Aufbauhilfe in Afghanistan unter immer schwereren Bedingungen - Kurzbesuch in Kabul + Mazar-e Sharif im November 2016
Von: Nachtwei amMo, 12 Dezember 2016 00:50:27 +02:00Was ist nach den Sicherheitsrückschlagen in Afghanistan überhaupt noch an Stabilisierung + Aufbauunterstützung möglich? Mehr, als man aus der Ferne oft meint. Eindrücke + Erkenntnisse von meiner 19. Afghanistanreise. GENAUER HINSEHEN statt Wunschdenken.
Aufbauhilfe in Afghanistan unter immer schwereren Bedingungen
Kurzbesuch in Kabul und Mazar-e Sharif im November 2016
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (11.12.2016)
In der zweiten Novemberwoche besuchte ich Kabul und Mazar-e Sharif. Anlass meines19. Afghanistanbesuches war die Übergabe des Kommandos über das „Train Advise and Assist Command (TAAC) North“ der NATO-Mission Resolute Support (RS) von Brigadegeneral Hartmut Renk an Brigadegeneral André Bodemann. Der Befehlshaber des Einsatzführungs-kommandos, Generalleutnant Erich Pfeffer, hatte mich zu der Kurzvisite eingeladen. Auf dem (teilweise separaten) Besuchsprogramm standen Gespräche mit dem deutschen Botschafter und einem Vertreter des Generalkonsulats in Mazar, mit den beiden Kommandeuren, mit Offizieren im RS-Headquarter und beim TAAC-North, mit Soldaten der Unterstützungs-einheiten in Camp Qasaba und Camp Marmal, mit dem Kampfrettertrupp der Luftwaffe, mit Foward Area Specialists (Interkulturellen Einsatzberatern), mit leitenden Polizeibeamten des German Police Project Teams (GPPT) in Kabul und Mazar, mit dem Camp-Manager von Qasaba, Angehörigen der Einsatzwehrverwaltung sowie ein Besuch der deutschen Heron-Einheit.
Wie im Februar 2015 war auch dieser Besuch mit 48 Stunden vor Ort sehr kurz. Aber mit sorgfältiger Vor- und Nachbereitung, vielseitigen und offenen Kontakten und vor dem Hintergrund früherer Besuche lässt sich schon einiges an Eindrücken und Erkenntnissen gewinnen – ohne der Einbildung zu verfallen, man käme mit einem verlässlichen „Lagebild“ zurück. Mein Hauptinteresse galt der Frage, was nach den Sicherheitsrückschlägen von 2015 (Besetzung von Kunduz!) und 2016 überhaupt noch an Stabilisierungs- und Aufbauunterstützung möglich und sinnvoll ist. Der AFG-Besuch fand plötzlich erhöhtes Interesse, weil wenige Stunden vor unserem Rückflug das deutsche Generalkonsulat in Mazar von einem Terrorkommando angegriffen wurde. In den Bericht fließen Erkenntnisse von der 30. Afghanistan-Tagung Ende November in Villigst ein. (Reisebericht vom Februar 2015 „Ihr habt die Uhr “ – Erster AFG-Besuch nach ISAF-Ende.- Aufbauhilfe läuft weiter: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1345 )
(Zusammenfassung und Schlussfolgerungen am Ende)
Erste Eindrücke
Ganz normal mit Zivilmaschine von Turkish Airlines nach Kabul International Airport. Auf dem Flugfeld im Vergleich zu den Vorjahren auffällig viele Hubschrauber; vor dem Terminal in der strahlenden Morgensonne Scharen von Reisenden. Erstmalig bei einem AFG-Besuch komme ich dieses Mal aber praktisch nicht mehr „nach draußen“: mit Hubschraubern (jeweils mit zwei MG-Schützen vorne) von KIA zum RS-Headquarter, von dort mit Hubschrauber nach Camp Qasaba, dann zurück zum KIA, von dort mit kleiner Zivilmaschine nach Mazar, dort bleiben wir bis zum Rückflug nach Istanbul in Camp Marmal. Einzig zur Botschaft fahren wir im gepanzerten Fahrzeug durch die Schluchten des Hochsicherheitstraktes von Regierungsgebäuden, Botschaften, Headquarter. Die Blast Walls mit Wachtürmen sind gegenüber dem letzten Besuch weiter gewachsen. Fahrbahnschwellen zwingen auch robuste Fahrzeuge zum starken Abbremsen. Die Sperranlage am Haupttor des RS-HQ ist gigantisch und hat eine Tiefe von Dutzenden Metern. Nahe am Haupttor wird die Außenmauer von einzelnen Friedensgraffiti geziert, Überbleibsel einer Aktion örtlicher Gruppen zum Weltfriedenstag am 21. September vor etlichen Jahren.
Der Blick von oben verschafft eindrucksvolle Überblicke. Das Meer der ummauerten Grundstücke macht den Eindruck von Ordnung. In den Blick kommen in Kabul Neubauten, an einem Hang ein neues Wohnviertel. Verloren gehen dabei die – auch früher schon spärlichen - Nahkontakte mit der afghanischen Wirklichkeit. Sofort stellt sich die Frage, was aus den „Wagenburgen“ heraus überhaupt noch an Realitäts- und Bodennähe möglich ist.
Beim Morgengang durch das kräftig ausgedünnte Camp Marmal bei Mazar fallen mir zuerst die Fahrzeuge auf: relativ wenige Einsatzfahrzeuge, sehr viele Zivilfahrzeuge/SUV`s, alle auffällig staubfrei. Ein deutlicher Hinweis, dass die allermeisten Fahrzeuge nur noch auf den Campstraßen unterwegs sind und gar nicht mehr rauskommen. Der Morgen des 10. November am Fuß des Marmal-Gebirges: ein blanker, klarer, unschuldiger Himmel, frühsommerlich im November.
Politik allgemein
Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Präsident Ghani am 29. September ein Friedensabkommen mit Gulbbuddin Heckmatyar, dem Oberhaupt der islamistischen Hisb-e-Islami. Die Verhandlungen haben „Bewegung in die jahrelang vergeblichen Bemühungen gebracht, einen Friedensprozess in Gang zu setzen.“ (Nicole Birtsch, Afghanistans Regierung will den Konflikt mit den Taliban politisch lösen, SWP-Aktuell Dezember 2016, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A77_bir.pdf )
Eigentlich hätte am 15. Oktober ein neues Parlament gewählt werden müssen, dessen Legislaturperiode schon vor einem Jahr ausgelaufen war. Der Präsident verlängerte sein Mandat per Dekret bis „zur nächsten Wahl“.
Die „Regierung der nationalen Einheit“ ist zerstritten und blockiert, laut Alexey Yusupov, Leiter des Kabuler Büros der Friedrich Ebert Stiftung, in einem „dauerhaften Kriegs- und Krisenmodus“, wichtige Reformziele wurden nicht erreicht. „Das Best-case-Szenario für die kommenden Monate und Jahre – da sind sich Expertinnen und Experten wie westliche Regierungsvertreter einig – bestünde darin, das Auseinanderbrechen der afghanischen Regierung zu verhindern und den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Man müsse Zeit kaufen, um einen politischen Prozess zu beginnen, der irgendwann in der Zukunft in eine Waffenruhe und dann Beteiligung der Taliban an der Regierungsführung übergehen kann.“ (http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/best-case-stillstand-1678/ ) Deutsche Politik drängt auf ein Funktionieren der Gesamtregierung, während manche Verbündete eher zur Unterstützung einer Fraktion neigen.
Die reale Führungslosigkeit ist ein massives Stabilisierungshindernis.
Kürzlich wurde eine Liste mit Namen von Personen veröffentlicht, die keine Steuern zahlen, darunter Minister, Abgeordnete, Generale…
Der von Präsident Ghani angekündigten Auswechslung aller 34 Provinzgouverneure hatte sich Atta Mohammad Noor, seit 2004 Gouverneur der Provinz Balkh, widersetzt. Jetzt geht das Gerücht, er könne als Sicherheitsberater nach Kabul gehen – mit Durchgriffsrechten im Norden.
