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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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Afghanistan + Artikel von Winfried Nachtwei für Zeitschriften u.ä.
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Afghanistan-Lehren III: Neuer Buchbeitrag "Was lässt sich aus dem AFG-Einsatz für künftige politische Entscheidungen lernen?"

Veröffentlicht von: Nachtwei am 26. Juni 2016 07:47:23 +01:00 (58122 Aufrufe)

Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des "Freundeskreises Zentrum Innere Führung e.V." erschien der Sammelband "Schützen, Retten, Kämpfen" mit Beiträgen von 52 Autoren. Ich steuerte Schlussfolgerungen aus dem AFG-Einsatz für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bei.

Was lässt sich aus dem Afghanistaneinsatz

für künftige politische Entscheidungen lernen? (Auszug)[1]

Winfried Nachtwei

(…)

2014 ging der bisher komplizierteste, teuerste und opferreichste Großeinsatz der Bundeswehr mit ISAF zu Ende.[i] Die neuen Kriegsbrände in der europäischen Nachbarschaft verdeutlichen, wie sehr Deutschland gefordert ist, bei der internationalen Krisenbewältigung mehr und wirksamer Verantwortung zu übernehmen – im Interesse kollektiver und eigener Sicherheit und zum Schutz der Menschenrechte. Um dies „früher, entschiedener und substanzieller“ (Bundespräsident Gauck) tun zu können, ist es unabdingbar, aus bisherigen Erfahrungen zu lernen – gerade aus dem Afghanistaneinsatz. Das gilt umso mehr angesichts der aktuellen Flüchtlingswelle aus Afghanistan, die die Wirksamkeit, ja den Sinn des internationalen Afghanistanengagement infrage stellt.

Zwischenbilanz

Das erste Hauptziel des Afghanistaneinsatzes war, dem internationalen Terrornetzwerk Al Qaida sein Hinterland zu nehmen. Das gelang zunächst, allerdings weder gründlich noch nachhaltig. Der US-geführte, entgrenzte „war on terror“ war auf der taktischen Ebene überaus wirksam, konnte aber die Ausbreitung terroristischer Netzwerke keineswegs schwächen – im Gegenteil. Vor allem über den Krieg im Irak wirkte er als regelrechter Brandbeschleuniger.

Das zweite militärische Hauptziel  war, die vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung so zu unterstützen, dass sie und das Personal der UN in einem sicheren Umfeld arbeiten könnten. Nach der ISAF-Ausweitung ab 2003 und den Fortschritten der ersten Jahre kehrte ab 2006 erkennbar Krieg nach Afghanistan zurück – erst im Süden und Osten, ab 2008 auch in Teilen des Nordens. Taliban und andere bewaffnete Gruppen konnten sich reorganisieren und binnen weniger Jahre zu einer Aufstandsbewegung aufwachsen, deren Angriffen Abertausende afghanisch Sicherheitskräfte, Zivilpersonen und alliierte Soldaten zum Opfer fielen. Die Verstärkung vor allem der US-Kräfte und die Counterinsurgency-Offensive ab 2010 konnte wohl 2012 den Trend der sich ständig verschlechternden Sicherheitslage stoppen. Parallel zum Rückzug der ISAF-Kampftruppen erst aus der Fläche und dann aus dem Land verschlechterte sich die Sicherheitslage aber wieder. Im ISAF-Abzugsjahr 2014 stieg die Zahl der Zivilopfer um 22% auf 10.548 Tote und Verletzte, in 2015 auf 11.000 – die höchste Zahl an Zivilopfern seit 2002. Im Klartext: ISAF wurde zurückbeordert, ohne dass sein militärischer Auftrag, ein sicheres Umfeld zu befördern, erfüllt gewesen wäre. Die seit 2006 forciert aufgebauten afghanischen Sicherheitskräfte operieren inzwischen selbständig, sind aber vielfach überfordert und erleiden extreme Verluste. Das ehemalige deutsche Hauptverantwortungsgebiet im Nordosten erlebte inzwischen einen regelrechten Sicherheitsabsturz.

Beim dritten Hauptziel, der Förderung von Aufbau und Entwicklung, gab es unbestreitbar Teilfortschritte, allerdings mit erheblichen regionalen Unterschieden: deutlich gesunkene Kindersterblichkeit, verbesserte Zugänge zu Trinkwasser, Energie, vor allem Bildung, Kommunikation, Medien, Verkehrsinfrastruktur. Trotzdem: Afghanistan bleibt eines der ärmsten Länder der Welt. Staatliche Institutionen wurden aufgebaut, sind oft aber eher Fassaden und geschwächt durch enorme Kapazitätsmängel, schlechte Regierungsführung und exzessive Korruption – eine Hauptquelle der Aufstandsbewegung.

Früh vertane Chancen

Wer 2002 nach Kabul kam, sah die krassen Zerstörungen, erlebte viel Hoffnung und hohe Erwartungen. Dass viele Hoffnungen enttäuscht und Ziele nicht erreicht wurden, dass der anfängliche Stabilisierungseinsatz zur Aufstandsbekämpfung eskalierte und Krieg zurückkehrte, wurde durch mehrere strategische Fehler begünstigt:

  • Die internationale „Gemeinschaft“ agierte jahrelang auf der Basis allgemeiner UN-Mandate ohne gemeinsame Strategie, ja mit konträren strategischen Ansätzen und mit nur geringem Verständnis der komplexen, fragmentierten afghanischen Gesellschaft.
  • Staaten, die primär den Aufbau unterstützen wollten, unterschätzten die Herausforderung von Staatsaufbau unter solchen widrigen Voraussetzungen („Billig-Statebuilding“). Exemplarisch zeigte sich das in der personellen Unterausstattung der deutschen Führungsrolle beim Polizeiaufbau oder der lange Zeit äußerst mageren operativen Komponente des Auswärtigen Amtes im Norden.
  • Wo die militärische Terrorbekämpfung im Mittelpunkt stand, agierten alliierte Kräfte vielfach wie Besatzer, verletzten und verloren hearts and minds der Bevölkerung, die zu gewinnen später der Dreh- und Angelpunkt der Counterinsurgency-Strategie sein sollte.
  • Fixiert auf Zentralstaatlichkeit vernachlässigte die internationale Gemeinschaft lange die in Afghanistan so wichtige regionale und lokale Ebene. Kurzfristige Stabilisierungsinteressen beförderten Bündnisse mit Kriegsherren und Repräsentanten schlechter Regierungsführung – auf Kosten der Förderung legitimer Staatlichkeit und internationaler Glaubwürdigkeit.
  • Viele Jahre blieben die zivilen Aufbauanstrengungen weit hinter dem militärischen Kräfte- und Ressourceneinsatz zurück. Als die internationale Aufbauunterstützung ab 2008 forciert wurde, waren viele Chancen verpasst, war schon sehr viel Vertrauen verloren gegangen.
  • Die grundsätzlich notwendige Vernetzung staatlicher Akteure („vernetzte Sicherheit“, comprehensive approach) litt in der Praxis unter einem Mangel an Zielkohärenz, ausgewogenen Kapazitäten und ressortübergreifender Planung, Vorbereitung, Führung und Auswertung des Gesamtengagements.
  • Die Suche nach einer politischen Lösung des Gewaltkonflikts begann erst, als die Taliban wiedererstarkt waren und auf ihre strategischen Stärken (Nähe zu Teilen der Bevölkerung, Rückzugsraum Pakistan, strategische Geduld) setzen konnten.
  • Ausgeblendet blieb lange Zeit die pakistanische Seite des Gewaltkonflikts.

Diese Großfehler konnten sich so lange halten, weil sich Deutschland wie die meisten anderen Staaten im Multilateralismus „versteckten“. Jeder leistete seinen Beitrag und kümmerte sich in nationaler Nabelschau fast nur um diesen. Kaum jemand nahm die Erfahrungen der anderen wahr (z.B. der Niederländer in Uruzgan) und machte sich Gedanken um eine tragfähige gemeinsame Strategie. Hinzu kamen Mechanismen und Mentalitäten von Schönrednerei, die zusammen mit dem Primat innenpolitischer Interessen und dem Motiv der Selbstrechtfertigung in vielen Hauptstädten eine unheilige Allianz bildeten. Das Ergebnis waren strukturelle Unehrlichkeit, Selbsttäuschung und Realitätsverlust. Vielfach einhergehend mit unzureichender interkultureller Kompetenz und einem Mangel an institutionalisiertem Lernen erschwerte das eine Politik mit Bodenhaftung und Erfolgsaussichten. Vor diesem Hintergrund war es geradezu zwangsläufig, dass in den ISAF-Ländern die anfängliche gesellschaftliche Akzeptanz des Afghanistaneinsatzes im Laufe der Jahre umkippte in mehrheitliche Skepsis, ja Ablehnung.

Vielen Hunderten deutschen Soldaten, aber auch Polizisten, Zivilexperten und Diplomaten bin ich in Afghanistan und nach ihrer Rückkehr begegnet. Ich habe sie als sehr professionell, motiviert, umsichtig, als tatsächliche Unterstützer mit Respekt gegenüber den Einheimischen erlebt – nicht als Besatzer die einen oder als Missionare die anderen. Sie haben sich um den Aufbau des Landes und Friedenssicherung verdient gemacht.

Der Knackpunkt des mit der Zeit abdriftenden Einsatzes war ein kollektives politisches Führungsversagen in den Hauptstädten, auch in Berlin. Es ging einher mit einem wachsenden Vertrauensverlust der politischen Führung unter den Soldaten. Wo zunehmend mehr Soldaten am Einsatzerfolg zweifelten und zurückgeworfen waren auf ihre Professionalität und die Kameradschaft der Kampfgemeinschaft, wurde dem Staatsbürger in Uniform eine wesentliche Lebensbedingung entzogen Als Mitauftraggeber der Einsätze trugen der Bundestag und besonders wir Außen- und Verteidigungspolitiker hierfür erhebliche Mitverantwortung.

Verlässliche Aufbaupartnerschaft

Im Dezember 2014 beschloss der Bundestag die deutsche Beteiligung an der ISAF-Nachfolgemission Resolute Support (RSM). Diese Beratungsmission vor Ort ist, zusammen mit Polizeiberatern, unverzichtbar, damit die afghanischen Sicherheitskräfte sich festigen können und nicht schnell zerbröseln. Zweifelhaft war von Anfang an, ob mit dem sehr begrenzten Kräfteansatz und dem engen Zeitplan (Rückzug auf Kabul in 2016 und Vollabzug Ende 2016) der Auftrag überhaupt seriös erfüllbar war. Der Eindruck drängte sich auf, dass nach den Aufbauillusionen der ersten Jahre nun Abzugsillusionen dominierten. Der Fall von Kunduz im Oktober 2015 verstärkte diese Zweifel und trug zu einer –zumindest graduellen – Korrektur des Zeit- und Kräfteansatzes von RSM bei.

Die Internationale Gemeinschaft hat der afghanischen Regierung und Bevölkerung eine Aufbaupartnerschaft zugesichert. Für Deutschland bleibt Afghanistan d a s  Schwerpunktland der Entwicklungszusammenarbeit. Ob die zugesagte Aufbaupartnerschaft aber auch verlässlich durchgehalten wird, ist keineswegs sicher. Die verschärfte Sicherheitslage schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit immer mehr ein. Zugleich gerät der politische Wille mehrfach unter Druck: Die unübersehbare, auch plausible Afghanistan-Müdigkeit nach 14 Jahren, die Konkurrenz und Bedrohlichkeit der neuen, näheren Krisen und Kriege.

Trotzdem: An Afghanistan verlässlich „dranzubleiben“, ist ein Gebot friedens- und sicherheitspolitischer Klugheit und Weitsicht. Es ist ein Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung in einem Land, wo Deutschland relativ viele Wirkungsmöglichkeiten hat. Es ist nicht zuletzt eine Verpflichtung gegenüber den Zehntausenden Frauen und Männern in Uniform und Zivil, die demokratisch legitimiert nach Afghanistan entsandt wurden und deren Einsatz nicht umsonst gewesen sein darf.

Schlussfolgerungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

Zeitweilig gab es in der öffentlichen Debatte Tendenzen, den Afghanistan-Kampfeinsatz der letzten Jahre als Blaupause zu nehmen: einerseits als Muster künftiger Auslandseinsätze mit intensiver Aufstandsbekämpfung; andererseits als angeblichen Beleg für die Pauschalbehauptung, Auslandseinsätze seien gleichzusetzen mit Krieg und deshalb generell abzulehnen.[2] Beide Schlussfolgerungen sind falsch. Vergessen gemacht wird dabei das breite Handlungsspektrum der realen Stabilisierungseinsätze, die sich keineswegs reduzieren lassen auf Gefechte einerseits und Brunnenbohren andererseits und die mit SFOR und KFOR auch erfolgreich den Ausbruch neuer Kriegsgewalt verhüteten.

Strategiebildung: Der von Außenminister Steinmeier angestoßene „Review-2014“-Prozess förderte die überfällige außen-, friedens- und sicherheitspolitische Kursbestimmung und Verständigung. Der Weißbuch-Prozess des Verteidigungsressorts hat mit seiner erstmaligen Einbeziehung von Fachöffentlichkeit das Potenzial, in dieselbe Richtung zu wirken.

Die Bundesregierung sollte dem Bundestag jährlich einen Bericht zur sicherheitspolitischen Lage Deutschlands vorlegen. Über die Grundlagendokumente der Ressorts hinaus braucht es aber eine friedens- und sicherheitspolitische Strategie. Auch wenn Spitzen der Bundesregierung eine Strategieentwicklung sehr skeptisch sehen. In Zeiten sprunghafter und unübersichtlicher sicherheitspolitischer Herausforderungen ist ein solcher strategischer Kompass notwendiger denn je – für die wachsende Zahl der Akteure und Durchführenden deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, für die deutsche Öffentlichkeit, für internationale Partner.

Der Krieg in der Ukraine und der Klimasturz zwischen EU/NATO und Russland haben unerwartet die Bündnisverteidigung wieder hochaktuell gemacht. Ernüchtert wird festgestellt, wie ausgedünnt die entsprechenden Fähigkeiten sind wie komplex die Bedrohungen durch hybride „Kriegführung“ sind. Eine Kurzschlussreaktion wäre es, über diese unabweisbaren Herausforderungen die deutschen Beiträge zu internationaler Krisenbewältigung hintanzustellen und zu vernachlässigen. Fragilität und zerfallende Staaten sind weiterhin eine Primärbedrohung menschlicher wie internationaler staatlicher Sicherheit. Der historische Zerfall regionaler Ordnungen an der Süd- und Südostflanke der EU und die gegenwärtigen und absehbaren Flüchtlingsströme zeigen das mehr als deutlich.

Die Wirkungsmöglichkeiten „des Westens“ sind massiv geschrumpft. Angesichts des relativen Rückzuges der USA aus Europa und dem Nahen Osten sind die Europäer bei ihrer Sicherheitspolitik vermehrt sich selbst überlassen. Als Mitglied von UN, EU, NATO und OSZE und wirtschaftlich stärkstes Land Europas steht Deutschland nun verstärkt in der Pflicht, zur Eindämmung und Lösung internationaler Krisen und Gewaltkonflikte beizutragen – und zwar im ganzen Spektrum der in der UN-Charta aufgeführten Mittel. Eindeutig Vorrang haben dabei diplomatische und zivile Mittel. Aber militärische Mittel und Zwangsmaßnahmen bis zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte gehören auch dazu. Diese können schneller gefordert sein, als die verbreitete Interventionsmüdigkeit vermuten lässt: Der ausgeweitete Mai-Einsatz, angestrebte Waffenstillstände in Syrien und Libyen, die ohne militärische Absicherung schnell verpuffen würden, verdeutlichen das.

UN-Orientierung: In der Frage, ob für Deutschland Krieg wieder ein Mittel der Politik sei, herrscht viel Durcheinander. Als sei die Präambel des Grundgesetzes und die UN-Charta für deutsche Politik nicht verbindlich. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die Friedenspolitik sein soll und will, braucht eine klare und stärkere UN-Orientierung, ein glaubwürdiges, nicht instrumentelles Verhältnis zu den UN-Normen. Das ist für die Legitimität und Akzeptanz deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland wie in der Staatengemeinschaft von zentraler Bedeutung.

Dass deutsche Streitkräfte außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung nur zur internationalen Friedenssicherung und Rechtsdurchsetzung im Auftrag bzw. im Dienst der UN zum Einsatz kommen dürfen, sollte endlich auch im Grundgesetz klargestellt werden. Die UN-geführte, multidimensionale Friedenssicherung braucht Deutschland nicht nur als verlässlichen Beitragszahler, sondern auch mit mehr Personal, vor allem mit Polizisten, mit besonderen militärischen Fähigkeiten und mit Zivilexperten. Wo die UN in einer zunehmend aus den Fugen geratenden Welt ein Ort gemeinsamen globalen Handelns sind, ist die bisherige Vernachlässigung UN-geführter Missionen (Januar 2016 Platz 61 der Personalsteller) besonders kurzsichtig.

Aus der Not, in Afghanistan von der Stabilisierung in die Aufstandsbekämpfung mit Gefechten gerutscht zu sein, darf keine politische Tugend gemacht werden. Ein Irrweg wäre die Verabsolutierung kinetischer Operationen. Die Hauptperspektive deutscher Beteiligung an internationalen Kriseneinsätzen sollte weiterhin Friedenssicherung und -unterstützung, Stabilisierung und Schutz der Zivilbevölkerung sein. Hier gibt es weiterhin den größten Bedarf und relativ größte Erfolgsaussichten. Gefordert ist dafür das gesamte Fähigkeitsspektrum mit der Kampffähigkeit als Grundlage. Zum völkerrechtlichen Gebot der Schutzverantwortung (resonsibility to protect) gehören im äußersten Fall auch Operationen zur Verhütung und Eindämmung von Massengewalt.

Zielklarheit und Kohärenz: In Deutschland und bei vielen Verbündeten ist nicht der Glaube an militärische „Lösungen“ das Problem, sondern eine politische Strategie- und Führungsschwäche, die einhergeht mit einer strukturellen Militärlastigkeit und mageren zivile Kapazitäten. Grundpflicht der Träger des Primats der Politik ist, eingebettet in politische Konfliktlösungsbemühungen klare und glaubwürdige Mandate zu formulieren und alles dafür zu tun, dass die Aufträge auch erfüllbar und verantwortbar sind.

Beim ISAF-Einsatz erwies sich im Laufe der Jahre die herkömmliche Art der Mandatsformulierung als zunehmend problematisch. Die Einsatzziele blieben allgemein und wurden nicht operationalisiert. Das behinderte von Anfang an eine seriöse Bewertung, wieweit der Auftrag umgesetzt wurde. Losgelöst von der konkreten Lageentwicklung verschwiegen die Mandatsziele den einschneidenden Wandel von der Friedenssicherung der ersten Jahre zur „Friedenserzwingung“, wo Frieden offenkundig verloren gegangen war – im Klartext Aufstandsbekämpfung. Die mangelnde Auftragsklarheit des Bundeswehrmandats fand seine Entsprechung auf der politisch-zivilen und polizeilichen Seite, wo es noch mehr an klaren und überprüfbaren Zielen mangelte.

Unterhalb der hehren UN-Mandatsziele beginnt oft die Zerklüftung der Ziele und Interessen – zwischen Verbündeten, Ressorts, staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Die Inkohärenz von Kriseneinsätzen verschärft sich, wo im selben Einsatzgebiet neben UN-mandatieren auch unilaterale, gar Geheimeinsätze in völkerrechtlichen Grauzonen stattfinden und Legitimität zersetzen. Beim Afghanistaneinsatz kam es deshalb immer wieder zu erheblichen Kollisionen, zu menschlichen und politischen „Kollateralschäden“.

Aussichtsreiche Friedenssicherung ist angewiesen auf bestmögliches Zusammenwirken, Kohärenz und kompatible Ziele auch auf der operativen Ebene. Ressortgemeinsame  Strukturen, akteursübergreifendes Erfahrungslernen, Ausbilden und Üben sind dafür unverzichtbar. Das gilt vermehrt angesichts der transnationalen, hoch dynamischen und langwierigen Krisen und Kriege der Gegenwart, wo das Krisen-Multitasking die Internationale „Gemeinschaft“ strukturell überfordert. Die Tatsache, dass Deutschland nur immer Beiträge zu multilateralen Einsätzen leistet, entbindet nicht von der Mitverantwortung für die Sinnhaftigkeit des Gesamteinsatz.

Angemessene und ausgewogene Fähigkeiten: Der Kräfteansatz eines Bundeswehreinsatzes muss aus dem für die Auftragserfüllung Notwendigen abgeleitet werden und Spielraum für plötzliche Lageveränderung beinhalten. Obergrenzen primär nach innenpolitischen Opportunitätsvermutungen – wie „gebrochene Preise“ nach dem Muster 9,99 Euro - sind verantwortungslos.

Zwischen den verschiedenen staatlichen Instrumenten der Krisenbewältigung besteht ein Gefälle der Kapazitäten, Verfügbarkeiten und Wahrnehmung, das immer wieder zu einer Falle wird: Relativ schnell verfügbar sind Streitkräfte mit ihrem besonders breiten Fähigkeitsspektrum. Nicht schnell verfügbar sind Polizisten, Kräfte für Sicherheitssektorreform, Rechtsstaatsförderung sowie Verwaltungsaufbau. Doch gerade diese werden in Post-Konflikt-Situationen besonders dringend gebraucht.Um den Auftrag bestmöglich erfüllen zu können, sind schnelle und durchhaltefähige zivile und polizeiliche Kräfte unabdingbar.

Bei Mandatsentscheidungen zu Schwerpunkteinsätzen sollten deshalb parallel zu den militärischen Aufgaben und Fähigkeiten auch zivile und polizeiliche Aufgaben und Fähigkeiten sowie die dafür bereit zu stellenden Ressourcen benannten werden.[3] Die Absicht dabei ist, die nichtmilitärische Dimension eines Kriseneinsatzes regelmäßig und angemessen in den Blick zu nehmen und entsprechende Handlungsfähigkeit zu verbessern. Keineswegs sollen damit die nichtmilitärischen Komponenten eines Einsatzes einer konstitutiven Zustimmungspflicht unterworfen werden. Das würde die Handlungsfreiheit der Exekutive erheblich einschränken und eine engagierte Krisenbewältigung eher behindern.

Wirkungsorientierung: Ausschlaggeben für deutsche Beteiligungen an internationalen Kriseneinsätzen waren oftmals bündnispolitische Loyalitäten oder symbolpolitische Erwägungen, weniger der Wille, eine bestimmte politische Wirkung auch tatsächlich zu erzielen. Das kann in Einzelfällen legitim sein, war im Fall des Afghanistaneinsatzes aber ein fundamentales Handicap – und verantwortungslos gegenüber den dort eingesetzten in Frauen und Männern.

Generell muss sich deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ehrlicher machen und die verbreiteten Mechanismen und Mentalitäten von Schönrednerei, Realitätsverleugnung und Selbstzufriedenheit überwinden. Diese gefährden Einsatzerfolge und gehen letztendlich auf Kosten der in hohe Risiken Entsandten.

Wirksame Unterstützung von Krisenbewältigung, Stabilisierung und Friedenssicherung braucht

