Am 2. Februar, dem 70. Jahrestag der letzten Kapitulation in Stalingrad, berichteten Münstersche Zeitung und Westfälische Nachrichten anlässlich meiner Spurensuche. In Dresden besuchte ich an diesem Tag die Sonderausstellung "Stalingrad" des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr. Sie ist ein Denk-Mal und Lernort sondergleichen.
(1) Einzigartige Stalingrad-Sonderausstellung im Militärhistorischen Museum Dresden (2) Münsteraner Lokalzeitungen nehmen den Anstoß zur Erinnerung auf
(3) Ausstellung „Die Verdammten" in Osnabrück
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(1) Am 1. Februar 2013 wurde im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden die Sonderausstellung „Rechtsextreme Gewalt in Deutschland 1990-2013" mit Fotos von Sean Gallup eröffnet. (s. eigener Bericht) Die Teilnahme an der Veranstaltung bot mir die Möglichkeit, am Folgetag die Sonderausstellung „Stalingrad" des MHM zu besuchen. Am 2. Februar, dem 70. Jahrestag der letzten Kapitulation in Stalingrad, führte mich Jens Wehner, Leitender Kurator der Ausstellung und Leiter des Sachgebiets Bildgut am MHM, durch die Ausstellung.
Über viele Jahrzehnte war die Erinnerung an Stalingrad in Westdeutschland dominiert von selektiven Wahrnehmungen, vom Wegsehen gegenüber den Leiden der anderen und dem verbrecherischen Kontext, von viel Schweigen und dem Bemühen um Sinngebung , wo nur Sinnlosigkeit und Staatsverbrechen war. In der Sowjetunion, in der DDR herrschten andere Formen selektiver Erinnerung.
Die Sonderausstellung ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig:
Sie ist klar, ungeschminkt, ehrlich. Sie schaut aus den verschiedenen Perspektiven genau hin. Schon der erste Satz benennt eindeutig den Charakter des „Russlandfeldzuges": „Die Wehrmacht hatte am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfallen. Während die deutschen Truppen vorrückten, begannen Angehörige von SS, Polizei und Wehrmacht im Hinterland damit, systematisch Juden zu ermorden." Neben dem militärischen Verlauf veranschaulicht die Ausstellung die individuellen Erlebnisse der Soldaten beider Seiten, die Kriegsverbrechen der deutschen Truppen, die Auswirkungen der Schlacht auf die Zivilbevölkerung und die Rezeptionsgeschichte der Schlacht in der Sowjetunion, bei den Westalliierten, in Nazi-Deutschland - und nach dem Krieg in Ost- und Westdeutschland sowie in jüngster Zeit. Veranschaulicht werden die Fehleinschätzung der deutschen Führung, ihr Größenwahn und Realitätsverlust, die gigantischen Verteidigungsanstrengungen einer sich industralisierenden Sowjetunion, der physische und moralische Zusammenbruch einer sieggewohnten deutschen Armee. Thematisiert werden auch die deutschen Verbündeten, deutsche und sowjetische Feldpostbriefe, Frauen bei der sowjetischen Luftwaffe, das Nationalkomitee Freies Deutschland, Veteranen. Die Hälfte der über 500 Objekte und Dokumente stammen aus russischen Museen und Sammlungen.
Die Ausstellung widerlegt nüchtern langjährige Mythen und Legenden um Stalingrad und bestätigt faktenreich, was Theodor Plivier in seinem dokumentarischen Roman „Stalingrad" 1943/1945 aufrüttelnd geschildert und was Otto Herrmann in seinem Lithographien-Zyklus „Die Verdammten" ab 1948 visualisierte - das bereitwillige Mitmachen der allermeisten deutschen Soldaten, die Leidens- und Sterbensumstände im Kessel, den strategischen und moralischen Bankrott einer politischen und militärischen Führung, den Zusammenbruch von Kameradschaft als letztem Halt, die Sinnlosigkeit. Die Ausstellung schildert zugleich die übermenschliche, eigenständige wie erzwungene Opferbereitschaft der sowjetischen Verteidiger.
Die Ausstellung wird damit zu einem verstörenden wie überzeugenden DENK-MAL „gegen militärischen Wahnsinn, gegen militärisches (und wohl nicht nur: militärisches) Verbrechen." (Plivier)
Was sind die politischen Lehren über das, inzwischen oft zur Leerformel geronnene „Nie wieder!" hinaus? Da sind die Besucher sich selbst überlassen. Die Ausstellung veranschaulicht die „Geißel Krieg". Sie kann grundsätzliche Kriegsgegnerschaft fördern. Sie kann zugleich die Legitimität militärischer Verteidigung gegen Angreifer bekräftigen, ohne dabei ihre Übel zu verschweigen. Politische Konsequenzen aus Stalingrad und dem deutschen Vernichtungskrieg zielen nicht auf Pazifismus, aber auf die Vereinten Nationen: auf internationales Gewaltverbot, kollektive Sicherheit, Menschenrechtsbindung, auf europäische Integration und deutsch-russische Partnerschaft. Mir stellt sich die Frage, ob die Ausstellung zu Möglichkeiten des politischen Lernens, zum Brückenschlag in die Gegenwart Anregungen hätte geben können - ohne Belehrung.
Dass die Sonderausstellung im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr stattfindet, gibt ihr gerade angesichts des früheren Umgangs militärischer Traditionalisten mit Stalingrad ein besonderes Gewicht. Die Ausstellung bekräftigt und fundiert die Verpflichtung der Bundeswehr auf die Menschenwürde. Für Staatsbürger in Uniform wie in Zivil ist sie ein herausragender, friedens- und sicherheitspolitischer, menschenrechtlicher Lernort, gerade für uns Nachkriegsgeborene.
Der Begleitband + Katalog zur Ausstellung:
Gorch Pieken/Matthias Rogg/Sven Wehner (Hrsg.): Stalingrad - eine Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden, Sandstein Verlag Dresden 2012 (400 S.)
Besuch und Katalog sind DRINGEND ZU EMPFEHLEN!
Die Ausstellung läuft noch bis zum 30. April 2013. (www.mhmbw.de )
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(2) Die beiden Münsteraner Lokalzeitungen nehmen meine Zusammenstellung „Speerspitze im Vernichtungskrieg, vernichtet in Stalingrad" zum Anlass, am 2. Februar im Lokalteil über die Rolle der aus Münster stammenden Wehrmachtsdivision zu berichten.
Westfälische Nachrichten, Karin Völker: „Apokalypse Stalingrad - Am 2. Februar 1943 ging die Schlacht zu Ende, in der viele, zuvor in Münster stationierte Soldaten starben", www.wn.de/Muenster/70.-Jahrestag-der-Apokalypse-In-der-Schlacht-um-Stalingrad-starben-viele-zuvor-in-Muenster-stationierte-Soldaten
Münstersche Zeitung, Jörg Gierse: „Als es zu Ende war - Vor 70 Jahren kapitulierten in Stalingrad auch die Reste einer münsterschen Division"
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(3) Im Erich-Maria-Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück läuft seit 31. Januar die Ausstellung „Die Verdammten" mit Lithographien von Otto Herrmann (1899-1995). Der Künstler ließ sich 1948 von Theodor Pliviers Stalingrad-Roman inspirieren. Bei der Erstausstellung 1950 in Stuttgart kam es zu Protesten wegen angeblicher Beleidigung der Wehrmacht. Die Stalingrad-Ausstellung des Militärhistorischen Museums zeigt acht Blätter des Stalingrad-Zyklus.
Die Ausstellung läuft bis zum 21. April 2013.
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: