Dass Massaker in Peking vor 25 Jahren: "DAS GROSSE VERGESSEN" (+ Streit um das EU-Waffenembargo vor 10 Jahren)
Von: Nachtwei amSo, 01 Juni 2014 23:55:40 +02:00Es geschah fünf Monate vor dem friedlichen Mauerfall des 9. November 1989. Es erinnert daran, dass es in der DDR auch ganz anders hätte laufen können. In der SZ vom Wochenende (31.5.2014) zwei aufwühlende Seiten von bzw. mit Kai Strittmatter (und Hu Jia) über ein Staatsverbrechen, das in China erfolgreich vergessen gemacht wurde...
Massaker an der chinesischen Demokratiebewegung vor 25 Jahren: „DAS GROSSE VERGESSEN“
(und der Streit um das EU-Waffenembargo vor 10 Jahren)
von Winfried Nachtwei (2. Juni 2014/29.10.2004)
Am 4. Juni jährt sich zum 25. Mal das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking.
„Es war nicht nur das Ende der Demokratiebewegung, es war auch das Ende eines großen Volksfestes, eines Happenings, bei dem sich Millionen Bürger an sich selbst und an ihrer neu gefundenen Freiheit berauschten, an ihrem Traum von einem besseren China. ´Ich weiß nicht, was wir wollen`, hatte einer der Studenten auf dem Platz im Überschwang gerufen. ´Ich weiß nur: Wir wollen mehr davon.`
Sie bekamen dann Kugeln und Bajonette in jener Nacht vom 3. Auf den 4. Juni 1989. Panzer rollten und brachten die Nacht zum Zittern. Studenten, Arbeiter, Unbeteiligte wurden zermalmt, erschossen, erstochen, Hunderte oder Tausende, bis heute kennt man die Zahl nicht. Es war, aus der Sicht der Partei, im Blick zurück, ein Erfolg. (…) All das Blut in jener Nacht, all der Terror danach, sie retteten die Kommunistische Partei Chinas, in einer Zeit, da sozialistische Regime anderswo zu Staub zerfielen.“ (Kai Strittmatter, Süddeutsche Zeitung 31.5.2014) Der langjährige China-Korrespondent schildert auf Seite 1 der SZ-Wochenendbeilage das von der KP erzwungene „große Vergessen“: wo Netzzensoren Begriffe wie „jenes Jahr“ und „jenen Tag“, in diesen Tagen auch „trauern“ auf den Index setzen. (bisher nicht im Netz zu finden) Auf der letzten Seite der SZ-Beilage ein Skype-Interview Strittmatters mit Hu Jia, der jedes Jahr wieder an das Massaker erinnerte und deshalb dreieinhalb Jahre eingesperrt wurde, über das absurde Leben unter Hausarrest und Totalkontrolle. (Das Interview wortgleich in der Berner Zeitung: www.bernerzeitung.ch/ausland/asien-und-ozeanien/Ich-zeigte-Mao-den-Stinkefinger/story/24748040 )
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu verfasste 1989 das Gedicht „Massaker“, das schnell enorme Verbreitung fand. Er wurde dafür vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. Über Jahre führte er im Untergrund Interviews, um die Geschichte der Opfer und Überlebenden des Tiananmen-Massakers zu dokumentieren („Die Kugeln und das Opium – Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens“, Fischer-Taschenbuch 2014). 2011 konnte er China verlassen, 2012 wurde ihm der Friedenspreis des DeutschenBuchhandels verliehen.