Gute (Aus-)Bildung ist unbestreitbar zentral. Was aber, wenn gut Ausgebildete entweder von Hochgestellten z.B. als Privatfahrer okkupiert werden oder möglichst schnell das Land verlassen, weil sie hier in der allgemeinen Ungewissheit und Unsicherheit keine Perspektive sehen?
Deutsche Stabilisierungs- und Aufbauhilfe
Afghanistan ist unverändert d a s Schwerpunktland deutscher Stabilisierungs- und Aufbauunterstützung mit einem Jahreszuschuss von 510 Mio. Euro, davon 250 Mio. für die Entwicklungszusammenarbeit, 110 Mio. für Stabilisierungsmaßnahmen des AA, 70 Mio. für den Polizeiaufbau, 80 Mio. für die Armee. Deutschland ist in Afghanistan inzwischen der zweitgrößte Geber.
Das Generalkonsulat in Mazar besuchte ich im Februar 2015. Es wurde am 8. Juni 2013 von Außenminister Westerwelle eingeweiht und ist das erste Generalkonsulat eines europäischen Staates in Nordafghanistan. (Am selben Tag wurde der neue International Airport Mazar-e Sharif eröffnet, von Deutschland mit rund 50 Mio. Euro unterstützt.) Untergebracht ist das Generalkonsulat im ehemaligen Mazar Hotel im Stadtzentrum unweit der Blauen Moschee an der AH 76. Von außen wirkt es mit dicken Mauern und hohen Sichtblenden wie eine Festung. Drinnen erstreckt sich ein großzügiger Bau mit Gartenanlage im Stil der 30er Jahre. Ursprünglich wollten die USA hier ihr Generalkonsulat unterbringen und bauten es um. Als in der Nachbarschaft höhere Neubauten entstanden, gaben sie das Gelände aus Sicherheitsgründen auf.
Im Generalkonsulat arbeiten um zwanzig Entsandte. Bis auf das Thema „ehemalige Ortskräfte“, das in Camp Marmal von AA-Mitarbeitern und Bundeswehr bearbeitet wird, ist für Rechts-, Konsular- und Visaangelegenheiten weiterhin nur die Botschaft in Kabul zuständig.
Das Generalkonsulat flankiert das zivile deutsche Engagement unter den Bedingungen einer schwierigeren Sicherheitslage. Das Generalkonsulat pflegt Kontakte zum Gouverneur, zu den Vertretungen der Ministerien, zu den Provinzräten. Der Generalkonsul ist zugleich Leiter des multinationalen Stabes Senior Civilian Representative TAAC-N, der Director Development ist German Development Commissioner beim SCR TAAC-N.
Besonders wichtige Aufbauvorhaben sind
- der Technical Vocational Education & Training (TVET) Campus Takhta Pul bei Mazar, die größte Einrichtung für berufliche Bildung in ganz Afghanistan (die Agrartechnikerschule für 840 Schüler und die Berufsschullehrerakademie für 350 Studierende wurden im Frühjahr eröffnet; das Engineering College für Hoch- und Tiefbau, Elektriker, Mechaniker, Installateure ist bald fertig,; die Agricultural High School in Kunduz hat 690 Ausbildungsplätze, die in Taloqan 530). Neben der Förderung der formalen Berufsausbildung ist eine weitere Zielgruppe die große Zahl an Jugendlichen (rund 600.000), die in Kleinbetrieben im informellen Sektor traditionell ausgebildet werden und denen es an zeitgemäßem Wissen und modernerer Technik mangelt. (vgl. mein Bericht zur Stärkung der beruflichen Bildung http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1381 )
- Die Zusammenarbeit mit der Balkh-Uni auf dem Feld der IT (Partnerschaft mit der TU Berlin); weitere Partnerschaften gibt es mit Unis in Kabul und Nangarhar.
- Das AA-finanzierte GIZ-Projekt „Stärkung der Verwaltungsausbildung in Afghanistan“ startete 2012. Aufgebaut wurden verwaltungswissenschaftliche Bachelor-Studiengänge (Public Administration) an den Universitäten Herat, Jalalabad, Kabul, Kandahar und Balkh/Mazar. An der Fachberatung des Ministeriums, der Universitäten und Dozenten beteiligt sind die UP Transfer GmbH an der Universität Potsdam und das Potsdam Centrum für Politik und Management (PCPM) unter Leitung des Politikwissenschaftlers Prof. Harald Fuhr, die Max-Planck-Stiftung für internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit sowie das Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM). Das Projekt war ursprünglich für 60 Studierende pro Jahrgang geplant. Inzwischen studieren landesweit rund 2.500 junge Frauen und Männer das Fach, in Mazar allein 470 in drei Jahrgängen (geplante Kapazität 800). Die Fakultät hat ein neues Gebäude mit Wohnheim bekommen. Das Projekt läuft gut. Allerdings haben es die Absolventen schwer, in der öffentlichen Verwaltung auch eine Stelle zu bekommen. (https://www.uni-potsdam.de/nachrichten/detail-list/article/2016-11-11-afghanische-verwaltungswissenschaftler-besuchen-universitaet-potsdam-agreement-of-cooperation-zur-vertiefung-der-zusammenarbeit-auf-fakultaetsebene.html ; http://www.mpfpr.de/de/projekte/laenderprojekte/afghanistan/ ) Die afghanischen Verwaltungswissenschaftler kooperieren auch mit Verwaltungsakademien in Ankara und Neu Dehli, wo jährlich Sommer- und Winterkurse unter Beteiligung deutscher Dozenten stattfinden.
- Der Bau der Nationalstraße Kholm (60 km östlich von Mazar) nach Kunduz ist ein Schlüsselprojekt der deutschen EZ (KfW, 60 Mio. Euro): eine direkte Verbindung zwischen Mazar und Kunduz ohne den Umweg über Baghlan (116 statt 234 km) hätte besondere Bedeutung für Sicherheit und Entwicklung in dem Raum. Gebaut wurden bisher die Endstücke von je 15 km bei Kholm und Kunduz, die weiteren Streckenabschnitte werden in vier Phasen gebaut. (Bei einem Besuch in Kholm 2010 hatte ich den Beginn der Bauarbeiten und den Zustand der Piste Richtung Kunduz erlebt.) Da die Straße durch den Unruhedistrikt Chahar Darreh führt, muss aber erst einmal die Zustimmung der örtlichen Bevölkerung gewonnen werden. Dazu soll demnächst eine Shura stattfinden. (https://www.kfw-entwicklungsbank.de/ipfz/Projektdatenbank/Nationalstrasse-Kunduz---Kholm-Phase-III-28692.htm )
- Auch wenn zzt. in den Provinzen Kunduz und Baghlan keine internationalen und lokalen Mitarbeiter mehr für die deutsche EZ arbeiten können, laufen dort noch erstaunlich viele, rund 150 Maßnahmen (z.B. Wiederaufbau des Provinzratsgebäudes, ein Brückenprojekt, Fortbildungsmaßnahmen).
- Im Camp Marmal die zzt. 15 Beamten des German Police Project Team (GPPT), die offenbar die Hauptträger der internationalen Polizeiaufbauhilfe im Norden sind. (s.u.)
Mit Hilfe des Risikomanagementsystem der GIZ (laufende Risikoanalyse, -bewertung, Beratung und technische Maßnahmen durch Risk Management Offices) werden die Sicher-heitsrisiken für die Entwicklungsexperten vermindert. Die den RMO`s zuarbeitenden bezahlen Field Officers sind öffentlich als Vertrauenspersonen bekannt. Die EZ-Projekte werden auch von den Taliban geschätzt. Die Entwicklungsexperten sind nie bewaffnet unterwegs. Notfallpläne sind aber mit TAAC-N vereinbart ("in extremis support“).
