Nachtwei zur Sicherheitslage in Afghanistan

Von: Webmaster amDi, 18 August 2009 08:44:47 +01:00

Hier die aktualisierte Kurzfassung der Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans von Winfried Nachtwei:



Winfried Nachtwei, MdB     16. August 2009

Materialien zur aktuellen Sicherheitslage Afghanistans (mit Pakistan)

(Auszüge von insgesamt 70 Seiten)

Vorbemerkung

Die offiziellen, veröffentlichten Informationen zur Sicherheitslage Afghanistan sind bruchstückhaft. Sie erlauben keine seriöse Einschätzung der Sicherheitslage und ihrer Trends.

Seit August 2007 stelle ich deshalb  zur internen Unterrichtung Informationen zur Sicherheitslage in Afghanistan aus verschiedenen Quellen zusammen, aktualisiere und erweitere sie laufend.

Neben Hintergrundinformationen und den Veröffentlichungen von UNAMA, der afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC (aktuell die Reports zur Wahl: „Joint Monitoring of Political Rights", www.aihrc.org), dem Afghanistan NGO Safety Office ANSO, ISAF und OEF sind wichtige aktuelle Quellen: der wöchentlich aktualisierte „Afghanistan Index Tracking Varables of Reconstruction & Security in Post-9-11", Brookings (www.brookings.edu/afghanistanindex); Institute for War & Peace Reporting/Kabul (www.iwpr.net); www.globalsecurity.org; The Afghanistan Conflict Monitor, Initiative des Human Security Project ( www.afghanconflictmonitor.org); The Long War Journal (www.longwarjournal.org); Center for Strategic & International Studies/CSIS (www.csis.og); International Council on Security & Development/ ICOS, vormals Senlis Council (www.senliscouncil.net).

Die Informationen geben insbesondere Hinweise auf das Konflikt- und Kriegsgeschehen im Süden und Osten Afghanistans - und inzwischen auch für die Westregionen Pakistans. Gerade über diese ist in Deutschland wenig bekannt und darüber werden auch die Mitglieder des Verteidigungsausschusses nur lückenhaft unterrichtet.

Vorbehalt: Auch wenn ich verschiedene Quellen abgleiche, kann ich die Verlässlichkeit einzelner Angaben nicht garantieren.

(Parallel stelle ich seit Sommer 2007 „Better News statt Bad News aus Afghanistan" zusammen: Echte gute Nachrichten, die angesichts des „bad news are good news" Mechanismus kaum durchdringen. www.nachtwei.de)

Ãœbersicht

0. Zusammenfassung

1. Schwierige Lageeinschätzung

2. Gesamttrends der Sicherheitsentwicklung + Konfliktopfer über die Jahre (Übersichten)

2.1  Sicherheitsvorkommnise insgesamt + räumliche Verteilung

2.2  Waffeneinsatz - Taktiken

2.3  Opfer insgesamt und Zivilopfer speziell

2.4  Opfer auf Seiten der Internationalen Truppen + afgh. Sicherheitskräfte ANSF (Armee ANA, Polizei ANP)

2.5  Ungesetzliche Tötungen

2.6  Kampf um die Wahrnehmung, Umfragen

3. Aktuelle Entwicklungen 2007-2009 (im Detail)

3.1  Trends

3.2   Sicherheitsvorkommnisse wöchentlich nach Regionen, Operationsweisen + ISAF-Opfern

3.3   Sicherheitsvorkommnisse lt. IAF bzw. im ISAF-Bereich

3.4   Größere Gefechte + Opfer auf Seiten der Insurgenten (Militanten) lt. OEF bzw. im OEF-Bereich

3.5   Close-Air-Support/CAS  (Luft-Boden-Einsätze)

3.6   Taliban-Operationen nach Taliban-Meldungen (Auswahl)

4.  Regionen + Provinzen/Lead-Nations

4.1   Britische Truppen (Helmand)

4.2   Kandische Truppen (Kandahar)

4.3   Niederländische Truppen (Uruzgan)

4.4   Deutsche Truppen (RC North)

4.5   US-Truppen (RC East)

5. Pakistan

Anhänge

0.  Zusammenfassung

(a) Die Sicherheitslage hat  sich in Afghanistan seit 2005/6, also parallel zur  ISAF-Süd- und Osterweiterung, erheblich verschärft.  In 2008 haben die Feuergefechte, Sprengstoffanschläge, Hinrichtungen und Entführungen, Luft-Boden-Einsätze, die Opfer unter der Zivilbevölkerung, Polizisten, afghanischen + internationalen Soldaten und Aufständischen ein Ausmaß wie nie seit dem Sturz der Taliban 2001 erreicht.  Der Anstieg der Zivilopfer um 40% auf  über 2.000  im Jahr 2008 und um 24% im 1. Halbjahr 2009 ist ein Menetekel. (UNAMA)

In den ersten vier Monaten 2009 erhöhten sich lt. ISAF gegenüber dem Vorjahrszeitraum die Aufständischenangriffe um 64%, Attacken auf Regierungsangehörige um 90%, IED-Attacken um 81%. Im 1. Halbjahr 2009 stieg die Zahl der Zivilopfer um 24% auf 1.013, davon 59% durch Anti-Regierungskräfte verursacht (Vorjahrszeitraum 46%), 30,5% durch Pro-Regierungskräfte (41%).

Am 7.6. billigte das International Police Coordination Board den von Innenminister Atmar geforderten kurzfristigen Aufwuchs der Polizei zur Absicherung der Wahlen um bis zu 10.000 Stellen. Damit wächst der ANP-Stellenplan auf 96.800. Am 6.7. erließ der neue ISAF-Kommandeur McChrystal eine neue Tactical Directive: verschärfte Auflagen für Militäroperationen sollen die Umsetzung des obersten Imperativs „Respekt, Schutz und Zustimmung der Bevölkerung" befördern. Im Juli (Großoperation mit 4.000 Marineinfanteristen in Helmand) sank die Zahl der Zivilopfer durch ISAF rapide. (AP 11.8.) Zugleich waren die ISAF-Verluste so hoch wie nie.

(b) Zugleich bleibt die Entwicklung der Sicherheitslage gespalten, bestehen sehr unterschiedliche Konfliktniveaus in den Regionen, Provinzen und Distrikten nebeneinander:

- Zwischen Oktober 2008 und Mai 2009 gab es Aufständischenangriffe durchschnittlich pro Tag in Helmand knapp 10,6, Kandahar 4,6, Kunar knapp 4, in Khost um 2, in Paktika, Uruzgan, Zabul um 1,5, Ghazni, Farah um 1, Kunduz um 0,7, Kabul, Herat, Badghis, Nuristan um 0,6, Balkh 0,2, Badakhshan < 0,1.

Von den 444 Sicherheitsvorfällen in der Woche vom 6.-13. Juli geschahen 64,4% im Süden, 27,3% im Osten, 4,9% im Westen und 3,4% im Norden. In der Woche 8.-15. Juni geschahen 49% im Süden, 2,1% im Norden, in der Woche 4.-11. Mai 49,6% im Süden, 2,5% im Norden.

- In vielen Distrikten vor allem des Südens + Ostens herrscht asymmetrischer Krieg mit permanenter Gefahr von Anschlägen und Zusammenstößen. Hier sehen sich alle Konfliktparteien im Krieg.  Im Süden + Osten geschehen im längerfristigen Trend  um 90% der Sicherheitsvorfälle, 70% der Vorfälle konzentrieren sich in 10% der 398 Distrikte.

- Im Norden (3,5% der Sicherheitsvorfälle) + Westen herrscht eine niedrigere Konfliktintensität - zum größeren Teil auch mit „normal-kriminellem" Hintergrund - von relativer Ruhe (keine Zwischenfälle) über vereinzelte Anschläge alle paar Monate bis zu einem Terror- und Guerillakrieg in Teilen der Provinz Kunduz und dem Distrikt Ghormach/Provinz Faryab im Nordwesten.

- Das Afghanische Innenministerium bewertet die Bedrohungslage im Mai 2009 so: 11 Distrikte außerhalb der Regierungskontrolle, in 124 Distrikten high level threat, in 40 medium, in 190 low.

- Die gespaltene Sicherheitslage spiegelt sich auch in der Entwicklung des Mohnanbaus: Während 2008 in 18 „ruhigeren" Provinzen kein Mohn angebaut wurde (in der Region Nord nur noch 0,6%), konzentrierte er sich auf die Hauptkonfliktprovinzen des Südens und Südwestens.

- Insofern ist die hierzulande verbreitete Vorstellung von ganz Afghanistan im Kriegszustand, als sei kaum noch ein Unterschied zu den 22 Kriegs- und Terrorjahren 1979 bis 2001, falsch. Das  läuft auf eine Verharmlosung sowohl des Bürgerkrieges als auch der sowjetischen Vernichtungskriegführung hinaus. Genauso falsch, weil pauschalisierend, ist aber auch die wiederholte Behauptung von Verteidigungsminister Jung, in Afghanistan herrsche kein Krieg. Erstes Merkmal ist die Gleichzeitigkeit extrem unterschiedlicher Konfliktlagen - auf der Basis einer verbreiteten Gewaltkultur.

(c) Neuere Schwerpunkte der  Operationen „Regierungsfeindlicher Kräfte" (Anti-Government-Elements/ AGE)/ Aufständischer/Oppositioneller Militanter Kräfte (OMF) liegen in den Südwestprovinzen Farah und Nimruz, der Nordwestprovinz Badghis/ Faryab, der Provinz Kunduz (vor allem Distrikt Chahar Dara) im Norden, den Provinzen um Kabul und den lines of communication/Hauptnachschubwegen in Pakistan  und Ringroad nach Kandahar.