Auf YouTube ist der – bis heute unbekannte - „Tank Man“ zu sehen, der sich am Tag nach dem Massaker auf der Straße des Ewigen Friedens einer Panzerkolonne entgegenstellt: www.youtube.com/watch?v=qq8zFLIftGk
Die 90-minütige Dokumentation „The Memory of Tiananmen 1989“ von „Frontline“ (US-TV-Dokumentar-Programm) ist mit Begleitmaterial zu finden unter www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/tankman
Auf meiner Facebook-Seite habe ich Fotos vom Tiananmen und Straße des Ewigen Friedens (Richtung Peking-Hotel) eingestellt, die ich dort 1979 (plus „Mauer der Demokratie“) und 2014 gemacht habe: www.facebook.com/winfried.nachtwei
Vor zehn Jahren erreichte das „große Vergessen“ auch Berlin:
Bundeskanzler Schröder erklärte im Dezember 2003 bei einem China-Besuch, er wolle sich für die Aufhebung des 1989 verhängten Waffenembargos gegen China (und für die Lieferung der Hanauer MOX-Brennelementefabrik) einsetzen. Mit beidem kam der sonst als durchsetzungsstark geltende Kanzler nicht durch. Wie und warum das so geschah, beschrieb ich als zuständiger AK-Koordinator in einer internen Aktuellen Information vom 29. Oktober 2004 (hier erstmals veröffentlicht):
Aktuelle Information
Bundestagsbeschluss gegen die Aufhebung des
EU-Waffenembargo
Zweiter China-Kracher entschärft
Anfang Dezember 2003 machte der Kanzler während seiner China-Reise Aussagen, die schnell „China-Kracher“ hießen: Völlig unerwartet befürwortete er die Aufhebung des Waffenembargos und die Ausfuhr der Hanauer Brennelementefabrik.
Fast elf Monate später haben sich die Koalitionsfraktionen mit dem Bundestagsbeschluss vom 28. Oktober eindeutig gegen die Aufhebung des Embargos gewandt und für den Prüfprozess in der EU hohe politische Hürden formuliert. Zusammen mit dem in ähnliche Richtung gehenden FDP-Antrag sprach sich somit der gesamte Bundestag in diesem Sinne aus. Kommentatoren äußerten Respekt vor der Positionierung der Koalitionsfraktionen und sprachen von einem „guten Tag des deutschen Parlaments“. Wir Grüne als Betreiber des Koalitionsantrags erreichten einen Erfolg, den die aller meisten Beobachter Anfang des Jahres - und vor allem nach dem Hanau-Erfolg - nicht für möglich gehalten hätten.
Die EU verhängte das Embargo 1989 in Reaktion auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In den 15 Jahren seit dem hat sich China gewaltig verändert. Eine Aufhebung des Embargos wäre nichts desto weniger ein äußerst problematisches Zeichen angesichts der katastrophalen Menschenrechtssituation, der Unterdrückung ethnischer Minderheiten, der Spannungen mit Taiwan. Während vor allem Frankreich seit Jahren auf die Aufhebung des Waffenembargos drängt, sehen die USA dies als Verletzung ihrer strategischen Interessen.
Der Beschluss:
Der Bundestag schließt sich dem Beschluss des Europäischen Parlaments an, das sich schon im Dezember 2003 gegen die Aufhebung ausgesprochen hatte.
Angesichts des laufenden Überprüfungsverfahrens in der EU fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, sich an der Überprüfung des Embargos vor dem Hintergrund der Menschenrechte und der friedlichen Streitbeilegung zu beteiligen. Bis zum Vorliegen anderer verbindlicher Regelungen – etwa in Form eines weiterentwickelten, verbindlichen EU-Verhaltenskodex zu Waffenexporten – soll an dem Embargo festgehalten werden.
Eine Aufhebung kann in Betracht gezogen werden, wenn es Fortschritte
- bei der raschen Ratifizierung und Umsetzung des VN-Paktes über politische und bürgerliche Rechte
- bei der weiteren Umsetzung der jüngsten Verfassungsänderungen im Bereich der Menschenrechte und des Privateigentums
- bei der Stärkung substantieller Autonomierechte für ethnische Minderheiten gibt.
Zugleich sind die friedliche Streitbeilegung mit Taiwan und die Nichtverbreitung von Material und Technologien im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen und Trägerraketen entscheidungsrelevante Aspekte.
Wenn es im Rahmen der Embargo-Überprüfung zu dem angestrebten weiterentwickelten, verbindlichen EU-Verhaltenskodex zu Waffenexporten käme, wäre das ein weit über den Einzelfall China hinausgehender Erfolg für eine restriktive europäische Rüstungsexportpolitik.