Polizeihilfe
Das German Police Project Team (GPPT) umfasst zzt. rund 60 Beamte von Bund und Ländern (ein Drittel mehr als Feb. 2015), 44 in Kabul, 15 in Mazar (2012 90, 2015 12). Ihre Aufgaben sind die strategische Beratung des Innenministeriums, die Beratung der Aus- und Fortbildung (Polizeiakademie und Grenzpolizeiakademie in Kabul, Police Sergeant Training Command/Polizei-Unteroffiziersschule und 707. Polizeizone in Mazar), die Beratung der Grenzpolizei bei der Bekämpfung illegaler Migration, die Patenschaftsprojekte zwischen der Bundespolizeiakademie Lübeck und der Polizeiakademie in Kabul, der BPOL-Inspektion Flughafen Köln/Bonn mit der Grenzpolizei KIA und der BPOL-Inspektion Flughafen Düsseldorf mit Mazar sowie der Erhalt bisheriger Infrastrukturprojekte. Die Afghan National Civil Order Police/ANCOP (eine Art Gendamerie) ist für die deutschen Polizeiberater Tabu.
(Die deutsche Polizeihilfe erlebte im Spätsommer 2008 mit der Errichtung des Regional Police Training Centers in Mazar einen starken Schub. Ab 2009 beteiligte sich Deutschland an der systematischen Ausbildung und Begleitung ganzer Distriktpolizeien (Focused District Development/FDD). Seit Oktober 2011 sind deutsche Polizisten nicht mehr an FDD beteiligt, das sehr personalintensiv war (jede Ausfahrt in die Distrikte mit je vier Polizisten + Feldjäger plus Schutzkompenente) und durch schnelle Personalwechsel auf er afghanischen Seite untergraben wurden. Der GPPI- Auftrag ging weg vom direkten Training hin zum Mentoring der Ausbilder und zur Beratung der höheren Ebenen vor allem im RPTC.)
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass man sich vor vier Jahren wohl was zu früh aus dem Training zurückgezogen habe. Man fahre viel raus, besuche die Dienststellen. Man wolle das Ohr an der Polizei haben. Das RSTC mit seinen über 100 Gebäuden laufe hervorragend und sei ein Vorzeigeprojekt. GPPI Mazar soll demnächst auf zwanzig Beamte aufwachsen.
Deutsche Hilfe auch bei der 808. Polizeizone in Kunduz werde gewünscht.
Dreimal/Woche trifft man sich zur gemeinsamen Lagebesprechung mit dem Militär. Man kenne sich. Es sei eine erfolgreiche Partnerschaft. Die Polizeihilfe sei zwingend auf Bundeswehrpräsenz angewiesen. (Sie stellt die logistische Basis und das direkte sichere Arbeitsumfeld.)
Die im Juni 2007 gestartete EU-Polizeimission EUPOL läuft zum Jahresende aus. Resolute Support hat angeboten, die wegfallenden letzten 21 Polizeiberater zu stellen/übernehmen.
Das GPPT hat, wie mir scheint, im internationalen Vergleich an Bedeutung gewonnen und ist offenbar inzwischen einer der wenigen Hauptträger der internationalen Polizeiaufbauhilfe in Afghanistan.
Die deutschen Polizeibeamten machen – die Anmerkung sei erlaubt – einen ausgesprochen kompetenten, bodennahen, zupackenden Eindruck. Sehr überzeugend!
(Zum Focused District Development Sascha Waltemate, Focused District Development – Problemlösung für den Polizeiaufbau in Afghanistan? Düsseldorf DIAS-Analyse Februar 2011
http://www.dias-online.org/fileadmin/templates/downloads/DIAS_Analysen/Analyse45.pdf ;
Joanna Buckley, Building the Police through the Focused District Development Programme, Afghanistan Analysts Network Kabul 2012, http://www.afghanistan-analysts.org/wp-content/uploads/downloads/2012/09/12_Buckley_Building_the_Police.pdf )
Zu Nichtregierungsorganisationen
Bei der 30. (!) AFG-Tagung in der Evangelischen Akademie Villigst/Ruhr Ende November 2016waren anwesend u.a. Mitglieder/Unterstützer
- des Freundeskreises AFG e.V. (www.fk-afghanistan.de ),
- von Afghanic e.V. ( www.afghanic.de ),
- der Deutsch-Afghanischen Initiative DAI (www.deutsch-afghanische-initiative.de ),
- des Afghanischen Frauenvereins e.V. (www.afghanischer-frauenverein.de ),
- “Kinder brauchen uns e.V. – Humanitäre Hilfe für Not leidende Kinder“ (www.kinder-brauchen-uns.de ),
- des Chak-e-Wardak Hospital Projekts (vor mehr als 26 Jahren Karla Schefter gegründet, http://www.chak-hospital.org/ )
- Clinic Dewanbegi (www.dewanbegi-clinic.org ),
- des Schweizerischen Afghanistan Instituts/Bibliotheca Afghanica (www.afghanistan-institut.ch )
- von Medica Afghanistan ( https://www.youtube.com/watch?v=EJNRNK04ae4&feature=youtu.be ),
- von Conflictfood – Safran vom Frauenkollektiv in Shahiban b. Herat (https://conflictfood.com/ )
In Deutschland erstmalig zu sehen war in Villigst die Fotoausstellung „100 Jahre Deutsch-Afghanische Freundschaft“, die 2016 schon in Kabul, Mazar, Herat und anderen afghanischen Städten gezeigt wurde. Die reiche und schöne Ausstellung erstellte Paul Bucherer-Dietschi im Auftrag des Auswärtigen Amtes. Die Ausstellung verdient breite Nachfrage und Förderung! (http://mediothek-afghanistan.org/?q=en/node/1172 )
Der Verein „Afghanistan-Schulen“ wurde 1984 von Ursula Nölle gegründet und arbeitet seit 1988 im Raum Andkhoi/Provinz Faryab (Nordwest), seit einigen Jahren auch in Mazar. Auszug aus dem jüngsten Reisebericht von Marga Flade und Tanja Khorram vom Oktober 2016: „Afghanistan? Da kann man nicht hinfahren, da ist doch Krieg!“
Wie oft hören wir das vor unseren Projektreisen. Und doch, auch diese Reise hat es wieder bestätigt: Ja, es gibt immer wieder Anschläge, es gibt auch immer wieder Versuche, wie z.B. in Kunduz, die Zeit zurückzudrehen, es gibt Korruption und die Drogenwirtschaft blüht wieder, die Regierung ist zerstritten und schwach – aber: Millionen von Menschen sind dabei, sich und ihren Kindern eine bessere Zukunft aufzubauen. Schade, dass in unseren Medien so wenig über die Fortschritte berichtet wird. Überall wird gebaut, Straßen, Staudämme und große Wohnblocks, Schulen und Universitäten sind voller lernbegieriger junger Menschen. Breite Straßen in den Städten sind von Bäumen und Blumen gesäumt, historische Stätten wurden restauriert. Letzteres konnten wir z.B. in Herat bewundern: Die alte Zitadelle liegt im beinah alten Glanz über der Stadt, die große Moschee ist wunderschön anzusehen, nur die fünf Minarette einer mittelalterlichen Universität warten noch auf Hilfe.
Aber nun zu unseren eigentlichen Reisezielen: Andkhoi und Umgebung und Mazar-e-Sharif.
In den vier Distrikten um Andkhoi gibt es zwar immer noch Bedarf an weiteren Klassenräumen, aber unsere Arbeit in den letzten 14 Jahren hat doch deutlich Früchte getragen. 41 Schulen wurden dort von uns gebaut. (weiter http://www.afghanistan-schulen.de/reise-oktober-2016.html
Die Familieninitiative „Kinderhilfe Afghanistan“ von Dr. Reinhard und Annette Erös wurde 1998 gegründet und verlegte 2002 ihren Schwerpunkt nach Afghanistan. In Städten und Bergdörfern der Provinzen Nangarhar Laghman, Kunar und Khost betreibt die Kinderhilfe AFG 30 Schulen mit rund 60.000 SchülerInnen und über 1.400 LehrerInnen, zwei Berufsschulen für Mädchen, zehn Computerzentren. Eine Deutsch-Afghanische Friedensuniversität wurde am 4. Oktober 2014 in Laghman eröffnet (2.200 Studierende), 2016 eine erste moslemisch-christliche Mädchenoberschule in Pakistan. (2.200 Studierende), (http://www.kinderhilfe-afghanistan.de/ )
Rolle Deutschlands
Deutschland ist in Nordafghanistan einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Akteur internationaler Aufbauhilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Dieses Engagements, das so ressortübergreifend vernetzt sei wie bei keinem anderen internationalen Geber, sei hoch angesehen und breit akzeptiert. Das große Vertrauen in das deutsche Engagement sei auch eine große Stärke. Damit habe dieser Einsatz zugleich bessere Chancen, nachhaltig zu wirken.