Auffällig ist die insbesondere in 2008 gewachsene Professionalität, Kampfkraft + Koordination der Aufständischen: Die enorme Zunahme an komplexen Operationen (Kombination von mehrfachen IED, Beschuss mit Handwaffen und Panzerfäusten), direkten Angriffen und Beschuss von Luftfahrzeugen,  die Weiterentwicklung von Sprengmitteln,  schließlich  spektakuläre Großanschläge gegen die Autorität von Regierung/Internationalen.  Das schwächste Glied der Pro-Regierungskräfte, die Polizei, trägt die meisten Opfer: täglich 6-10 Tote!  Das geht einher mit vermehrten Attacken auf Hilfstransporte und -organisationen,  auf Schulen sowie einer  Einschüchterungs- und Terrorkampagne  gegen Menschen, die mit der Regierung bzw. Internationalen zusammenarbeiten.

(d) Die Provinz Kunduz ist inzwischen für die regierungsfeindlichen Kräfte der strategische Angriffspunkt im Norden: Hier war eine Hochburg der Talibanherrschaft, von hier stammt Heckmatjar, hier bilden die paschtunischen Siedlungsgebiete (35% der 1,2 Mio. Provinzbevölkerung) einen Resonanzboden. Mit der Zunahme des US-/ISAF-Nachschubs aus Norden Richtung Kabul wächst die Bedeutung von Kunduz. Die Reduzierung der Polizeistellen in der Provinz um 537 im vorigen Jahr durch die Zentralregierung schwächte die sowieso schon schwachen Sicherheitskräfte.  Es gibt Distrikte praktisch ohne Polizeipräsenz! Zum großen Teil eingesickerte Militante führen einen Terrorkrieg gegen afghanische Sicherheitskräfte und ISAF. Nachdem er zunächst vor allem mit Raketenbeschüssen, IED-Anschlägen und hit-and-run-Attacken geführt wurde, erreichte er am 29. April 2009 eine neue Intensität: Seitdem führten die Aufständischen komplexe Hinterhalte und Angriffe durch, die militärische Führung und Ausbildung verraten und auf die Vernichtung ganzer Einheiten zielten. Die deutschen ISAF-Soldaten standen dabei erstmalig während des AFG-Einsatzes über Stunden in Gefechten und töteten dabei allein am 4. Juni mehr als zehn Gegner. (7 Gefechte zwischen 29.4. und 12.6.)  Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik fiel am 29.4. ein Bundeswehrsoldat im Kampf.  Bisher hatten sich deutsche ISAF-Soldaten darauf beschränkt, bei Beschuss zurückzuschießen und sich aus dem Konflikt zu lösen.  Am 15.6. kam es zu einem Luft-Bodeneinsatz, bei dem erstmalig im Einsatzgebiet der Bundeswehr Bordkanone und Raketen eingesetzt wurden.  (Bis dahin blieb es maximal bei show of force.) Jetzt waren Hinterhalte als Mehrfachfallen aufgebaut. Vor Ort in Kunduz herrscht die Einschätzung, dass die Bundeswehr nur dank der guten Ausbildung und angemessenen Operationsweise  ihrer jungen Soldaten einer Katastrophe mit vielen eigenen Toten entkommen ist.  Zugleich behielt man bisher in dem relativ dicht besiedelten Umfeld die Umsicht, zivile Opfer strikt zu vermeiden.

Unverändert bleibt aber bei ISAF im Norden die Grundlinie, sich nicht in eine Gewalteskalation hineinziehen zu lassen, den Guerillakrieg wohl mit militärischer Gewalt, aber nicht generell mit Krieg zu beantworten. In der öffentlichen Diskussion in Deutschland geraten die taktische Ebene (Kriegssituation in einzelnen Distrikten) und strategische Ebene (Stabilisierungsunterstützung) immer wieder durcheinander. Die Grunderkenntnis bleibt: mit Krieg sind die Konflikte in Afghanistan nicht zu lösen.  (Vgl. meine Stellungnahme „Krieg in Afghanistan - Bundeswehr im Krieg!?" 10/2008, aktualisiert 8/2009)

(e) Die Aufständischen können sich mit den pakistanischen Grenzregionen auf ein Hinterland stützen, wo ca. 150 Ausbildungslager existieren sollen und wo die pakistanischen Taliban ihre Macht immer mehr ausweiten und sich mit transnationalen Terrorgruppen  verbinden. Pakistanische Militäroffensiven, Aufbauversuche von Stammesmilizen, grenzüberschreitende US-Drohnenattacken und Abkommen zwischen Regierung und Aufständischengruppen in den Stammesgebieten (FATA) und Swat-Tal scheinen den Vormarsch der pakistanischen Taliban nicht stoppen zu können. Ob die Militäroffensive im Swat-Tal im Mai 2009 eine Wende gebracht hat, lässt sich noch nicht sagen. Die besonders brutale Vorgehensweise von pakistanischen Taliban und Verbündeten in Pakistan (Massaker an Stammesversammlungen, Anschläge gegen Moscheen beim Freitagsgebet, Enthauptungen, Zerstörung von Mädchenschulen) offenbaren den extrem menschenverachtenden Charakter dieser Gruppen. Wo mit solchen Gruppen aus einer Position der Schwäche „Friedensabkommen" geschlossen wurden, gab es keineswegs Frieden, im Gegenteil.

