch kollektiver Sicherheit. Also was tun? Konsens bestand bei uns Alt-Friedensbewegten hinsichtlich der Notwendigkeit humanitärer Hilfe und von Sanktionen. Ein deutlicher Dissens bestand in der Frage, ob hier zur Nothilfe und Großgefahrenabwehr nicht auch militärisch eingegriffen werden musste. Ich gehörte zu denjenigen, die militärisches Eingreifen eindeutig ablehnten. Meine Argumente: Die Sanktionen wurden bisher nur halbherzig in die Tat umgesetzt. Bei einem militärischen Eingreifen war eine unberechenbare Konflikteskalation zu befürchten. Die Bundesregierung stand unter Verdacht, eine Militarisierung der Außenpolitik zu betreiben.
In einer Situation, wo sich meine grüne Bundestagsfraktion und Partei in der Militärfrage herzlich uneinig war, besuchten wir im Oktober 1996 mit einer Spitzendelegation von Partei und Fraktion das Nachkriegsgebiet Bosnien & Herzegowina, um uns vor Ort kundiger zu machen. Auffällig war die Intensität der Kriegszerstörungen: Nicht durch eine Bombe zertrümmerte Gebäude, sondern durch Handwaffenbeschuss immer und immer wieder zernarbte Häuserfronten. Und dann standen wir (u.a. Joschka Fischer, Marieluise Beck, Jürgen Trittin) am Hang über Sarajevo. Blickten auf die Stadt, von deren mehr als dreijähriger Belagerung wir seit 1992 immer wieder in den Medien erfahren hatten. Jetzt aber, am Tatort kam die Belagerung erst menschlich bei uns an: Als ein Zeitzeuge uns von den serbischen Scharfschützen berichtete, die Tag für Tag von der Hanghöhe in die Stadt gefeuert hatten, von der brennenden Nationalbibliothek, von den über 10.000 meist zivilen Todesopfern, da ließ sich die uns unangenehme Einsicht nicht länger verdrängen: Es gibt Situationen, wo zum Schutz vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann. Das war die erste Schlüsselerfahrung.
Die zweite Schlüsselerfahrung ergab sich bei der Begegnung mit Soldaten des deutschen IFOR-Kontingents unter General Riechmann. Für gestandene Kriegsdienstverweigerer in unseren Reihen war überraschend, wie überzeugt und selbstbewusst die Bundeswehrsoldaten für ihren UN-Auftrag der Gewalteindämmung und Kriegsverhinderung standen, dass sie sich nicht als Krieger, sondern Kriegsverhinderer sahen. Sichtbar wurde hier ein teilweiser Funktionswandel von Militär im Rahmen des UN-Systems.
Die dritte Schlüsselerfahrung war eher eine Bestätigung. Im Verteidigungsausschuss berichtete Minister Volker Rühe von seinem Besuch in Bosnien und seinen Gesprächen mit den dortigen Politiker-Betonköpfen. Unter Verweis auf erste Aufbauhilfen der EU sagte er: „Auch Brücken aus Beton schaffen keinen Frieden.“ Diese Erfahrung bestätigte das Drängen aus Friedensforschung und Friedensgruppen, solche Kräfte und Initiativen ausfindig zu machen und zu unterstützen, die sehr wohl an einem friedlichen Zusammenleben interessiert waren. Um solche Gruppen wirksam unterstützen zu können, reichte nicht guter Wille. Frieden brauchte Fachleute. Aus dieser Erkenntnis erwuchs wenige Jahre später der Zivile Friedensdienst.
Blick auf Sarajevo mit Regenbogen
Als im September 2012 nach 17 Jahren die deutsche Beteiligung am multinationalen Bosnieneinsatz endete, hatte die Bundeswehr erfolgreich und vorbildhaft zum Auftrag Kriegsverhütung in Bosnien beigetragen. Wahrlich ein Grund, stolz darauf zu sein! (Vgl. mein Brief an den Generalinspekteur vom 3.10.2012, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1164 ) Die erfolgreiche Auftragserfüllung wurde keineswegs dadurch geschmälert, dass sie ausgesprochen gewaltarm gelang und keinen nachhaltigen gesellschaftlichen Frieden schaffen konnte. Letzteres kann nur über politische und gesellschaftliche Konfliktlösung gelingen. Hierzulande fand dieser Großerfolg eigenartigerweise keine Beachtung und geriet weitgehend in Vergessenheit.
Ort der Entscheidung in Bonn und UN-Generalsekretär Kofi Annan
Zwei Jahre nach dem Bosnienbesuch von 1996 eskalierten im Kosovo Gewalt, Vertreibungen und Flucht. In den Jahren zuvor hatte man in den europäischen Hauptstädten den breiten gewaltfreien Widerstand der Kosovo-Albaner gegen ihre umfassende Entrechtung ignoriert. Im Herbst 1998 warnte UN-Generalsekretär Kofi Annan eindringlich davor, dass Zehntausende Binnenflüchtlinge für Hilfsorganisationen nicht mehr erreichbar seien und im Winter eine humanitäre Katastrophe drohe. Angesichts des europäischen Versagens während des Bosnienkriegs war im Bundestag und auch in den künftigen Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen der Wille einmütig, ein „zweites Bosnien“ im Einflussbereich europäischer Politik unbedingt zu vermeiden. Am 16. Oktober 1998 stimmte der Bundestag im Bonner Wasserwerk, dem provisorischen Sitz des Bundestages, dem Einsatz der Bundeswehr bei den angedrohten Luftoperationen der NATO zur Verhinderung einer „humanitären Katastrophe“ mit 500 von 584 Stimmen zu. Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet begann am 24. März 1999 der Luft-Boden-Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Die Bundeswehr beteiligte sich mit 14 Tornado-Kampfflugzeugen an der Luftaufklärung und der Bekämpfung von Flugabwehrstellungen. Das Dilemma dabei: Der erste Krieg der NATO außerhalb des Bündnisgebietes und die erste Kriegsbeteiligung eines demokratischen Deutschland war begründet als militärische Nothilfe, aber nicht durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats legalisiert und somit nicht durch die UN-Charta gedeckt.