Als im Herbst 2015 angesichts der Taliban-Besetzung von Kunduz Gouverneur und internationale Organisationen die Stadt verließen, war die Panik groß. Anders lief es im letzten April. Die Eliten und die Bevölkerung schauen auf das Verhalten der Internationalen. Es wirkt als Rückversicherung – oder umgekehrt.
Andere internationale Akteure
Die Brüsseler AFG-Konferenz von 75 Staaten und 26 internationalen Organisationen gilt wegen ihrer – angesichts der Krisenkonkurrenz – bemerkenswert hohen Zusagen (13,6 Mrd. Euro für vier Jahre) als Erfolg.
Die Türkei engagiert sich in den turkstämmigen Gebieten des Nordens (z.B. um Sheberghan/Provinz Jowzjan westl. Mazar) , errichtet türkisch-afghanische Schulen und soll geschickt im kommerziellen Bereich aktiv sein. Massiv unterstützt wird die Ausbildung der afghanischen Grenzpolizei: 2000 ABP-Stipendiaten sollen sich pro Jahr in der Türkei befinden. Atta-Rivale Abdul Rashid Dostum steht in gutem Verhältnis zur Türkei. Kürzlich stattete er Präsident Erdogan einen Besuch ab.
China ist der größte ausländische Investor in AFG. Die 2008 erworbenen Schürfrechte für das Kupfervorkommen von Mes Aynak/Provinz Logar, eine der größten unerschlossenen Cu-Lagerstätten der Welt, liegen wegen der Sicherheitslage brach.
Ein großes Ereignis war die Ankunft des ersten chinesischen Güterzuges mit 84 Containern im September in Hairatan (Grenzort nach Usbekistan). Der Zug hatte für die 4.600 Meilen von Nantong an der chinesischen Ostküste 15 Tage gebraucht. Lkw`s sollen für dieselbe Strecke drei bis sechs Monaten brauchen. (https://www.bloomberg.com/news/articles/2016-09-11/china-lays-new-brick-in-silk-road-with-first-afghan-rail-freight )
Der neue „International Airport“ in Mazar macht äußerlich einen modernen Eindruck, läuft in Wirklichkeit aber längst nicht, wie erwartet. Schwierige Strom- und Wasserversorgung, altes Management, unterbezahlte, vom TAAC-N bezuschusste Fluglotsen, im Winter nur von Turkish Airlines bedient – und Behörden in Kabul, die an einer potenziellen Konkurrenz zu KIA nicht interessiert sind.
Mit das größte Problem sei der Geldschmuggel über die Grenze. Statt der erlaubten 20.000, gehen realiter Summen von 500.000, Millionen über die Grenze. Dagegen könne man nichts machen.
Sicherheit
Resolute Support umfasst landesweit ca. 13.000 Soldaten (maximale ISAF-Stärke 120.000 in 2010) aus 38 Staaten, davon 6.800 US-Soldaten. Zweitgrößter Truppensteller ist Deutschland mit 980 Soldaten. TAAC-N verfügt für einen Raum von der Größe der halben Bundesrepublik über 1.700-1.800 Soldaten aus 21 Nationen, davon 700-800 deutsche. Georgien stellt 130, Mongolei 120, Niederlande und Ungarn je 100, Kroatien 70, die USA 25 Soldaten (hierüber auch Zugang zu US-Streitkräfte in Afghanistan). (Dass mich ein Hauptmann aus Bosnien & Herzegowina bei meinen separaten Programmpunkten unterstützt, finde ich (+)unglaublich: Vor zweieinhalb Wochen habe ich noch an unsere Bosnienreise vor genau 20 Jahren erinnert, an unsere Schlüsselerfahrungen am Hang von Sarajevo – der Stadt, die 1.425 Tage unter den Augen der Weltöffentlichkeit belagerten, beschossen und im Stich gelassen worden war.)
Die Lagersicherung stellt eine mongolische Kompanie, die Quick Reactin Force/QRF eine georgische Kompanie. Niederländer und Kroaten stellen die Multinational Task Force, die Bundeswehr eine Kompanie Force Protection.
Der Kernauftrag ist Advise und Assist auf Korpsebene (209. ANA-Korps) und bei Ausbildungseinrichtungen (Regional Military Training Centre in Camp Shaheen) sowie dem HQ 707. Polizeizone in Mazar. TAAC-N stellt rund 120 Berater, davon 80 deutsche. Im seit 2015 massiv unter Druck stehenden Kunduz sind im Camp Pamir (nahe beim ehemaligen PRT und Flugplatz) 50-60 Bundeswehrsoldaten der mobilen Beratung des „expeditionary TAA“ (eTAA) eingesetzt. Der Korpsstab geht nicht mit einem Gefechtsstand in einen Einsatzraum. Berater dürfen ihre Klienten nur bei der Dienstaufsicht begleiten.
Der Operationsplan von Resolute Support setzt die Grenzen von Aufgaben und Ebenen. Die Afghanischen Kräfte dürfen inzwischen in bestimmten nichtkinetischen Bereichen (z.B. Lufttransport, Aufklärung) von RS unterstützt werden, weiterhin nicht durch Waffeneinsatz. Im Herbst 2015, beim Fall von Kunduz, war es TAAC-N nicht erlaubt, afghanische Spezialkräfte nach Kunduz zu fliegen.
Parallel zu Resolute Support agiert die US-Operation “Freedom`s Sentinel“ mit rund 2.100 Soldaten im Land. Ihr Auftrag sind Antiterroroperationen gegen Al Qaida, IS und andere definierte Terrororganisationen, der Schutz von US-Kräften und die Vorbeugung, dass Afghanistan nicht wieder zu einem sicheren Hafen für terroristische Bedrohungen der USA wird. (Report to the US Congress, Jul-Sep 2016, http://www.dodig.mil/IGInformation/archives/OFS4_Sept2016_Gold_508.pdf )
Ein zentrales Handicap von Resolute Support ist, dass man mangels eigener Sensoren in der Fläche erheblich auf das – nur eingeschränkt zuverlässige - Reporting der afghanischen Sicherheitskräfte angewiesen ist und selbst kein umfassendes Lagebild hat. Dieser Mangel kann nur partiell und punktuell reduziert werden: durch Aufklärungsplattformen wie die Heron 1und das zeppelinartige Persistent Threat Detection System (PTDS) einerseits und Foward Area Specialists/FAS (Interkulturelle Einsatzberater) andererseits.
(FAS/IEB`s sollen militärische Entscheidungsträger dabei unterstützen, einen Einsatzraum mit seinen lokalen, ethnischen, religiösen, politischen Strukturen, mit seinen relevanten Multiplikatoren, Beziehungsgeflechten und historischen Tiefenschichten besser zu verstehen, Kontakte herzustellen und zu pflegen, um insgesamt in der Kommunikation und Interaktion mit der örtlichen Bevölkerung und ihren Akteuren wirksamer zu werden und kontraproduktives Handeln zu vermeiden.