(f)  Kräfteverhältnis: Die Aufständischen gewinnen an Kampfkraft, obwohl ISAF, ANA und OEF bei direkten Konfrontationen auf der taktischen Ebene praktisch immer „siegen", obwohl vor allem die US-Waffentechnik z.B. mit den Drohnen  immer genauer und tödlicher wird, obwohl die Afghanische National Armee ANA erhebliche Fortschritte macht, obwohl den Aufständischen enorme Verluste an Kämpfern und vor allem Führern zugefügt wurden.

Auch wenn in erheblichen Landesteilen - auch in Teilen der Provinz Kunduz - Aufbau + Entwicklung noch möglich sind: Die für Regierungsvertreter und Hilfsorganisationen schwerer erreichbaren Gebiete nehmen zu.  ISAF hat größere Mühe, seinen Auftrag zu erfüllen und ein sichereres Umfeld für den Aufbau, für Regierungsvertreter und HelferInnen zu schaffen.

(g)  Kampf um Wahrnehmung und Legitimität: Die Unterstützung für die Taliban/Aufständischen ist weiterhin auf niedrigem Niveau und nimmt nicht zu. Allerdings sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Internationale. In Teilen des Landes scheint der Kampf um Köpfe und Herzen der Menschen verloren. In anderen Regionen  verbreitet sich eine abwartende Haltung. („fence sitting")  Wo sich eine  solche „Neutralität" verfestigt, kann Aufstandseindämmung bzw. -bekämpfung nicht erfolgreich sein, ist die Niederlage vorprogrammiert.

Der Anteil der Menschen, die einen zügigen Abzug der internationalen Truppen wünschen, wächst. Dieser Haltung stehen andere 40% gegenüber,  die so lange die internationalen Truppen behalten wollen, bis Sicherheit selbst gewährleistet werden kann.

Besonders aufschlussreich + beunruhigend ist, dass erhebliche Minderheiten Angriffe auf internationale Truppen für gerechtfertigt ansehen.

Hierzulande dominiert - trotz aller Beschwörungen des comprehensive approach - eine militärfixierte deutsche Nabelschau - auf die deutschen Soldaten, auf die Anschläge, Angriffe und eigenen Opfer, auf Einsatzregeln und Bewaffnung. Praktisch gar nicht wahrgenommen werden die Opfer auf afghanischer Seite, die Arbeitsbedingen und Leistungen der deutschen Polizeiberater, Entwicklungsexperten, der afghanischen Kräfte und Akteure, die better news neben den vielen bad news, die Entwicklungen in anderen Provinzen des Norden, gar darüberhinaus. Offizielle Beschönigungen, anschwellende Kriegsrhetorik (aus sehr verschiedenen Motiven) und so manches ungewollte „friendly fire" von Politikerstatements ziehen die Akzeptanz des AFG-Einsatzes immer mehr runter. Damit wächst die psychologisch-politische Verwundbarkeit der deutschen Öffentlichkeit und Politik in den Monaten bis zur Bundestagswahl.

(h) Die Gewaltspirale dreht sich mit einer Dynamik, die politisch nur noch begrenzte Zeit durchzuhalten ist. Wie sie gestoppt und umgedreht werden kann, ist die strategische Schlüsselfrage. Zurzeit gehen hier die Lageeinschätzungen der neuen US-Regierung und der alten Bundesregierung deutlich auseinander: Die US-Regierung konstatiert eine bedrohliche Abwärtsentwicklung, der mit einem umfassenden Strategiewechsel und einem Bündel besonderer Anstrengungen kurzfristig entgegengewirkt werden soll. Die nächsten 12 bis 18 Monate gelten als entscheidend. Demgegenüber betont die Bundesregierung, man sei trotz aller Schwierigkeiten auf dem richtigen Weg. Auf seiner Bilanzpressekonferenz am 22. Juli 2009 behauptete Minister Jung in vollem Ernst, 10% der Distrikte seien instabil, 360 seien stabil!  Von einem besonderen Ernst der Lage, von einer ehrlichen Zwischenbilanz im Jahr 8 (!) und umfassenderen neuen Anstrengungen ist keine Rede. Da und dort wird nachjustiert, mehr nicht. Eine solche Politik der Beschönigungen, Halbherzigkeit und des Durchlavierens ist grob fahrlässig und brandgefährlich. Gegenüber dem Auftrag der Vereinten Nationen, den Millionen Afghanen, die immer noch besonders auf Deutschland setzen, gegenüber den Tausenden Soldaten und Hunderten Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten aus Deutschland, die in Afghanistan Bewundernswertes leisten, ist das unverantwortlich.