Zerstörte Dörfer im Kosovo, Cruise Missile-Einschlag in Belgrad
Die NATO-Operation „Allied Force“ endete nicht binnen weniger Tage, worauf die NATO-Mitglieder gesetzt hatten, sondern erst nach 78 Tagen. Die militärische Wirkung des Luftkrieges war geringer als erwartet. Mit der Doppelstrategie von militärischem Druck und einer diplomatischen Initiative, die von Berlin ausging und Russland wieder einbezog, konnte der jugoslawische Präsident Milosevic zum Einlenken gezwungen werden. Die Gesamtwirkung von Allied Force war zwiespältig: Der serbische Vertreibungsterror und die humanitäre Katastrophe, die durch die (Androhung der) NATO-Luftangriffe verhindert werden sollten, beschleunigten sich zunächst. Letztendlich aber konnte die Massenvertreibung der Kosovo-Albaner gestoppt und rückgängig gemacht, konnte ihre Totalvertreibung verhindert werden. Nicht verhindert werden konnte, dass im Gegenzug ein Großteil der Kosovo-Serben flohen bzw. vertrieben wurden.
Im innerdeutschen Streit um den Kosovo-Luftkrieg als bewaffnete Nothilfe gegenüber Massengewalt oder als politische „Todsünde“ trennten sich gerade im Umfeld von Grünen und SPD viele politische Wege.
KFOR-Einmarsch im Juni 1999
Auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates rückte ab 12. Juni 1999 die NATO-geführte Kosovo Force (KFOR) mit über 50.000 Soldaten aus 40 Ländern, darunter mehr als 3.000 aus Deutschland, in das Kosovo ein. Völlig ungewiss war, ob der Waffenstillstand gegen die serbischen Kräfte erkämpft werden musste. Als diese sich vertragsgemäß zurückzogen, gefolgt von einem Exodus serbischen Fachkräfte aus allen staatlichen Einrichtungen, weitete sich der KFOR-Auftrag sprunghaft aus: Neben der Absicherung der Friedensregelungen musste KFOR nun zusätzlich die staatliche Grundversorgung organisieren, Kosovo-Serben vor der wütenden Rache aus der Mehrheitsbevölkerung schützen und den massenhaften Vertriebenenrückstrom aus den Nachbarländern bewältigen. Die Spiegel-Reporterin Susanne Koelbl berichtete, dass die Bundeswehrsoldaten in diesem explosiven Chaos virtuos agiert hätten, mit Besonnenheit und Entschlossenheitr. Im Laufe der folgenden Monate übernahm die United Nations Interim Administration Mission (UNMIK) die staatlichen Funktionen in dem UN-Protektorat Kosovo.
ZIF-Kurse, Berge bei Tetovo: Direkte Lehren aus dem Kosovo-Krieg
Der Kosovo-Einsatz von KFOR und UNMIK wurde von den sieben führenden westlichen Industrienationen und Russland (G 8) eingebettet in einen „Stabilitätspakt“ für Südosteuropa, um wirtschaftlichen Aufschwung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Region zu fördern.
Die Herausforderung von Peacebuilding in Nachkriegsgesellschaften wie Bosnien und Kosovo hatten die Grenzen bisheriger Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit verdeutlicht. Notwendig wurden neue Instrumente und Ansätze der Zivilen Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung. In Berlin entstand das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) mit der Aufgabe, Fachkräfte für internationale Friedensmissionen von UN, OSZE und EU zu qualifizieren und zur Verfügung zu stellen. Seit Jahren gehört das ZIF zu den weltweit anerkanntesten zivilen Kompetenzzentren. Zur gesellschaftlichen Verständigung und Friedensförderung von unten entstand in Deutschland der Zivile Friedensdienst, dessen Fachkräfte Versöhnungs- und Friedensprojekte in Konfliktgebieten unterstützen. Bis heute wurden über 1300 Friedensfachkräfte in mehrjährige Einsätze in über 60 Länder entsandt.
Eine dritte Lehre wurde auf der Ebene des operativen Krisenmanagements gezogen.
In den Jahren 2000 und 2001 kam es in der Nachbarschaft des Kosovo, im Presevotal und in Mazedonien, zu neuen Gewaltausbrüchen. Begünstigt durch den Wechsel zur Demokratie in Belgrad gab es nun– erstmalig in den Balkankrisen - ein kohärentes internationales Krisenengagement, wo konsequent auf die Hauptverantwortung der Konfliktparteien bei der Konfliktbearbeitung und eine politische Lösung gedrängt und wo Eskalationskalküle von Gewaltakteuren durchkreuzt wurden. In beiden Fällen gelang es, eine Gewaltexplosion zu verhindern. In Mazedonien wäre es andernfalls mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Bürgerkrieg mit grenzüberschreitender Wirkung gekommen.