Unbemanntes Aufklärungssystem (UAS) Heron 1: Seit März 2010 mit drei Drohnen in Mazar stationiert (weitere Heron inzwischen auch in der Türkei und in Mali; bei 42 Bildauswertern und einer mehrjährigen Ausbildung ist man personell zzt. an der Grenze). Das System dient der Echtzeitaufklärung vor allem zum Schutz eigener Kräfte. Weitere Aufgaben sind (grundsätzlich) Vorbereitung von Operationen, Lagebeurteilung, Beobachtung der Aktivitäten von gegnerischen Kräften, Ziel- und Wirkungsaufklärung, humanitäre Hilfe + Schadenserfassung bei Katastrophen. Verantwortungsbereich ist der ganze Norden bis Faryab im Westen. Heron 1 kann technisch über 30 Stunden in der Luft sein, laut Vorschrift maximal 27, real ca. 23 Stunden. Ablösungen in der Luft ermöglichen längere Beobachtungszeiten. Die Mindestflughöhe beträgt 1.524 m, bei einer Flughöhe von 3000 m seien die Aufnahmen sehr gut (z.B. an Person Kleidungsstücke, Tasche, ggfs. Waffe erkennbar), ab ca. 4.000 m (maximal 7600) sei Heron vom Boden aus nicht zu sehen und nicht zu hören. Heron beobachtet immer im Winkel (50°). So sind Objekte und Bewegungen besser erkennbar. 2012 wurden pro Tag von den insgesamt drei Heron zwei bis fünf Missionen geflogen. Die damals insgesamt sechs Bediener- und Auswertecrews in der Auswertestation im Camp Marmal wechselten alle vier Stunden. In der Kontrollstation sitzen Pilot und Kamera-/Sensorführer nebeneinander. Der Auftrag kommt vom TAAC-N.
Bedarfsträger können direkt über Laptop mit sehen, über Roversystem sogar auch eine Patrouille. Ausgebildete Luftbildauswerter analysieren die Aufnahmen. Die Powerpoint-Präsentation mit Daten kann in zwei, drei Minuten fertig sein. Die Heron-Mannschaft kommt vom Taktischen Luftwaffengeschwader 51 in Schleswig-Jagel. Anfang Dezember 2016 erreichte das Einsatzgeschwader Mazar seine 30.000 Heron-Flugstunde. (Mein Reisebericht 2012, Kapitel Einsatz-geschwader Mazar, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1183 ))
Camp Qasaba
liegt nördlich von KIA im gleichnamigen Stadtteil. Wir erreichen es im Black Hawk Hubschrauber. Auf 160 x 160 m ist hier die deutsche Unterstützungskompanie mit ihren Transport-, Material-, Instandsetzungs- und Fernmeldekräften stationiert, der Lebensader für die Soldaten der Bundeswehr und einiger kleinerer Länder in Kabul. Die rund 50 armenischen Sicherungskräfte sind in Deutschland ausgebildet. Das Camp mit seinen fünfstöckigen Wohnhäusern (knapp 300 Betten) wird durch eine saudi-arabische Firma bewirtschaftet. Camp-Manager ist ein sehr landeserfahrener Deutscher.
Vom Dach beeindruckender Rundumblick: zum KIA in einigem km Entfernung, nach Norden auf einen kahl-braunen Berghang, an dem ein Neubauviertel hochkriecht. Unter uns die Nachbarn: Ein großes Logistikzentrum der ANA; nach Norden anschließend Camp Lancaster (Training Counter Narcotics), nach Süden anschließend Camp Integrity. Am „Schwarzen Freitag“ des 7. August 2015 griffen nach 22.00 Uhr zwei Bewaffnete am Haupttor von Integrity an und töteten dort einen RS-Soldaten und acht Wachleute. Kurz vorher hatte sich vor der Polizeiakademie ein Selbstmordattentäter unter rückkehrende Polizeischüler gemischt und 26 in den Tod gerissen, 27 verwundet. Um 1.00 an diesem Freitag explodierte in einem südlichen Stadtteil ein mit Sprengstoff beladener Lkw. 15 Menschen wurden getötet, über 400 verletzt, alles Zivilisten.
Auf dem Dach sind geschützte Stellungen vorbereitet, in jede Himmelsrichtung.
Fünf Fahrminuten von hier liegt der Kindergarten Qasaba, den deutsche Soldaten seit zehn Jahren im Rahmen von „Lachen Helfen e.V.“ unterstützen. (http://lachen-helfen.de/2016/07/unterstutzung-des-qasaba-kindergartens-in-kabul/ )
Briefing beim Trupp der Kampfretter der Luftwaffe
Wenige Stunden vor der feierlichen Kommandoübergabe treffe ich die sechs Haupt- und Stabsfeldwebel der kleinen, hoch spezialisierten „Kampfretter Luftwaffe“. In einem Hangar haben die Soldaten hinter einer CH-53 eine umfassende Präsentation mit Schautafeln, Waffen und Ausrüstung aufgebaut. Die Kampfretter informieren mich umfassend, anschaulich und lebhaft über ihre Arbeit. Offen sprechen sie auch Fragen der Sanitätsausbildung für Nicht-Sanitätspersonal und des Status der Kampfretter an.
Die Kampfretter sind eine Art „kämpfende Feuerwehr“ für alle Arten an militärischen Rettungseinsätzen von isoliertem militärischem, aber auch zivilem Personal. Sie vereinigen in einzigartiger Weise infanteristische Wirkung, Verbringung (Mobilität), Überlebensfähigkeit und medizinischen Schutz. Sie sind die einzige Einheit dieser Art in der ganzen Bundeswehr. Die Kampfretter gehören mit dem Kommando Spezialkräfte, dem Fallschirmjägerregiment 31 in Seedorf, dem Kommando Spezialkräfte und dem Seebataillon der Marine sowie dem Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst zu den bundeswehr-gemeinsamen Fähigkeiten zur militärischen Rettung, Evakuierung und Geiselbefreiung im Rahmen der nationalen Krisen- und Risikovorsorge.
2003 und 2005 erklärte sich die Bundesregierung zur „Lead Nation“ in der international knappen Fähigkeit der Kampfretter.[1] Allerdings wurden erst 2013 beim Hubschrauber-geschwader (HSG) 64 in Laupheim/Baden-Württemberg 25 Dienstposten „Kampfretter-feldwebel Luftwaffe“ (KRFwLw) geschaffen, von denen inzwischen 18 besetzt sind. Das einzige Hubschraubergeschwader der Luftwaffe ist mit dem mittleren Transporthubschrauber CH-53 ausgestattet. 2015 erreichte die Einheit ihre vorläufige Einsatzbereitschaft. Seit August sind die Kampfretter erstmalig im Einsatz – bei Resolute Support in Mazar-i Sharif.
14 Stunden nach unserem Treffen kamen sie in ihren ersten scharfen Einsatz - nach dem Terrorangriff auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar. (s.u.)
Primärauftrag der Kampfretter ist die
Rettung und Rückführung von isoliertem Personal bei Tag + Nacht, in allen Klimazonen, bei allen Wetterlagen, in jedem Gelände – auch bei Bedrohung. Ihr Motto: „Damit andere leben können!“
Aufgaben der Kampfretter (2. Staffel HSG 64)
- Rettung abgestürzter Luftfahrzeugbesatzungen und anderer Kräfte (eigene + verbündete)
- Unterstützung von Special Operation Task Forces (SOTF/JSOTF), Herauslösen von Spezialkräften/spezialisierten Kräften (EGB)
- Dezidiertes Personal für Rettung
- Nationale SAR-Unterstützung
- Weltweite DSAR-Fähigkeit
Das alles
- bei Tag und Nacht, Rufbereitschaft 24 Stunden 7 Tage die Woche
- unter Bedrohung
- in allen Intensitäten und unter allen Bedingungen
- Land/Wasser, auch schwieriges Gelände
Fähigkeitsspektrum + Fähigkeiten der Kampfretter
- Lokalisieren von ISOP
- Abseilen (Fast Roping, Rapelling)
- Taktische Verwundetenversorgung (TCCC): präklinische Erstversorgung Verwundeter, Versorgung Verwundeter auch über längeren Zeitraum, Verwundetensammelstelle (CCP)
- Seilrettung (bis 50 m Tiefe), Trümmer- und Wasserrettung
- Technische Rettung (Öffnung von gepanzerten Fahrzeugen), Landmobilität
- Luftlandung, HALO (High Altitude – Low Opening), HAHO (High Altitude – High Opening)
- Besatzungsmitglied CH-53 (Militärluftfahrzeugbesatzungsschein), zugleich plattformunabhängig (auch mit Helikopter UH-60 Black Hawk, Mi-17, H145M für Spezialkräfte)
(Kampfretter sind kein Ersatz für MEDEVAC-Teams)
Kampfrettertrupps (6 Mann) untergliedern sich nach bestimmten Funktionen (Truppleader, First Responder, Rescue Specialist, First Responder 2 etc.)