1.         Schwierige Lageeinschätzung

Eine realitätsnahe Sicherheitsanalyse wird erschwert durch

-          die Informationsunzugänglichkeit der Regionen Ost und Süd und starke regionale Unterschiede;

-          die zurückhaltende und selektive Veröffentlichung von Daten zum Konfliktverlauf seitens ISAF, UN, USA u.a. Truppenstellern, die eine  systematische Wahrnehmung + Transparenz des  Konfliktgeschehens verhindern - im Unterschied zu den Quartalsberichten des Pentagon zum Irak; bei ISAF und Bundesregierung die Konzentration auf  Sicherheitsvorfälle + „kinetc events" (US-/NATO-Jargon), auf die Bedrohung der eigenen Kräfte und das Ausblenden der Sicherheitsdimension „Einfluss" + „Zugänglichkeit",  die Nichtberücksichtigung des Konfliktverlaufs in PAK; (vgl. Anthony Cordesman: Losing The Afghan-Pakistan War? The Rising Threat, CSIS Washington Sept. 2008)

-          unterschiedliche Darstellungen/Bewertungen durch verschiedene Akteure vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen (ISAF-Headquarter und Regionalkommandos, Botschaften, UNAMA, „NGO Safety Office" ANSO, Oppositionelle Militante Kräfte/OMF bzw. Anti-Government-Elements/AGE). Opferzahlen und ihre Manipulation spielen eine zentrale Rolle in der psychologischen Kriegsführung.

-          Wahrnehmungsunterschiede zwischen vor Ort und der Fernperspektive, wo die Vorfälle einerseits in den Alltag eingeordnet - und damit ggfs.relativiert - oder andererseits isoliert als die ganze Realität wahrgenommen werden. Die Kluft zwischen Außen- und Binnenwahrnehmung wird besonders deutlich mit den Umfragen von ABC, ARD und BBC vom Dez. 2007/Jan. 2009 und FU-Berlin-Team von 2008.

-          Die im Vergleich zu Verbündeten noch einmal besonders zugeknöpfte Informationspolitik der Bundesregierung (zu hören ist z.B. von ausdrücklichen Redeverboten für Bundeswehrangehörige) und lange Zeit spärliche Zahl deutscher Journalisten in AFG. Umso wichtiger sind jetzt die Berichte und Reportagen von Christoph Reuter/stern, Friederike Böge/FAZ, Uli Gack/ZDF, Susanne Koelbl + Matthias Gebauer/Spiegel, Martin Gerner, Britta Petersen, Willi Germund, Marco Seliger, Jörg Lau + Ulrich Ladurner/Zeit, Britta Petersen.

Erstes Kriterium zur Erfassung der Sicherheitslage sind die Sicherheitsvorkommnisse und Opferzahlen, also Schusswechsel + Gefechte, Sprengstoffanschläge einschließlich Selbstmordattentate, indirekter Beschuss (Mörser, ungelenkte Raketen) und sonstige Vorfälle wie Entführungen, Opfer auf Seiten der Zivilbevölkerung (zentral), der ANSF, der internationalen Truppen, der Aufständischen. Dabei ist von zentraler Bedeutung, welchen Rückhalt Attacken von AGE in der örtlichen Bevölkerung haben und wie ihr politisch/psychologischer Hauptzweck funktioniert, Einschüchterung + Schrecken zu verbreiten und die Distanz zwischen Bevölkerung einerseits und internationalen Truppen, Regierungskräften und Unterstützern andererseits zu fördern.

Ein zweites Kriterium sind der Einfluss  regierungsfeindlicher/aufständischer Kräfte und damit die Zugänglichkeit von Distrikten + Regionen und Arbeitsmöglichkeiten für Regierungs- und Hilfspersonal und die Befahrbarkeit von Hauptstraßen. (vgl. UNAMA-Berichte)

Ein drittes Kriterium sind die allgemeine Gewaltkriminalität, die z.B. für die Bevölkerung Kabuls im Vordergrund steht, sowie lokale Gewaltkonflikte um Ressourcen, Macht etc.  Obwohl diese Konfliktdimension die Menschen am meisten berührt, liegt uns hierzu  keine laufende Erfassung vor!  (Von gewaltsamen Kämpfen zwischen sesshaften Bauern der Hazara und bewaffneten paschtunischen Nomaden in der Provinz Wardak, die zur Flucht von über 25.000 Menschen  führte, berichtete im August 2008 Caritas International).

Ein viertes Kriterium ist schließlich das Sicherheits- und Bedrohungsgefühl der Bevölkerung

Schließlich: Die Sicherheitslage kann nur Teil eines Gesamtlagebildes sein mit den Elementen Menschliche Sicherheit, Institutionenaufbau, Infrastruktur, (Aus-)Bildung, Wirtschaft etc.  (vgl. Afghanistan Index, AFG 2009 Humanitarian Action Plan) Weil es vielfach an überprüfbaren Zielen (Operationalisierung der Ziele) fehlt, sind Fortschritte oft schwer zu bewerten. (Positives Beispiel sind die kanadischen „benchmarks")

Risiko- und Bedrohungsanalysen müssen endlich um Chanchenanalysen ergänzt werden.