UNMIK-Besuch, Sicherheitsentwicklung: Bilanz des Kosovo-Einsatzes
Stabilisierung und Aufbau im Kosovo dauerten viel länger und waren viel schwieriger als von der Staatengemeinschaft erwartet. Schwere, interethnische Gewalt konnte im Laufe der Jahre erheblich reduziert und der Rückschlag der Märzunruhen von 2004 überwunden werden. Mitrovica im serbisch besiedelten Norden blieb aber ein Hot Spot, Korruption und Organisierte Kriminalität reichen bis in höchste Kreise der Politik, in der jungen Bevölkerung herrscht viel Perspektivlosigkeit.
Den Ausbruch erneuter Kriegsgewalt zu verhindern und eine Grundstabilisierung zu erreichen, war eine große Gemeinschaftsleistung des internationalen KFOR-Einsatzes. Dass politische Friedlosigkeit fortbesteht und bisher keine gefestigte Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaft entstand, lag nicht im Einflussbereich von KFOR. Exemplarisch zeigten sich hier die Grundprobleme von politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Peacebuilding, das nicht einfach von außen importiert werden kann: Es ist zwingend angewiesen auf genügend aufbauwillige und verständigungsbereite Kräfte im Einsatzland selbst.
(Nachtägliche Anmerkung: 2019 wäre die Gelegenheit gewesen, die Gemeinschaftsleistung der 130.000 deutschen KFOR-Soldaten gebührend und öffentlichkeitswirksam zu ehren. Aus dem Beirat Innere Führung gab es dazu Empfehlungen. Unverständlicherweise schwieg das politische Berlin zu 20 Jahre KFOR-Einsatz. Es entstand der Eindruck, als sei gelungene Friedenssicherung nicht der Rede wert.)
Solidaritätskundgebung mit den USA am 13. September 2001 am Brandenburger Tor -
Start des Afghanistaneinsatzes
Zwei Tage nach den Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001 versammelten sich am Brandenburger Tor 200.000 Menschen zu einer Kundgebung „Solidarität mit den USA“. Jetzt war auch die deutsche Politik mit der Herausforderung eines transnationalen Terrorismus konfrontiert. Die rot-grüne Bundesregierung war in der staatlichen Zentralaufgabe gefordert, die eigene Bevölkerung und die offene Gesellschaft bestmöglich gegenüber dieser unsichtbaren Bedrohung zu schützen und zur kollektiven internationalen Sicherheit beizutragen. Um den USA Solidarität zu beweisen, der Beistandsverpflichtung gemäß Art. V des NATO- Gründungsvertrages nachzukommen, Hintermänner des 11. September zu fassen und um gegen die Infrastruktur internationaler Terrornetzwerke in Afghanistan vorzugehen, erklärte die Bundesregierung ihre Unterstützung für die US-geführte Antiterror-Operation „Enduring Freedom“ (OEF): Bis zu 3.900 Soldaten in den Fähigkeiten ABC-Abwehr, Lufttransport, Sanität und Seestreitkräfte sollten in dem riesigen Raum der arabischen Halbinsel, Mittel- und Zentralasiens und Nordostafrikas mit angrenzendem Seegebiet eingesetzt werden können. Als besonders kritisch galt der Einsatz von bis zu 100 Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) in Afghanistan. Am 16. November gewann die Bundesregierung für ihren OEF-Antrag nur äußerst knapp und unter dem Druck der von Bundeskanzler Schröder damit verknüpften Vertrauensfrage die Zustimmung der Koalitionsabgeordneten. Nicht wenige der Koalitionsabgeordneten, die vor Jahren aktiv in der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg gewesen waren, sahen jetzt am Horizont ein ´rot-grünes Vietnam`.
Schneller als erwartet brach das Taliban-Regime zusammen. Als die Vereinten Nationen dazu aufriefen, das von 23 Kriegs- und Terrorjahren zerrüttete Afghanistan beim Aufbau zu unterstützen, fand einen Monat später im Bundestag die geplante Beteiligung der Bundeswehr an der UN-mandatierten International Security Assistance Force (ISAF) in Kabul breiteste Zustimmung.
Deutsche ISAF-Patrouille und deutsche Polizisten in Kabul 2003
Bewusst war zugleich die verheerende Geschichte der britischen Interventionen im 19. Jahrhundert und der sowjetischen Invasion Afghanistans im Jahre 1979. Zwei Weltmächte waren hier strategisch gescheitert. Die ISAF-Truppensteller nahmen den subsidiären Unterstützungsauftrag von ISAF ernst: „Bloß nicht Besatzer werden!“ Daraus ergab sich der Ansatz eines auf den Raum Kabul beschränkten ISAF-Einsatzes, eines „light footprint“! UN- und Regionalexperten, die damals zugleich zu Realismus und Konsequenz mahnten, fanden allerdings kaum Gehör.
Die USA als mächtigster Verbündeter verfolgten von vorneherein einen anderen Kurs. Sie konzentrierten sich auf militärische Antiterror-Operationen mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. An der Unterstützung des Staatsaufbaus beteiligten sie sich zunächst nicht. 2003 hatte für die Bush-Administration der Krieg gegen den Irak Vorrang, so dass erhebliche Kräfte von Afghanistan nach Irak verlegt wurden.