Ausbildung
Nach fundierter infanteristischer Ausbildung Aircraft Crew Member Duties, Fallschirmspringen (HAHO/HALO), Land Mobility, Abseilen, Schießen, Einzelkämpfer, Nahkampf (für spezialisierte Kräfte), Überlebenstraining Land/See, SERE-C, Technical Rescue, Rope Rescue, Open Water Surface Rescue, taktische Verwundetenversorgung (alle mit Befähigungsstufe II; vorgesehen ist Stufe 3: Zugänge legen, bestimmte Medikamente, Luftröhrenschnitt, eingeschränktes Monitoring bei Verwundeten-transport; bisher erst ein Kampfretter auf Stufe III, vier Ausbildungsplätze/Jahr).
Die Frage der medizinischen Fähigkeiten der Kampfretter ist laut FAZ vom 30.6.2016 (Johannes Leithäuser, „Schießen Sie nicht auf den Sanitäter“) seit Jahren zwischen Luftwaffe und Sanitätskommando strittig. Im Frühsommer wurde eine Vereinbarung erreicht, wonach die Kampfretterteams eine höhere medizinische Ausbildungs-/Befähigungsstufe III erhalten können und durch Notfallsanitäter (Luftrettungsmeister) verstärkt werden sollen.
Dagegen gibt es (vgl. FAZ) erhebliche Einwände:
In Bedrohungs- und Kampfsituation, wo Überleben die erste Voraussetzung von Retten und Evakuieren ist, könne durch die Vorne-Beteiligung von Sanitätspersonal mit seinem anderen völkerrechtlichen Status (nur Recht zur unmittelbaren Selbstverteidigung) die Kampffähigkeit der Kampfretter beeinträchtigt werden. Zudem kommen Kampfretter primär per Fallschirm, Abseilen aus Hubschraubern oder anderen Absetzmitteln an ihren Einsatzort. Solche Fähigkeiten sind bei Sanitätspersonal praktisch nicht vorhanden, die Ausbildung dafür ist zeitintensiv und komplex. Da die vorgesehenen „Luftrettungsmeister“ nicht in Laupheim stationiert sind, können standardisierte Verfahren erst im Einsatz umgesetzt werden.
Damit sich in der besonders fordernden und riskanten Situation von akuter Bedrohung und Kampf die unterschiedlichen Soldatentypen nicht behindern, wird darauf gedrängt, die Kampfretterfeldwebel so auszubilden und zu berechtigen, dass sie bei Rettungs- und Rückführungsoperationen isoliertes Personal im Rahmen der erweiterten Selbst- und Kameradenhilfe eigenständig und ggfs. auch ohne qualifiziertes Sanitätspersonal bis zu 72 Stunden versorgen können.
Sicherheitslage
Mosaiksteine: Stark verunsichernd ist die allgemeine Kriminalität. Ein Landeskundiger in Kabul berichtet von zig Entführungen am Tag, oftmals unter Verwicklung von Sicherheits-kräften.
Rund ein Viertel der 400 Distrikte soll unter Einfluss oder direkter Kontrolle der Taliban stehen. Deutsche Diplomaten schätzen die Sicherheitslage im Norden als schwieriger gegenüber vor eineinhalb Jahren ein. Taliban könnten Straßen unbefahrbar machen. In Kunduz habe man gar keine zivilen Mitarbeiter mehr. Pol-e Khomri/Baghlan sei wegen der schwierigen Evakuierungsmöglichkeit kaum noch erreichbar.
Talibanangriff auf Kunduz am 3. Oktober (vierter Anlauf in gut einem Jahr!)ab frühem Morgen: koordinierte Attacken auf und in Kunduz aus vier Richtungen von bis zu 150 Kämpfern, die meisten aus umliegenden Orten, rund 40 aus Baghlan, junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren, auch bekannte Talibanführer. Mehrere Taliban drangen bis zum „Wolga-Kreisel“ im Zentrum vor. Gegen 22.00 Uhr von afghanischen Spezialkräften aus dem Stadtzentrum zurückgedrängt, am Folgetag vereinzelte Feuergefechte am Stadtrand. (SPIEGEL berichtet von zweitägiger Besetzung des Zentrums) ANDSF leisten Luftnahunterstützung mit Erdkampfflugzeugen A-29 und leichten Kampfhubschraubern MD-530. (Die Afghan Air Force verfügt seit diesem Jahr über acht A-29 mit acht ausgebildeten Piloten - erster scharfer Einsatz im April - und 27 MD-530 – erster scharfer Einsatz im August 2015.) Ab 3.10. hemmten vier Taliban-Straßensperren auf dem Highway 3 erheblich die Bewegungsfreiheit der ANDSF und die Versorgung der Stadt. Die Straße konnte am 13.10. wieder geöffnet werden.
Über die Heron ließ sich die Taktik der Taliban verfolgen: Motorräder wurde am Stadtrand abgestellt. Kleinstgruppen von zwei bis drei Mann liefen durch die Viertel, die Straßen rauf und runter, schickten Familien in die Keller, schossen aus den Häusern, verbreiteten Filme davon sofort über soziale Medien und erweckten den Eindruck von ganz vielen Angreifern überall, Angst + Schrecken! Armee und Polizei kamen da mit ihren schwerfälligen Kolonnen gar nicht nach. Nicht physische Besetzung und Machtergreifung war offenkundig das Ziel, sondern Verwirrung stiften, Eindruck machen, zermürben. Die Taliban erwiesen sich einmal mehr als Meister der medialen Kriegführung.
Beobachtet wurde auch, wie Checkpoints kampflos den Taliban übergeben wurden.
Neben Kunduz gelten fünf weitere Provinzstädte als umkämpft, darunter Pol-e Khomri/ Baghlan, Maimana/Faryab, Lashkar Gah/Helmand.
Ein Insider schätzt, dass die Angreifer von 500 Mann sicher 250 verloren hätten. (Die Widersprüche zwischen den sehr unterschiedlichen Zahlen konnte ich nicht klären.)
Die „Abnutzungsquote“ der ANA liegt nach verlässlichen Quellen bei 30% im Jahr: 10-15% Gefallene und Verwundete, 70% Fahnenflucht, 10% reguläres Ausscheiden. Das heißt: Alle paar Jahre tauscht sich die Masse des Armee aus. Hinzu kommt der schnelle Wechsel von Korps- und Divisions-/Brigadekommandeuren mitsamt ihren Stäben. Verbreitet ist eine Bad Leadership, wo Führungspositionen nicht nach Eignung und Leistung besetzt werden. Wie kann, wie will man da nachhaltige Ausbildung, Beratung, Aufbauhilfe leisten?
Der monatliche Sicherheitsreport von TOLOnews bezeichnet den Oktober 2016 als den tödlichsten Monat der letzten zwei Jahre: Getötet oder verletzt wurden im Oktober über 6.000 Aufständische (+ 23% ggb. September, 4.150 getötet), fast 500 Sicherheitskräfte (+24%, fast 400 getötet) und mehr als 700 Zivilisten (+ 55%, 125 getötet). Gezählt wurden 1.164 Sicherheitsvorfälle, 21% mehr als im September. In Nangarhar wurden 125 Sicherheitsvorfälle gezählt, in Helmand 96, in Farah 95 und in Kunduz 74.
Der UNAMA-Report zu Zivilopfern meldete für die ersten drei Quartale 2016 2.562 Tote und 5.835 Verletzte im Kontext des bewaffnete Konflikts, ein Prozent weniger als im Vorjahrszeitraum. Der jahrelange Anstieg der Opferzahlen setzt sich erstmalig in diesem Jahr nicht fort, sondern verharrt auf einem schlimm hohen Niveau.
Für 61% der Zivilopfer sollen regierungsfeindliche Kräfte verantwortlich sein (-12% ggb. dem Vorjahr), für 23% Pro-Regierungskräfte (+42% ggb. 2015, vor allem wegen des Einsatzes von indirektem Feuer, Explosionswaffen und Luftangriffe).
Weiter anwachsend ist die Zahl der Kinder unter den Opfern: 639 wurden getötet, 1.833 verletzt, ein Anstieg um 15%.