2. Gesamttrends der Sicherheitsentwicklung + Konfliktopfer über die Jahre

2.1. Sicherheitsvorfälle

Security Summary von NATO/ISAF vom 09.05.2009 (Anthony Cordesman: The Afghan-Pakistan War: "Clear, Hold Build", Washington 11.Mai 2009)

Januar bis April 2008/2009

- Aufständischenangriffe +64%, davon 80% in 13% der Distrikte

- Direktes Feuer +57%, indirektes Feuer +44%

- IED-Attacken um 81%

- Attacken auf Regierungsangehörige +90%

- Entführungen und Attentate -17%

- Surface to Air Fire 103%

- ISAF-Offensivoperationen 59%

- Zivilopfer -44%

- ANA-Stärke +38%, Stärke der Coalition Forces 28%.

(...)

Räumliche Verteilung Sicherheitsvorfälle/AGE-Attacken 2007/8 (Bericht des UN-Generalsekretärs an Sicherheitsrat + Generalversammlung vom 6.3.2008: „The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security") Afghanistan bleibe grob geteilt zwischen dem stabileren Norden und Westen, wo Sicherheitsprobleme aus Kriminalität und factionalism kommen, und dem Süden und Osten mit einer zunehmend koordinierten Aufstandsbewegung. Allerdings konzentriere sich der Konflikt auch im Süden auf ein relativ kleines Gebiet: 70% der Sicherheitsvorfälle in 2007 geschahen in 10% (40) der 364 Distrikte Afghanistans mit 6% der Bevölkerung. Im 1. Quartal 2009 lag der Monatsschnitt von AGE-Attacken in Kunar bei über 100 (fast ein Drittel aller Angriffe!), in Khowst, Kandahar und Helmand 30-100, in Nangarhar, Laghman, Kabul, Wardak, Ghazni, Paktika, Uruzgan, Farah, Herat, Badghis 11-30. (ANSO Quarterly Data Report Jan-March 2009, Kabul April 2009)

Die Taliban/AGE-Attacken stiegen im Vergleichszeitraum 1. Januar bis 28. September 2007-2008 insgesamt um 51% auf 5.601,

-          in Kandahar um 54% auf 820, in Helmand um 188% auf 490, Zabul um 20% auf 251, Uruzgan um 165% auf 130, Nimroz um 139%  auf 79;

-          in den Ostprovinzen  Khost um 39% auf 446,  Ghazni um 134%  auf 398,  Paktika um um 27% auf 229, Paktia um 37% auf 305; in Nangarhar um 20% auf 292, in Kunar um 0% auf 536,

-          in den Kabul-Anrainern Wardak um  47% auf 241, Laghman um 74% auf 162, Logar um 33% auf 170,  Kapsia (nördl. Kabul) um 162% auf 123, Kabul um 48% auf 157, in Bamyan um 167% auf 8;

-          im Norden/Westen  Badghis um 163% auf 121,  Kunduz um 291% auf 125, Takhar um 5% auf 23, Badakhshan um 67% auf 50.

-          Rückgänge gab es nur in Balkh (Mazar) um -7% auf 41, in Samang um -56% auf 4 und in Sari Pul um -87% auf 2.  (Afghanistan Index, Stand 10.2.2009)

Kontrolle über Gebiete und Zugänglichkeit: Übersichtskarten („UN Accessibility Map") zu Extreme Risk Areas + No Go Zones (und High/Medium/Low  Risk) bei Cordesman, Mai 2009, sie 2008, S. 16 ff. nach Senlis Council.  Lt. Bericht des VN-Generalsekretärs vom 10.3.2009  gelten 231 der insgesamt 400 Distrikte als weitgehend zugänglich, 10 völlig außer Regierungskontrolle und 165 als schwierig/problematisch. Während sich die Zahl der Distrikte, die für staatliche Dienste weitgehend unzugänglich sind, seit 2007 nicht signifikant geändert hat, sind 30 Distrikte auf der Kippe, unzugänglich zu werden. (Cordesman, 11.Mai 2009)  (...)

2.3 Opfer von Gewaltkonflikten

Zivile Opfer, zivile Ziele

(Hier ist die Ermittlung der tatsächlichen Vorkommnisse besonders schwierig, klaffen Angaben von örtlichen Autoritäten/Regierung und ISAF/OEF bzw. Erstangaben und Ermittlungsergebnissen besonders oft auseinander. Auf Befehl des COMISAF vom 24.7.2008 wurde im September 2008 im ISAF Hauptquartier eine "Civilian Casualty Tracking Cell" eingerichtet, deren Daten mit UNAMA ausgetauscht werden sollen. Die CivCas Cell ist in das Combined Joint Operation Center integriert und mit zwei zivilen Mitarbeitern als „International Civilian Contractor" ausgestattet. Die für November 2008 geplante Besetzung wurde erst ab 1. März 2009 realisiert.  Die Zelle ist zuständig für die Koordinierung und Kontrolle der notwendigen Aufklärungsarbeit bei zivilen Opfern, nicht für die Aufklärung selbst. Die liegt weiter bei ISAF. Die Veröffentlichung von Untersuchungsergebnissen obliegt weiterhin ISAF. Diese soll spätestens 48 bis 96 Stunden nach einem relevanten Zwischenfall erfolgen.  Die CSIS-Studie „The Afghan-Pakistan War: Casualties, the Air War, and ´Win, Hold, Build`" von Anthony Cordesmam (Washington 15.5.2009) dokumentiert die Taktische Direktive des ISAF Headquarters vom 30.12.2008 zur Minimierung von Zivilopfern, das Information Paper „Coalition Force Operations and Civilian Casualties in Afghanistan  vom 14.5.2009 sowie den Berichts- und Untersuchungsprozess von CIVCAS Incidents. Am 6. Juli 2009 verschärfte der neue COM ISAF General Mc Chrystal die entsprechende Taktische Direktive. (www.nato.int/isaf/docu/official_texts/Tactical_Directive_090706.pdf)