Im Sommer 2003 besuchte ich neben dem deutschen ISAF-Kontingent auch das Deutsche Polizei-Projekt-Büro. Deutschland hatte die Lead-Rolle bei der Koordination der internationalen Polizeiaufbauhilfe übernommen, die USA für die Armee, Großbritannien für die Drogenbekämpfung, Italien für die Justiz. Die deutschen Bundes- und Länderpolizisten arbeiteten sehr professionell und kollegial mit den afghanischen Polizisten zusammen. Der Haken war ein politischer: Mit 17 Beamten war die Polizeikomponente für die gigantische Aufgabe Polizeiaufbau personell und finanziell krass unterausgestattet. Das stand exemplarisch für eine politische Grundhaltung in Berlin und anderen Hauptstädten, die die Herausforderung von Staatsaufbau in einem so fragmentierten und zerrütteten Land enorm unterschätzten. (Aufbauillusionen)
Karte der ISAF-Ausweitung ab 2003
Zwei Jahre nach ISAF-Start stellte sich heraus, dass die Stabilisierung von Kabul keineswegs auf das ganze Land ausstrahlte. 79 internationale Nichtregierungsorganisationen riefen die NATO dazu auf, den ISAF-Einsatz auf das ganze Land auszudehnen. Das geschah dann auch, allerdings mit in Relation zur Größe und Unzugänglichkeit der Einsatzräume sehr kleinen Kontingenten und ausgesprochen schleppend. Als britische Kräfte im Frühsommer 2006 in der Süd-Provinz Helmand stationiert wurden, waren sie sehr schnell mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert, der bis zu ihrem Abzug 2014 andauerte. Die Rückkehr der Taliban und des Krieges zuerst im Süden wurde auch in der deutschgeführten Nordregion gespürt. Dass die Warnung des deutschen Regionalkommandeurs in Berlin auf taube Ohren stieß, habe ich selbst miterlebt.
Aufgaben und Struktur des PRT Kunduz
Ab Oktober 2003 wuchs im nordafghanischen Kunduz ein deutsch-geführtes Provincial Reconstruction Team (PRT) auf. Auftrag und Aufgaben waren plausibel und zustimmungsfähig. Aber was sollte „Schaffung eines sicheren Umfeldes, von demokratischen Strukturen“ konkret bedeutet? Mit anderen Worten: Auf operativer Ebene fehlte es an einer Art von Zielklarheit, die Erfolgskontrolle ermöglicht hätte.
Auf der Hand lag, dass Stabilisierung und Aufbauunterstützung nur ressortübergreifend und gemeinsam zu schaffen waren (vernetzte Sicherheit bzw. Ansatz): Die Umsetzung dieser Erkenntnis fiel aber ausgesprochen schwer: Die personelle und finanzielle Ausstattung der militärischen, diplomatischen, polizeilichen und Entwicklungskomponente war höchst unterschiedlich: Das Militär im aufwachsenden dreistelligen Bereich, Entwicklungshilfe (mit Ortskräften) aufwachsend zwei- bis dreistellig, Polizei und Diplomaten niedrig einstellig. Eine ressortgemeinsame Einsatzvorbereitung gab es nicht. Also mussten sich Entsandte aus verschiedenen Organisationskulturen vor Ort zusammenfinden, auch –raufen. Es hing von den Personen ab, ob das pragmatisch gelang.
Teacher Training College in Mazar-e Sharif, Koranschule Kunduz
Deutschland finanzierte die Errichtung von sechs Teacher Training Colleges in Nord-Afghanistan. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt bis heute die Weiterentwicklung der Lehrerausbildung. Seit 2008 besuchte ich mehrfach das TTC in Mazar: Dabei begegnete ich angehenden Lehrerinnen und Lehrern, die wirklich was für die Schulkinder, für ihr Land schaffen wollten.
Fast jedes Jahr seit Anfang 2004 besuchte ich auch Kunduz, sah die deutlichen Aufbaufortschritte. Im Mai 2007 ging es in eine nicht-fundamentalistische Koranschule. Im Gespräch mit einigen Schülern fragte ich sie, wie sie die deutschen Soldaten fänden. Ihre Antwort: „Die verhalten sich anständig“. In einem Land, wo Ehre und Respekt ganz besonders viel gelten, sind solche Worte zu ausländischen Soldaten eine Bestnote. Zwei Wochen später der Schock: Einem Selbstmordattentäter auf dem Markt fielen drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilisten zum Opfer. In einer Protest- und Solidaritätsresolution erklärten die Rechtsgelehrten, Ältesten, Lehrerschaft, Schüler, Jugendorganisationen und Handwerksgenossenschaft der Provinz Kunduz, die Anwesenheit des deutschen PRT in der Provinz sei so „notwendig wie das Wasser zum Leben.“
Blick von der „Platte“ in Kunduz 2008 und Patrouille am 29. April 2009
Nach den ersten, auf vielen Feldern erfolgreichen Aufbaujahren kippte der Sicherheitstrend ab 2007 und der Krieg kehrte schrittweise auch in die bisherige Hoffnungsprovinz Kunduz zurück.