Der Weg zu diesem Beschluss war äußerst mühsam und langwierig.
Von Anfang positionierte sich die grüne Bundestagsfraktion in dieser Frage eindeutig, am 8. und 9. Dezember mit Beschlüssen von Fraktionsvorstand und Fraktion.
Zunächst stand der Streit um Hanau im Vordergrund, der in gutem Zusammenwirken unserer Fraktion mit Hanau-kritischen SPD-Kollegen und der IPPNW-Kampagne „Hanau selber kaufen“ zu einem guten Ende gebracht werden konnte.
Inzwischen hatte die FDP einen Antrag gegen die Aufhebung des Waffenembargos in den Bundestag eingebracht. In unserem Arbeitskreis „Internationale Politik und Menschenrechte“ waren wir uns einig: der FDP-Antrag war für uns nicht ablehnungsfähig – außer, wir hätten eine bessere Alternative.
Im März/April traf unsere Forderung nach einem eigenen Koalitionsantrag bei der SPD noch auf Ablehnung.
Anfang Mai wiederholte der Kanzler anlässlich des Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten in Berlin die Forderung nach Aufhebung des Embargos. Der Unterausschuss Abrüstung debattierte das Thema. Vor allem die Abgeordneten Polenz und Nachtwei widersprachen sehr deutlich der vorgetragenen „Regierungsposition“.
Als der FDP-Antrag im Menschenrechts- und Auswärtigem Ausschuss mit den Enthaltungen und Ja-Stimmen aus der Koalition angenommen wurde, musste sich die SPD doch auf einen Koalitionsantrag einlassen. Ausgehend von unserem Entwurf ging das Aushandeln mit SPD und Kanzleramt über Monate. Dabei war schon bemerkenswert, welche Formulierungen für das Kanzleramt „nicht hinnehmbar“ waren.
Obwohl wir um den intensiven Widerstand der US-Regierung gegen die Aufhebung des Embargos und ihr massives Einwirken auf verschiedene EU-Staaten wussten, nutzten wir diese Schiene nicht aus.
Noch vor einer Woche war ich zusammen mit Ludger Volmer und Hans-Josef Fell Gastgeber einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses der Volksrepublik China: Nach einem intensiven Austausch zu Erneuerbaren Energien und Atomenergie sprachen wir auch sehr direkt über das Waffenembargo. Das schuf Klarheit für beide Seiten – und minderte die gute Gesprächsatmosphäre keineswegs.
Der parlamentarische Erfolg wurde entgegen der meisten Erwarten möglich, weil wir mit klarer Position geschlossen und beharrlich agierten, aber zugleich den Konflikt hinter den Kulissen und kontrolliert hielten. Hilfreich dabei war der FDP-Antrag, der als Druckmittel funktionierte. Bei Hanau gab es einige öffentliche Aufmerksamkeit und sehr hilfreiche Unterstützung. In Sachen Waffenembargo war die öffentliche Aufmerksamkeit viel geringer. Trotzdem haben wir es geschafft.
Mit dem Bundestagsbeschluss sind von deutscher Seite die Hürden gegen eine unverantwortliche Aufhebung des Embargos erhöht. Das ändert nichts daran, dass der Kanzler laut Aussage des Regierungssprechers weiter an seiner bisherigen Meinung festhält. Das wird aber das Verhalten der Bundesregierung auf EU-Ebene beeinflussen und die Position derjenigen stärken, die das Embargo aus sicherheits- und friedenspolitischer Perspektive betrachten.
Freude über diesen Etappen-Erfolg dürfen wir leider nur still empfinden, jeder Triumph wäre kontraproduktiv. Das sollte aber nicht davon abhalten, diesen Erfolg wenigstens gebührend zur Kenntnis zu nehmen und nicht den üblichen Mechanismus zu pflegen, nur bad news als good news wahrzunehmen.
Ärgerlich ist, dass solche koalitionäre Krisenbewältigung enorm viel Arbeitszeit absorbiert, die dringender für konstruktive Politik benötigt würde.
Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Protokoll der Bundestagsdebatte vom 28.10.2004 unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=35&aid=47