Die folgenden Daten sind entnommen den Studien: UNAMA Human Rights Unit: Mid Year Bulletin on Protection of Civilians in Armed Conflict, Juli 2009; Cordesman, 11. Mai 2009; Afghanistan Index; UNAMA „Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict, Januar 2009; AIHRC "Insurgent Abuses Against Afghan Civilians" und "From Hope to Fear - An Afghan Perspective on Operations of Pro-Government Forces in AFG", Dezember 2008)

Im 1. Halbjahr 2009 kamen 1.013 afghanische Zivilpersonen um`s Leben gegenüber 818 im Vorjahrszeitraum (+24%). 595 Menschen (59%) wurden durch Anti-Regierungskräfte getötet (im Vorjahrszeitraum 46%), davon 400 durch IED`s und Selbstmordattentate. 310 Menschen (30,5%) wurden durch Pro-Regierungskräfte 41%) getötet, davon 200 bei 40 Luftangriffen. Im Januar starben 127 Zivilpersonen (2007 50), im Februar 149 (45), im März 134 (104), im April 129 (85), im Mai 261 (147), im Juni 213 (253). (UNAMA Human Rights Unit, Juli 2009)

In Januar/Februar/März 2009 kamen 60/89/11 Polizisten, 8/8/12 afghanische und 15/31/20 internationale Soldaten um`s Leben.  (ANSO April 2009)

In 2008 kamen lt. UNAMA-Report Jan. 2009 2.118 Zivilpersonen im Kontext der bewaffneten Konflikte um`s Leben, d.h. 40 % mehr als in 2007 (1.523). Am schlimmsten war der August mit 340 Ziviltoten. 1.160/55% sollen durch Anti-Regierungskräfte (AGE) verursacht haben, 828/39% durch Pro-Regierungskräften (PGF). 872/41% der Zivilopfer gab es im Süden, 417/20% im Südosten, 270/13% im Osten, 13% Central und 200/9% im Westen, Nordost 45 (davon 20 durch AGE, 9 durch PGF und 16 durch andere), Norden 38 (davon 11 durch AGE, 0 durch PGF und 27 durch andere).

Die Zivilopfer durch regierungsfeindliche Kräfte nahmen ggb 2007 um 65% zu, durch Pro-Regierungskräfte um 31%.  725/34% der Menschen kamen durch  Suizid- und IED-Attacken um`s Leben, 552/26% durch Luftangriffe, 271/13% durch Exekutionen durch AGE`s, 529/25% durch andere Taktiken, 41/2% „Force Protection Incidents" durch PGF.

Hinzu kommt eine regelrechte „Terrorkampagne" der AGE gegen Nichtkombatanten durch gezielte Anschläge, Drohungen und Einschüchterungen: Durch „night letters", Drohungen, Entführungen, Exekutionen (oft öffentliche Enthauptungen, Erhängungen und Erschießungen) und andere Straftaten.  (Bericht  der AFG Menschenrechtskommission AIHRC „Insurgent Abuses Against Afghan Civilians" vom Dezember 2008)

Im 1. Quartal 2009 kamen von den 342 Zivilopfern 68% durch AGE um`s Leben (1. Q. 2008 81%), durch internationales Militär 32% (19%). (ANSO April 2009)

Lt. UNAMA-Report Jan. 2009 wurden in 2008 70 Hilfskonvois und 63 Hilfseinrichtungen angegriffen, 38 HelferInnen getötet, 147 entführt.  Besorgnis erregend sei auch, dass weite Teile des Landes unzugänglich würden für Hilfsorganisationen, weil ihre Mitarbeiter Ziel von direkten Angriffen, Drohungen und Entführungen würden.  (UNHCR Pressemitteilung vom 16.9.2008) Für UN-Aktivitäten gelten bis zu 50% des Landes als nicht zugänglich. (INRI 16.10.2008.)

NGO`s wurden Januar bis Ende September  2008 146 mal attackiert (135 Vorfälle in ganz 2007), wobei 28 NGO-Mitarbeiter getötet (darunter 5 Ausländer)  und 72 entführt wurden. Das 3. Quartal war mit 71 Zwischenfällen das schlimmste seit 2002. Während in 2007 die Mehrzahl der Angriffe auf das Konto krimineller Banden ging, waren in 2008 Aufständische für drei Viertel der Angriffe veantwortlich. (lt. ANSO, in AFP 15.10.2008) Attacken auf NGOs wurden aus 29 der 34 Provinzen gemeldet.