Bei einem Kunduz-Besuch der Obleute des Verteidigungsausschusses im Oktober 2008 erkläre uns der PRT-Kommandeur: „Wir haben die Initiative verloren!“ Als wir dies in der nächsten Ausschusssitzung berichteten, hieß es von der BMVg-Spitze nur, das sei die „Sicht von unten.“ Diese Äußerung war exemplarisch für die damals in Berlin dominierende Realitätsverleugnung. Die schrittweise Verschlechterung der Sicherheitslage wurde in Berlin schöngeredet und verdrängt.
Am frühen Abend des 29.04.2009 bewegten sich die zehn Fahrzeuge einer Patrouille des PRT Kunduz im Distrikt Chahar Darreh auf der LOC Banana Richtung PRT. Kurz nach der Ortschaft Laquai geriet die Patrouille in einen komplexen, über ca. zwei km gestaffelten Hinterhalt: Bis 50 Angreifer bewegen sich parallel zur Patrouille über vorbereitete Stellungen fort. Weniger geschützte Fahrzeuge der Patrouille wurden mit unterschiedlicher Signalmunition markiert und mit Panzerabwehr- und Handfeuerwaffen unter Feuer genommen. Gesichtet wurden zwei Personen mit Sprengladungen am Körper. Die Kolonne bewegt sich in kurzen Sprüngen vorwärts. Der Transportpanzer Fuchs am Ende der Kolonne wurde von einer RPG-7 getroffen. Das Hohlladungsgeschoss drang durch die Panzerung in den Kampfraum ein und tötet den Hauptgefreiten Sergej Motz. Drei Kameraden werden verletzt. Der 21-jährige Sergej Motz vom Jägerbataillon 292 in Donaueschingen war der erste Bundeswehrsoldat, der in einem Feuergefecht gefallen ist. Im Verteidigungsausschuss hieß es danach, erstmalig sei hier Bundeswehr mit einem militärisch operierenden Gegner konfrontiert gewesen. Die Aufständischen zielten auf die Vernichtung einer ganzen Teileinheit.
In den Folgemonaten häuften sich die Gefechte. Die deutschen ISAF-Soldaten waren immer intensiver mit einem Terror- und Guerillakrieg konfrontiert. Sie standen im Krieg.
Karten und Schaubilder zur Lage 2010/11
Mit dem Strategiewechsel und Surge unter US-Präsident Obama ab 2009 operierte auch die Bundeswehr offensiver. Gemeinsam mit afghanischen und anderen ISAF-Kräften konnten die zwei deutschen Ausbildungs- und Schutzbataillone (Task Forces) Kunduz und Mazar die Aufständischen in den Provinzen Baghlan und Kunduz zurückdrängen und Bewegungsfreiheit zurückgewinnen. Der jahrelange Trend zunehmender Sicherheitsvorfälle kehrte sich 2011 erstmalig um. Erste Hoffnungszeichen.
Parallel zur Counterinsurgency-Phase wurde auch die Aufbauunterstützung deutlich verstärkt. Zum Beispiel im Polizeisektor, wo seit 2008 mit deutscher Hilfe in Mazar.e Sharif ein großes Regionales Polizei-Trainingszentrum entstand und zeitweilig bis zu 200 Polizisten beim German Police Project Team eingesetzt waren. Seit 2009 entwickelte die GIZ das Programm „Alphabetisierung und nachholende Grundbildung“ für Polizisten, das inzwischen auf alle 34 Provinzen des Landes ausgeweitet wurde. Im letzten Herbst unterrichteten hierbei rund 1.500 Lehrpersonen, oft ehemalige Polizeioffiziere, ungefähr 35.000 Polizisten.
Spuren der Zerstörung in Kunduz
Die Fortschritte am Boden wurde aber auf der politisch-strategischen Ebene konterkariert durch die Entscheidung von Präsident Obama, der anderen ISAF-Truppensteller und der afghanischen Führung, die ISAF-Kampftruppen bis Ende 2014 abzuziehen und durch die viel kleinere Beratungsmission Resolute Support zu ersetzen. Gerade Militärs warnten, die afghanischen Sicherheitskräfte seien insgesamt noch nicht in der Lage, die Sicherheitsverant-wortung zu übernehmen. Der komplizierte ISAF-Abzug verlief erfolgreich und ohne eigene Verluste – aber mit erheblichen „Nebenwirkungen“ für die afghanische Bevölkerung und Sicherheitskräfte (Abzugsillusion). Krass deutlich wurde das im Herbst 2015, als die Taliban mit Kunduz erstmalig eine Provinzstadt für 14 Tage besetzen konnten. 280 Menschen starben bei der Besetzung, als die Taliban vor allem Reformkräfte verfolgten. Der Fall von Kunduz wirkte weit über die Provinz hinaus als Schock – bis in deutsche Bundeswehrkrankenhäuser, wo Einsatzgeschädigte ganz persönlich mitlitten: Gekämpft, geblutet, Kameraden verloren – alles umsonst?
Massakeranschläge in Kabul
Ein zentraler Indikator für die Sicherheitslage, für das Maß an „sicherem Umfeld“ ist die Zahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts. Quartalsweise veröffentlicht die politische UN-Mission UNAMA dazu Berichte. Seit 2009 stieg die Zahl von Zivilopfern Jahr für Jahr. Im ISAF-Abzugsjahr machte sie einen Sprung um 22% und blieb dann alljährlich bei über 10.000 Zivilopfern, davon über 3.500 Tote. 2017 sollen allein um 10.000 afghanische Soldaten und Polizisten gefallen sein.