Bodenkämpfe verursachten 39% aller Zivilopfer (+18% ggb. 2015).
Durch IED`s wurden 496 Menschen getötet und 1.018 verletzt, ein Rückgang um 22%. Opfer durch Targeting Killings gingen um 30% auf 445 Tote und 390 Verletzte zurück.
Ungeachtet dieser Rückgänge setzten regierungsfeindliche Kräfte ihre Angriffe direkt gegen Zivilisten und an Orten mit zahlreichen Zivilisten fort. Mit Absicht angegriffen wurden friedliche zivile Demonstranten (am opferreichsten am 23. Juli in Kabul mit 85 Toten und 413 Verletzten), Bildungseinrichtungen, Juristen und Medienleute, Bazare und religiöse Stätten. Wo Zivilisten direkt angegriffen werden, handelt es sich um Kriegsverbrechen.
In zahlreichen Fällen waren Gesundheits- und Bildungseinrichtungen betroffen, auch humanitäre Minenräumer, Polio-Impfpersonal und humanitäre Helfer. Bei einem Selbstmordangriff auf die American University wurden 13 Menschen getötet und 48 verletzt.
(UNAMA-Report 3. Quartal 2016: http://unama.unmissions.org/sites/default/files/19_october_2016_-_un_chief_in_afghanistan_renews_call_for_parties_to_protect_civilians_english.pdf ;
vgl. meine Zusammenfassung + Kommentierung der vorherigen UNAMA-Berichte
http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1421 )
Medica Mondiale: „In Afghanistan hat sich die Sicherheitslage seit Beginn des Abzugs der internationalen Streitkräfte rapide verschlechtert. Mindestens 3.500 ZivilistInnen wurden 2015 bei Kämpfen und Anschlägen getötet. Wirtschaftlich geht es dem La )nd extrem schlecht, die Armut wächst, während die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft schwindet. Besonders betroffen sind davon Frauen und Mädchen. Das Frauenministerium verzeichnete einen Anstieg von Vergewaltigungen und die Unabhängige Afghanische Menschenrechts-organisation (AIHRC) stufte 2015 als „tödlichstes Jahr für Frauen in Afghanistan“ ein.“ (http://www.medicamondiale.org/wo-wir-arbeiten/afghanistan.html )
Der Terrorangriff
Das Besuchsprogramm am 10. November endete mit einem Formal Dinner des Befehlshabers des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant Pfeffer, mit dem bisherigen und dem neuen Regionalkommandeur, ihren engsten Mitarbeitern und unserer kleinen Delegation aus Deutschland in der „Oase“. Um 21.00 Uhr gingen wir auseinander. Kurz nach 23.00 Uhr passierte es im ca. 10 Kilometer entfernten Stadtzentrum von Mazar. In unserer Unterkunft am Ostrand des Camps bekam ich davon zunächst nichts mit. Um 0.43 (21.13 MEZ) ging das Telefon, dann erneut um 0.52 Uhr. Auf dem Anrufbeantworter meldeten sich meine Ex-FraktionskollegInnen, erst Omid Nouripour, dann Agnieszka Brugger: Sie hätten von einem schweren Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar erfahren, „bitte melde Dich“. Draußen höre ich außer dem entfernten Generatorenbrummen nichts Auffälliges. Ich rief zurück und meldete, dass persönlich alles in Ordnung ist. Am Morgen des 11. November verdichtet sich das Lagebild. (vgl. Matthias Gebauer http://www.spiegel.de/politik/ausland/taliban-anschlag-in-masar-i-scharif-aussenamt-zieht-diplomaten-vorerst-ab-a-1120912.html ; aktualisiert nach Marco Seliger „Handgranaten bei Saladin“, FAZ 10.12.2016, S. 3, vgl. auch Thomas Ruttig https://thruttig.wordpress.com/2016/11/10/taleban-greifen-deutsches-generalkonsulat-in-masar-an/ und Friederike Böge und Johannes Leithäuser in der FAZ 12. November http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/angriff-auf-deutsches-konsulat-in-mazar-i-sharif-14523494.html):
Gegen 23.10 Uhr Ortszeit brachte ein Selbstmordattentäter einen Kleinlaster mit 1000 kg Sprengstoff im Eingangsbereich des deutschen Generalkonsulats im Zentrum von Mazar zur Explosion. Diese schlug eine mehrere Meter breite Bresche in die Außenmauer und beschädigte die Konsulatsgebäude sowie Gebäude im größeren Umkreis (laut TOLO news mehr als 100 Wohnungen und Läden). Sechs Personen wurden getötet und 129 verletzt – viele durch Glassplitter in ihren Wohnungen. Wie bei „komplexen Angriffen“ üblich, seien Talibankämpfer (Zahl bisher unbekannt) auf das Konsulatsgelände vorgedrungen, aber von Bundespolizisten bekämpft und abgewehrt worden. Die zwanzig Konsulatsangehörigen konnten sich zum großen Teil in den besonders geschützten „Panikraum“ zurückziehen. Körperlich verletzt wurde niemand. Als erste externe Kräfte traf nach einer guten Stunde die überwiegend aus georgischen Soldaten bestehende Quick Reaction Force aus Camp Marmal ein. Eine halbe Stunde nach der QRF sollen dann KSK-Soldaten und Kampfretter der Luftwaffe eingetroffen sein. Nach Durchkämmen des Gebäudes wurden knapp vier Stunden nach dem Angriff alle Konsulatsangehörigen in das Camp Marmal evakuiert.
Mysteriös ist laut Seliger die Vorgehensweise der unbekannten Zahl an Kämpfern, die sich gut ausgekannt haben müssen und von denen nur einer später in einem Versteck gefasst wurde, und die Rolle des privaten Sicherheitsdienstes „Saladin“, dessen Mitarbeiter angeblich nicht aktiv geworden seien, in deren Gebäude direkt neben dem Haupthaus mehrere Rucksäcke mit Gewehrmunition, Handgranaten und Verpflegung gefunden worden seien.
Als gegen 6.00 Uhr drei Motorradfahrer auf eine Absperrung am Anschlagsort zufuhren und auf Warnschüsse und Stoppzeichen nicht reagierten, eröffneten deutsche Soldaten das Feuer. Zwei Kradfahrer wurden getötet, einer verletzt. Am 13.11. berichtete TOLOnews von der Aussage des einzigen überlebenden Attentäters bei der Polizei, der Angriffsplan sei vor sechs Monaten in Peshawar entstanden. Monatelang seien er und andere Männer im Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff ausgebildet worden. ( http://www.tolonews.com/en/afghanistan/28319-attack-on-german-consulate-masterminded-in-pakistan ) Die Taliban begründeten den Terrorangriff als Vergeltung für einen NATO-Luftangriff, dem am 3. November in Kunduz 30 Zivilpersonen zum Opfer gefallen waren.
Bei solcher Art komplexen Angriffen legen es Taliban darauf an, möglichst viele Personen ihrer „Zielgruppe“ umzubringen. Es sind x Mal praktizierte Massaker-Angriffe. Vor diesem Hintergrund ist es eine große Leistung vor allem der Bundespolizisten und der Soldaten von Resolute Support und ein großes Glück, dass sie diese Absicht der Taliban verhindern und die Konsulatsangehörigen alle schützen konnten!
(Als ich nach Landung in Tegel am späten Abend des 11. November im RE 7 von Hamm nach Münster sitze, ist der Zug voller junger Leute. Zum 11.11. sind viele geschminkt + verkleidet, etliche kräftig alkoholisiert. Hinter mir röhren + rülpsen einige Jungs. Mir steigt der Gegensatz zu Mazar hoch. Einer von ihnen fragt mich, ob sie stören würden. Ich antworte, anderes würde mich viel mehr stören, hätte heute einen Anschlag mitbekommen. Er wird schlagartig ernst, zeigt Mitgefühl, nimmt mich in den Arm, wünscht mir schönes Wochenende mit der Frau … Seine Kumpels hören zu, nicken mitfühlend. Rührend. Einen Tag später bei der Bundesdelegiertenversammlung der Grünen in Münster begrüßen mich viele KollegInnen ganz besonders herzlich und mit Erleichterung. Sie hatten gehört, dass ich gerade in Afghanistan war.)