  • genaues Hinsehen: sorgfältige Konfliktanalysen, hohe interkulturelle und Lokalkompetenz, Bodenhaftung, darauf aufbauend erfüllbare und überprüfbare Ziele (endstate, benchmarks) und einen realitätstüchtigen Erwartungshorizont;
  • Klarheit über die sehr unterschiedlichen Reichweiten, Wirkungschancen, Stärken und Schwächen der verschiedenen Akteure, Instrumente und Maßnahmen (keiner schafft es allein);
  • unabhängige und systematische Wirkungsbeobachtungen, -analysen und Evaluierungen;
  • konstruktive Kooperationspartner nicht nur in der Internationalen Gemeinschaft, sondern vor allem auch in den Krisenregionen; ohne lokale Partner und local ownership ist extern gestützte Krisenbewältigung und Stabilisierung aussichtslos;
  • Bereitschaft und Fähigkeit zu Selbstreflexion und Selbstkritik und einen konstruktiven Umgang mit Fehlern. Der do-no-harm-Grundsatz (Vermeidung eigener kontraproduktiver Wirkungen) muss für alle Handlungsfelder gelten, nicht nur für die Entwicklungszusammenarbeit. Zur Entwicklung einer Fehlerkultur könnten auch die Fraktionen des Bundestages beitragen, wenn die Aufklärung und Überwindung von Fehlern den Vorrang bekäme vor der parteipolitisch motivierten, reflexhaften Suche nach „Schuldigen“.

Sicherheitspolitik ist fokussiert auf die Wahrnehmung und Abwehr von Risiken und Bedrohungen für die eigene und kollektive Sicherheit, also eher reaktiv. Zu kurz kommt dabei die Wahrnehmung und das Nutzen von Chancen. Der Afghanistaneinsatz steht exemplarisch für viele vertane und vergessene Chancen. Regelmäßige Chancenanalysen können die Voraussetzungen schaffen für ein viel mehr proaktives Handeln bei Stabilisierung, Aufbauunterstützung und Friedensförderung. Unabdingbar sind Nüchternheit und Ehrlichkeit, Konsequenz und langer Atem. Das im oft kurzatmigen Politik- und Medienalltag durchzuhalten, ist möglich, aber eine besondere Herausforderung.

Parlamentsbeteiligung: Der Deutsche Bundestag hat bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine so starke Stellung wie nur wenige andere Parlamente. Die Parlamentsbeteiligung geschieht im Informationszugang, im Budgetrecht, in unterschiedlichen Graden an Mitsprache und Mitentscheidung. Grundvoraussetzung einer verantwortlichen Mitwirkung des Bundestages ist ein früher, verlässlicher und qualifizierter Informationszugang. Zu oft beschränkten sich Unterrichtungen auf Einzelereignisse und Maßnahmen, mangelte es an Informationen zu Trends und Schwerpunkten.

Auch wenn der Bundestag einen Mandatsantrag der Bundesregierung nur billigen oder ablehnen kann, hätte er sehr wohl Einfluss nehmen können auf die Klarheit, Glaubwürdigkeit und Erfüllbarkeit von Mandaten, die Angemessenheit und Flexibilität des Kräfteansatzes sowie eine verlässliche Wirksamkeitskontrolle. Die dafür notwendige souveräne Loyalität gegenüber der eigenen Regierung brachten die sie tragenden Koalitionsfraktionen aber meist nicht auf. Stattdessen stand oft die Mikrokontrolle im Vordergrund – auch auf Seiten der Opposition. Die wichtigste und dringendste Konsequenz aus dem Afghanistaneinsatz für das Parlament ist, dass es seine politische Kernaufgabe bei Mandatierung, Ausstattung und Wirkungskontrolle sorgfältiger wahrnimmt und die zivilen Komponenten gleichermaßen in den Blick nimmt. So könnte auch in den letzten Jahren bei Soldaten verlorenes Vertrauen wieder zurückgewonnen werden. Dass der Entwurf zu einem neuen Parlamentsbeteiligungsgesetz Evaluierungsberichte vorschreibt, ist ein wichtiger, sehr lange überfälliger Fortschritt.

Im Laufe des ISAF-Einsatzes bestand ein Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip „Führen mit Auftrag“ und der Notwendigkeit einer konstruktiven Fehlerkultur einerseits und der parlamentarischen Kontrollpraxis andererseits. Die parlamentarische Kontrolle konnte zur schnelleren Behebung von Mängeln im Einsatz beitragen, als Mikrokontrolle mit vorschnellen Schuldvorwürfen aber auch ein Absicherungsdenken befördern und Fehlerkultur behindern. Wenn sich das in den letzten Jahren gebessert haben sollte, wäre das sehr zu begrüßen.