Beispielhaft für den entgrenzten Terror zahlloser Anschläge stehen die folgenden zwei:
- Am 27. Juli 2016 Angriff auf eine friedliche Demonstration von 10.000 überwiegend Hazara während einer Gebetspause: 85 Tote, 413 Verletzte. Erstmalig bekannte sich ein afghanischer IS-Ableger zu einem Anschlag. (Anschließend zielten IS-Terroranschläge besonders gegen Heiligtümer und Gläubige der schiitischen Hazara.)
- Am 31. Mai 2017 Explosion eines mit 1.500 kg Sprengstoff geladenen Lkw`s im morgendlichen Berufsverkehr in Nähe der deutschen Botschaft: über 100 Tote, 600 Verletzte. Wäre das dabei zerstörte Kanzleigebäude der Botschaft nicht Wochen zuvor geräumt worden, wären auch viele Botschaftsangehörige umgekommen. Nachdem sechs Monate zuvor das Deutsche Generalkonsulat in Mazar-e Sharif durch einen Anschlag zerstört worden war, verfügte die Bundesrepublik in Afghanistan über keinen diplomatischen Stützpunkt mehr.
Das sichere Umfeld, das ISAF zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften schaffen sollte, war weiter denn je entfernt.
T-Walls in Camp Pamir/Kunduz
Nach der ursprünglichen Planung sollte die Beratungsmission Resolute Support bis Ende 2016 abziehen können. Da die afghanischen Sicherheitskräfte trotz einzelner Fortschritte (Spezialkräfte, Luftwaffe) allein nicht überlebens- und durchsetzungsfähig waren, wurde Resolute Support nicht nur unbefristet verlängert, sondern auch wieder leicht ausgeweitet.
Kleine Kontingente von Bundeswehr-Beratern und Force Protection sind nun wieder in Kunduz und Maimaneh im Nordwesten.
(Anmerkung: Bei meinem letzten Besuch in Mazar und Kunduz im Oktober 2019 hieß es einmütig, die Sicherheitslage verschlechtere sind zunehmend.)
Berufsbildungszentrum Takhta Pul bei Mazar
Umso erstaunlicher bei dieser düsteren Großwetterlage ist, dass einzelne, auch größere Aufbauprojekte trotz aller Bedrohung noch durchhalten und arbeiten können. Zum Beispiel der mit deutscher Hilfe errichtete Berufsbildungs-Campus Takhta Pul bei Mazar-e Sharif. In der Landwirtschaftsschule, Ingenieurschule und Berufsschullehrerakademie können insgesamt 1.700 junge Leute lernen. Obwohl die Umgebung von Taliban infiltriert ist, konnte hier weiter ungestört gearbeitet werden. Takhta Pul soll die größte Berufsbildungseinrichtung des Landes sein. Sie bietet Tausenden Menschen eine konkrete Perspektive und ist viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Insgesamt arbeiten für die deutsche GIZ im Norden noch 15-20 internationale Entsandte und 1.200 Ortskräfte.
Unterzeichnung des US-Taliban-Abkommens
Am 29. Februar 2020 wurde in Doha ein Abkommen zwischen den USA und Taliban unterzeichnet, nach einer Woche weitgehend eingehaltener Waffenruhe, nach 18 Monaten Verhandlungen, 18 Jahren internationaler Intervention, 42 Jahren Terror und Kriegsgewalt.
Neben der Hoffnung, dass das Abkommen ein Türöffner zu tatsächlichen Friedensgesprächen werde, ist die Angst verbreitet, dass es nur ein Deal sei, um Präsident Trump rechtzeitig zur US-Präsidentschaftswahl einen gesichtswahrenden Abzug zu ermöglichen. Etliche Beobachter sehen die akute Gefahr, dass Afghanistan in einen offenen Bürgerkrieg stürzt.
(Anfang März 2020 erklärten sich die beiden Hauptkonkurrenten der afghanischen Präsidentschaftswahl vom letzten September jeweils zu Präsidenten. Der Gefangenen-austausch zwischen Taliban und Regierung kam erst mit Verzögerung in Gang. Die innerafghanischen Friedensgespräche haben auch zwei Monate nach dem geplanten Start noch nicht begonnen.)
Warum wurden zentrale Ziele nicht erreicht?
Die Ziele Terrorüberwindung, Friedenssicherung, verlässliche Staatlichkeit, Stärkung der Wirtschaft, Überwindung von Armut wurden in 18 Jahren internationalem Afghanistan-Engagement insgesamt nicht erreicht, auch wenn es vor Ort wichtige Teilfortschritte gab?