Am 14. November übersandte ich dem deutschen Generalkonsul in Mazar ein Solidaritätsschreiben (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1437 )
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
(1) Zwei Jahre nach Abzug der ISAF-Kampftruppen gibt es in Afghanistan kein sicheres Umfeld für die Bevölkerung, geschweige, die Regierung, ihre Bediensteten und internationale Helfer. Das zu fördern, war der Kernauftrag von ISAF. Die Opferzahlen unter Zivilpersonen, afghanischen Sicherheitskräften und Aufständischen sind so hoch wie nie seit 2001. Zivilisten sind wohl überwiegend nicht primär Ziele von Anschlägen, aber besonders oft (Begleit-)Opfer von Anschlägen, Bodenkämpfen, indirektem Feuer und Luftangriffen. Besonders bestürzend ist der Sicherheitsabsturz im Raum Kunduz/Baghlan. Ohne internationale und insbesondere US-Unterstützung wären höchst wahrscheinlich erste Provinzstädte von den Taliban erobert worden. Fluchtursachen sprießen weiter.
Hier von Deutschland aus „innerstaatliche Fluchtalternativen“ identifizieren zu wollen, erscheint als reines Wunschdenken im Nebel unklarer und unberechenbar wechselnder Lagen.
Mitverantwortlich für die düstere Situation sind Staaten – und damit auch deutsche Politik -, die 2014 einen Rückzug mit erfolgreicher Rücksicht auf die eigenen Kräfte, aber ohne jede Rücksicht auf die tatsächliche Lage, auf die AfghanInnen und ihre Sicherheitskräfte durchführten. Auffällig ist, dass diese indirekten „Kollateralschäden“ des internationalen Rückzuges heute hierzulande null Aufmerksamkeit finden und kaum ein Gewissen zu rühren scheinen, auch nicht bei Befürwortern einer werteorientierten Außenpolitik.
(2) Daesh/IS-Khurasa agiert vor allem in der Provinz Nangarhar, angeblich auch in Kunar, Logar und Wardak. Resolute Support schätzt ca. 1.000 IS-Kämpfer. Im ersten Halbjahr 2016 machte UNAMA Daesh verantwortlich für 122 Zivilopfer (25 Tote, 97 Verletzte) ggb. 13 (9/4) im Vorjahrszeitraum. Im 2. Halbjahr griff Daesh am 23. Juli in Kabul eine überwiegend von schiitischen Hazara besuchte Großdemonstration an (85 Tote, über 400 Verletzte), am 13. Oktober am Vorabend des Ashura-Festes in Kabul den größten schiitischen Schrein (29 Tote), am 21. November in Kabul eine schiitische Moschee (32 Tote, über 50 Verletzte). Die Daesh-Angriffe zielen auf die Konfessionalisierung des bewaffneten Konflikts und Bürgerkrieg.
(3) Über eine Millionen Menschen sind 2016 in AFG „unterwegs“: ca. 400.000 Binnenflüchtlinge und mehr als 600.000 „Rückkehrer“ aus Pakistan (z.T. von der afghanischen Regierung „ermutigt“). ( http://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-flash-appeal-one-million-people-move-covering-sep-dec-2016 )
(4) Unter AFG-Beobachtern und –Praktikern dominiert die Einschätzung, dass sich Regierung und bewaffnete Opposition in einem strategischen Patt befinden und dass unter den möglichen Szenarien der weiteren Entwicklung Afghanistans ein Halten des Status quo als Best case gilt (s.o.) – gegenüber den möglichen Worst cases Bürgerkrieg und/oder Zerfall.
Der politische Prozess ist von außen nur sehr begrenzt beeinflussbar. Wo Verantwortliche in Berlin ungeschützt sprechen können, wird erhebliche Ratlosigkeit offen eingestanden.
Appelliert wird oft an den notwendigen „langen Atem“ und strategische Geduld. Zu Recht, auch wenn es manchmal wie ein Vertrösten wirkt. Bewusst sein sollte dabei, dass z.B. deutsche Polizeiaufbauhilfe erst seit 2008 mit voller Kraft lief und dass die Transformation von Institutionen nach aller Erfahrung mindestens zwei, drei, vier Jahrzehnte braucht.
(5) Umso erstaunlicher und hoch anerkennenswert ist, wieviel an Aufbauhilfe trotz der erheblich erschwerten Rahmenbedingungen noch stattfindet (s.o.). Sehr unterstützenswert ist die Verstärkung des GPPT-Kontingents. Bis kurz vorm Angriff auf das Konsulat hieß es, dass die deutsche zivile Aufbauhilfe in der Bevölkerung besonders anerkannt sei und nicht im Visier der Taliban stehe. Hauptrisiken bestanden bisher vor allem in kriminellen Umtrieben und in „Begleitschäden“ bei Angriffen von Aufständischen.
Der Anschlag jetzt zielte erstmalig und von langer Hand vorbereitet auf eine deutsche zivile Einrichtung, den Knotenpunkt der deutschen Aufbauhilfe im Norden. Ob die Taliban damit zugleich einen Kurswechsel einläuten und die deutsche Aufbauhilfe zu einem „legitimen Ziel“ erklären, muss geklärt werden. Beunruhigende Fragen stellen sich mit der sehr verzögerten Hilfeleistung seitens der afghanischen Sicherheitskräfte.
(6) Mit der Trump-Administration gerät die internationale AFG-Unterstützung in hohe Ungewissheit. Das Strickmuster seiner Kabinetts-Crew lässt vermuten, dass militärische Antiterroroperationen fortgesetzt, vielleicht forciert, Aufbauunterstützung aber reduziert werden. Der Stellenwert Deutschlands als zweitgrößtem Geber und Truppensteller und vergleichsweise bestangesehenem Land könnte dadurch erheblich steigen.
(7) Deutschland ist bei keinem Land so dicht dran an Fluchtursachen – ihrer Bekämpfung wie ihrer Beförderung - wie im Fall (Nord-)Afghanistans. Politische Fehler der Vergangenheit haben zu der Fluchtwelle aus Afghanistan beigetragen. Eine Mindeststabilisierung, eine handlungsfähigere Regierung, Bewegung zu einem Friedensprozess und verlässliche Aufbauunterstützung sind die unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, dass Fluchtursachen reduziert werden und nicht noch explodieren.
Für das deutsche und europäische AFG-Engagement verschieben sich damit die Hauptmotive und –interessen: Statt um US-Loyalität geht es jetzt neben dem internationalen kollektiven Sicherheitsinteresse (vgl. Resolutionen des UN-Sicherheitsrates) um die Eindämmung von Fluchtursachen.
(8) Bei der Bundestagsentscheidung zur Fortsetzung von Resolute Support am 15. Dezember 2016 ist die Schlüsselfrage: Was ist nötig, was hat Aussicht auf Wirkung, damit sich die Lage in AFG nicht weiter destabilisiert? Sich ehrlich machen, mit fortgesetztem Wunschdenken brechen, ist dabei die erste Pflicht – auf jeder Seite:
- um „innerstaatliche Fluchtalternativen“ „nachzuweisen“, gibt es eine Tendenz, die Sicherheitslage schönzureden;
- für die afghanischen Sicherheitskräfte – und die psychologische Lage im Land insgesamt - ist die Präsenz von Resolute Support überlebensnotwendig, ebenfalls für eine über Hospital- und Schulprojekte hinausgehende zivile Aufbauhilfe.
Wer die Anstrengungen der zivilen Aufbauhilfe auch unter erschwerten Bedingungen weiter gewährleisten will, darf den Sicherheitsvoraussetzungen dabei nicht ausweichen.
Erst Recht nicht, wer im Herbst Regierungsverantwortung anstrebt.
[1] Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Elke Hoff u.a., Weitere Priorisierung des bewaffneten Such- und Rettungsdienstes (Combat Search and Rescue, CSAR), Drs. 16/8516 vom 12.3.2008;
Hans-Jürgen Leersch, Bundeswehr kann Kampfpiloten nicht retten, WELT 1.3.2007, <a href=