Kommunikation und Einsatzrückkehrer: Im Unterschied zu grundsätzlich unstrittiger Landesverteidigung muss jeder Kriseneinsatz für sich konkret und fortlaufend begründet und legitimiert werden. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz hierzulande sind Kriseneinsätze bewaffneter Streitkräfte auf Dauer nicht durchhaltbar. Sie kann nur durch anschauliche, glaubwürdige, öffentliche Kommunikation erworben werden, die Fortschritte, Schwierigkeiten und Fehlschläge offen benennt. Sie braucht Gesicht und einen ressortgemeinsamen Ansatz. An beidem hat es in der Vergangenheit elementar gefehlt. Wo inzwischen Zweifel an Sinn, Wirksamkeit und Verantwortbarkeit von Auslandseinsätzen verbreitet sind, ist die systematische, (selbst)kritische und öffentliche Auswertung der Auslandseinsätze nach mehr als 20 (!) Jahren Erfahrung damit mehr als überfällig.

In Deutschland gibt es Abertausende Rückkehrer aus Kriseneinsätzen – Soldaten, Entwicklungshelfer, Polizisten, Diplomaten. Statt des verbreiteten Desinteresses verdienen sie seitens der Politik, der Arbeitgeber und der Gesellschaft Aufmerksamkeit und verlässliche Unterstützung. In der – zum Glück - friedensgewohnten deutschen Gesellschaft leben jetzt Tausende Menschen, die Anschläge, Gefechte, Krieg erlebt haben, die verwundet wurden, Kameraden und Angehörige verloren, die selbst verwundet und getötet haben. Sie brauchen ganz besonders Interesse, Gesprächsoffenheit, Fürsorge. Die Erfahrungen und Kompetenz der Rückkehrer insgesamt sind ein Potenzial, das ganz anders zur Förderung der friedens- und sicherheitspolitischen Bildung und Debatte genutzt werden sollte. Der seit 2013 von Außen-, Verteidigungs- und Innenministerium veranstaltete  „Tag des Peacekeepers“ ist ein wichtiger Fortschritt zur besseren Wahrnehmung derjenigen Frauen und Männer, die Tag für Tag unter hohen Belastungen und Risiken internationale Verantwortung praktizieren.



[1] Der vollständige Beitrag ist erschienen in Alois Bach/Walter Sauer (Hrsg.), Schützen, Retten, Kämpfen – Dienen für Deutschland, Carola Hartmann Miles-Verlag Berlin 2016, S. 281-293, Veröffentlichung des Freundeskreises Zentrum Innere Führung. Die Buchvorstellung mit Autoren http://www.innerefuehrung.bundeswehr.de/portal/a/innerefue/!ut/p/c4/JYvBCsIwEAX_aDcpVcFbSxG8ilDrLaZrXWyTsN3Wix9vim9gLsPDO2aCW3lwyjG4EW_YeT4-PsAhkNBzIUhC80zgRPlNoxP_4hUKY_fYbveewMdAulkpKGcP4jQKpCg6bmURyQW4x87YpjalLcx_9ltV7el6KM2uOdcXTNNU_QBxHfma/

[2] Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr kam es in höchst unterschiedlichem Maße zu Schusswaffeneinsätzen: In Bosnien & Herzegowina keine Feuergefechte, nur vereinzelte Warnschüsse; im Kosovo nur wenige Schusswaffeneinsätze; in Afghanistan (ISAF) von 2002 bis 2005 nur ein gemeldeter Schusswechsel, von 2006 bis 2014 mindestens 150 Schusswechsel und Gefechte. Bericht der Kommission zur Untersuchung des G36-Sturmgewehres in Gefechtssituationen, Berlin 2015, S. 24 f.

[3] Winfried Nachtwei, Stellungnahme bei der öffentlichen Sitzung der Bundestags-Kommission Parlamentsrechte und Auslandseinsätze am 11. September 2014 im Deutschen Bundestag, www.bundestag.de/bundestag/gremien/18/auslandseinsaetze



 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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