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit scheinen mir die folgenden Gründe besonders wichtig:
- Die Überkomplexität des internationalen Engagements mit bis zu 85 beteiligten Staaten, 15 großen internationalen Organisationen, anfangs über 1.700 Nichtregierungsorganisationen, drei Militäreinsätzen (ISAF/RSM. OEF/Operation Freedom`s Sentinel, CIA);
- das geografisch zerklüftete Einsatzland mit einer fragmentierten, zerrütteten Gesellschaft und zugleich härtester Widerstandstradition;
- Mangel an Landeskenntnis und Konfliktverständnis bei vielen Verbündeten;
- Strategiemangel, ja strategische Dissense auf Seiten der Interventen im Hinblick auf den Fokus des Einsatzes, die strategische Rolle militärischen Zwangs, die Beziehungen zu Warlords und Reformkräften
- Aufbau- und Machbarkeitsillusionen: Überschätzung internationaler Wirkungsmöglich-keiten, Unterschätzung des Hilfs- und Zeitbedarfs beim Statebuilding und der Korruptions-förderung als breiter Nebenwirkung
- mangelnde Auftragsklarheit, Missverhältnis zwischen militärischen und zivilen Kapazitäten, unzureichende Umsetzung des Comprehensive Approach;
- allgemeine Suche nach einer politischen Verhandlungslösung mit den Taliban erst, als die Taliban strategisch auf dem Vormarsch und der Westen auf dem Rückzug waren;
- mangelnde Wirksamkeitskontrolle, verbreitete Realitätsverleugnung und Schönrednerei;
- unterschiedliche nationale Ansätze, wo Niederlande, Norwegen, Deutschland u.a. als landes- und bevölkerungsnäher galten und aussichtsreichere Ansätze (z.B. des Tribal Liason Office, der Niederländer in Uruzgan) nicht zum Durchbruch kamen.
Zusammengefasst: Die entsandten Soldaten, Diplomaten, Entwicklungsexperten und Polizisten konnten sich noch so sehr engagieren und hohe Belastungen und Risiken auf sich nehmen. Der Knackpunkt des Einsatzes war ein kollektives politisches Führungsversagen in den Hauptstädten, in Washington über Brüssel bis Kabul, also auch in Berlin. Als Mitauftrag-geber der Einsätze tragen der Bundestag und besonders wir Außen- und Verteidigungs-politiker im Parlament eine erhebliche Mitverantwortung.
Gesamtbilanz der Einsätze: Aufträge erfüllt? Was waren die Wirkungen, Erfahrungen, Lehren?
Einzelstudien zu deutschen Auslandseinsätzen und Krisenengagements gibt es viele. Bisher fehlen aber systematische, ressortübergreifende und unabhängige Wirkungsanalysen. Methodisch sind solche Evaluationen bei multinationalen und multidimensionalen Einsätzen schwierig, aber keineswegs unmöglich. Das haben Norwegen, die Niederlande und USA für ihre Afghanistaneinsätze gezeigt.
Karte der aktuellen Einsätze und einsatzgleichen Verpflichtungen der Bundeswehr
Die meisten der über 50 Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1991 gehören zur Kategorie Stabilisierung nach Kriegen, Friedenssicherung und –konsolidierung, drei waren explizite Kampfeinsätze, weniger als zehn Kleinsteinsätze mit Militärbeobachtern bei UN-Missionen.
Die nicht nur bei der Partei „Die Linke“ verbreitete Bezeichnung aller Auslandseinsätze als „Kriegseinsätze“ ist ein Zerrbild, ja eine gezielte politische Lüge, um die Einsätze, die immerhin im Auftrag der UN geschehen, generell zu delegitimieren. Über weite Strecken zielte nicht nur der strategische Auftrag, sondern auch die operative und taktische Einsatzrealität auf Schutz, Gewalteindämmung und Kriegsverhütung.
Erheblich schwerer fiel es bei den Einsätzen, Fortschritte zu nachhaltiger Sicherheit und Friedenskonsolidierung zu erzielen. Oft bleibt es bei der Leistung, den Rückfall in kriegerisches Chaos, das Allerschlimmste zu verhindern. Bloße Waffenruhe ist ein bedeutender Fortschritt, auf Dauer aber nicht ausreichend.
Die deutschen Auslandseinsätze verliefen insgesamt viel gewaltärmer, als ein von den kriegerischen Jahren in Afghanistan geprägtes Einsatzbild nahelegt. Im deutschen Bosnieneinsatz wurden keine Feuerwechsel gemeldet, beim KFOR-Einsatz kam es zu einzelnen Feuerwechseln, beim ISAF-Einsatz in den ersten vier Jahren bis 2005 zu einem (bei sieben Angriffen mit Sprengfallen gab es aber acht Gefallene und über 40 Verwundete). Feuerwechsel und Gefechte erreichten 2010/11 ihren Höhepunkt. Die Untersuchungen der von mir 2015 geleiteten Unabhängigen Kommission zum Einsatz des G36-Sturmgewehrs in Gefechtssituationen ergab, dass die Einsatzsoldaten militärische Gewalt insgesamt kontrolliert eingesetzt hatten, durchsetzungsstark waren und durchweg Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen.
Langzeitstudie zum 22. ISAF-Kontingent
Sozialwissenschaftler des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr befragten die Kontingentangehörigen vor dem Einsatz, im Einsatz sowie drei Wochen und drei Jahre nachher. Wesentliche Ergebnisse waren:
- Die Einsatzrückkehrer bewerteten die Wirkungen des Einsatzes auch nach drei Jahre differenziert, zu 57% mit positiven Aspekten, 27% sahen keine grundlegende Besserung.
- zwei Drittel erfuhren ein „persönliches Wachstum“, mehr als 10% erlebten anhaltende gesundheitliche Einschränkungen;
- nur 10% sahen den Einsatz durch die Politik anerkannt, 8% durch die Bevölkerung;
- trotzdem: Rund 70% wären zu einem weiteren Einsatz bereit gewesen.
Widerlegt wurde ein durch viele Tatort-Folgen geprägtes Bild von Einsatzrückkehrern , die durchweg schwer geschädigt und oft wandelnde Bomben sind.
Bundeskanzleramt und Sitzungssaal des Verteidigungsausschusses: Die Auftraggeber
Nach 25 Jahren Begleitung deutscher Auslandseinsätze sehe ich folgende politische Erfahrungen und Lehren als zentral an:
- Inzwischen gibt es etliche Ansätze und Instrumente der Krisenfrüherkennung und strategischen Vorausschau. Ihre Ergebnisse finden aber noch zu wenig Beachtung in der operativen Politik.
- Die politische Strategieschwäche bei deutschen Auslandseinsätzen wurde immer wieder kritisiert und ist bis heute nicht überwunden. Strategiefähigkeiten müssen gestärkt werden, Einsatzaufträge müssen klar, ressortübergreifend kohärent, erfüllbar und glaubwürdig sein – so forderte es schon der Brahimi-Report von 2000.
- Der vernetzte Ansatz darf nicht nur beschworen, sondern muss beständig praktiziert werden: angefangen bei der Lageanalyse, Zielabstimmung, Einsatzvorbereitung.
- Multilaterale Einsätze beinhalten das Risiko, dass teilnehmende Nationen ihre Beiträge leisten, um aus bündnispolitischen Erwägungen „Flagge zu zeigen“, sich ansonsten aber eher im Multilateralismus verstecken. Vor allem bei deutschen Schwerpunkteinsätzen sollte aber Wirkungsorientierung selbstverständlich sein, schon in Verantwortung für die Entsandten, das Einsatzland und seine Bevölkerung, die Steuerzahler. Das schließt Wirkungskontrollen und Einsatzevaluierungen zwingend ein.
- Der Bundestag sollte mit seinen Fachausschüssen selbstbewusst eine strategische Kontrolle der Einsätze praktizieren, statt sich – wie der Verteidigungsausschuss – zu oft in Mikrokontrolle zu verlieren, Der Bundestag sollte vor allem bei den Mandatsdebatten den ressortübergreifend-vernetzten Charakter von Einsätzen herausarbeiten und die übliche verkürzte Wahrnehmung der Kriseneinsätze als nur militärische überwinden.
- Kriseneinsätze und Soldaten, die keine Söldner, sondern Staatsbürger in Uniform sein sollen und wollen, brauchen gesellschaftliche Akzeptanz. Die Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen bietet die Chance, Einsätze in der Gesellschaft zu kommunizieren und verständlich zu machen. Diese Chance wird nur punktuell von einzelnen, vor allem Fach abgeordneten wahrgenommen.
Teilnehmer der ersten Common-Effort-Übung des Deutsch-Niederländischen Corps/Münster
Das ist die Grunderfahrung in allen Einsätzen: Keiner schafft es allein! Keine Nation, kein Ressort, kein Akteur. Seit 2011 ist das Deutsch-Niederländische Corps in Münster mit der Übung Common Effort ein Pionier des Comprehensive Approach. Diejenigen, die in den Einsätzen zusammen wirken müssen, sollten das rechtzeitig vorher üben. Denn sehr verschiedenen sind oft die Organisationskulturen und „Sprachen“, Wirkungsmöglichkeiten und Erfahrungen der verschiedenen Akteure.
Feierstunde für Einsatzrückkehrer am Tag des Peacekeepers
Bei über 40 Besuchen in Einsatzgebieten machte ich fast immer eine doppelte Erfahrung: Begegnungen in den Hauptstädten waren meist ernüchtern, nicht selten deprimierend. Sehr anders hingegen die Erfahrungen bei Begegnungen mit Soldaten, Diplomaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und Friedensfachkräften am Boden: Es waren immer wieder voll engagierte Frauen und Männer mit hoher fachlicher, sozialer und interkultureller Kompetenz, mit Zuversicht und Durchhaltevermögen unter belastenden und z.T. riskanten Einsatzbedingungen. Diese Friedenspraktiker in Uniform und Zivil werden seit 2013 bei einer Feierstunde zum Tag des Peacekeepers in Berlin durch die Minister des Äußeren, der Verteidigung und des Innern alljährlich geehrt. Von solchen realistischen Mutmachern gibt es inzwischen in Deutschland Abertausende. Dass sie bisher von Gesellschaft und Medien kaum wahrgenommen werden, ist ignorant. Sie verdienen Interesse, Dank, Anerkennung. Und die im Einsatz Geschädigten müssen sich auf die Unterstützung und Fürsorge ihres (früheren) Dienstherrn verlassen können.
Vertiefend zum Thema vom Autor
Lehren aus deutschen Krisenengagements gibt es reichlich – aber auch Lernfortschritte? In SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Heft 4, Dez. 2019, S. 362-377 (auf Wunsch über winfried@nachtwei.de erhältlich)
Das 54. Deutsche KFOR-Kontingent im Kosovo: So klein wie nie, aber notwendig und wichtig, Bericht von meinem 13. Kosovo-/KFOR-Besuch, 12/2019, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1617
Schlechtere Sicherheitslage, lebensnotwendige Unterstützung, durchhaltende Aufbauprojekte: Bericht von meinem 20. Afghanistanbesuch(Mazar-e Sharif und Kunduz), November 2019, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1613
Winfried Nachtwei, MdB a.D., Mitglied im Beirat Innere Führung/BMVg, Leiter der AG „Einsatzrückkehrer“, Beirat zivile Krisenprävention der Bundesregierung; Berichte von Besuchen in Einsatzgebieten http://www.nachtwei.de