Im 1. Quartal 2009 lag die Zahl der Sicherheitsvorfälle (17/15/5), in die NGO`s verwickelt waren, um 25% höher als im 1. Quartal 2008 - und das, obwohl zwischenzeitlich viele weitere Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Dabei nehmen seit 2007 kriminelle Hintergründe ab und oppositionelle Hintergründe zu. Die AGE-Vorfälle waren 20 Entführungen, 7 Drohbriefe, 4 IED-Angriffe, je 3 Handfeuerwaffen und Brandstiftung u.a. Primärer Risikofaktor für NGO-MitarbeiterInnen sind Attacken mit Handfeuerwaffen/RPG: Durch solche Attacken kamen in 2007 14, in 2008 18 und 2009 bisher 2 MitarbeiterInnen um`s Leben.

Gesundheitseinrichtungen als Ziel: In 2008 wurden 198 direkte Attacken und Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen registriert. Lt. UN-Informationsdienst IRIN 23.7.2008 wurden in den ersten vier Monaten des Jahres 19 Gesundheitseinrichtungen attackiert, so dass weitere 100.000 Menschen (aus 2007 schon 300.000) keinen Zugang mehr zu  Basisgesundheitsdiensten haben. Damit sind die bisherigen Fortschritte auf dem Feld der Gesundheitsversorgung (z.B. Senkung der Kindersterblichkeit um 26%) gefährdet.

Schulen als Ziel: Lt. UNAMA-Report „Protection of Civilians" vom Jan. 2009 wurden in 2008 293 Schulen und Erziehungseinrichtungen attackiert , 24% mehr als 2007.  In 45 Distrikten in 12 Provinzen sind 640 Schulen (primary, secondary + high)  lt. Erziehungsministerium geschlossen.  80% der geschlossenen Schulen liegen in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar, Zabul und Uruzgan. In Helmand sind nur 54 Schulen primär für Jungen in Betrieb gegenüber 223 in 2002. Mehr als 230.000 Kinder können deshalb nicht die Schule besuchen.

Dutzende Schüler - manche erst 7 Jahre alt - ind Lehrer wurden von Bewaffneten seit 2007 getötet oder verletzt.  Am 12. November 2008 wurden durch einen Säureanschlag in Kandahar 12 Studierende und 4 Lehrer verletzt.

(Landesweit gibt es 11.000 Schulen, 3.500 wurden seit 2002 gebaut. Die Schülerzahl stieg von 1 Mio. Jungen in 2000 auf mehr als 6 Mio., davon 30 % Mädchen, heute.) (...)

Zivilopfer durch internationale Truppen/Luftangriffe

Juli 2009: 6 Zivilopfer durch internationale Luftangriffe ggb. 89 in Juli 2008. (AP 11.8.2009; seit 6.7. gilt die schärfere Taktische Direktive des neuen ISAF-Kommandeurs.)

Jan-Apr 2009: Von insgesamt 48 Zivilopfern 19 durch close air support, 9 durch direktes Feuer, 8 durch indirektes Feuer, 8 escalation of force, 4 Verkehrsunfälle. (ISAF CIVCAS Cell v. 2.5. lt. Cordeman 11.5.)

in 2008 (lt. Human Rights Watch Report „Troops in Contact: Airstrikes and Civilian Deaths in Afghanistan" vom 8.9.2008): Die Zahl der bei Luftangriffen von USA + NATO getöteten Zivilisten hat sich von 2006 auf 2007 verdreifacht. Nach Verschärfung der Einsatzregeln im Sommer 2007 sank die Zahl der Zivilopfer in der 2. Jahreshälfte. In 2008 nahm sie aber wieder zu.

In 2006 kamen mindestens 929 AFG Zivilisten bei Kämpfen um`s Leben, davon mindestens 699 bei Angriffen der Taliban, mindestens 230 bei Angriffen von US- und NATO-Truppen, davon 116 bei Luftangriffen.

Bei „geplanten Luftangriffen" kommt es zu fast keinen Zivilopfern,  ganz anders hingegen bei rapid response strikes, zur schnellen Luftnahunterstützung für bedrohte Bodenkräfte. Solche ungeplanten Schnellsteinsätze geschehen meist zum Schutz kleiner US-Spezialeinheiten (OEF),  wenn sich Aufständische in bevölkerte Dörfer zurückziehen und in Fällen der - lt. US-Regelungen - „präventiven Selbstverteidigung".  (...)

Nächtliche Hausdurchsuchungen + Razzien (night raids) lt. AIHRC-Report „From Hope to Fear" Dez. 2008:

Sie finden in den Medien nur spärlich Beachtung, sind aber im Süden und Osten nicht unüblich. Geschichten von night raids sind weit verbreitet, aber schwer zu verifizieren. Die Kombination von beleidigendem Verhalten (gegenüber Frauen, Aggressivität, Bedrohung von Familienmitgliedern mit Waffen, Beschädigung von Eigentum, Einsatz von Hunden) und gewaltsamem Eindringen in Häuser der Zivilbevölkerung um Mitternacht schafft so viel Ärger und Zorn gegen PGF wie tödliche Luftangriffe. Unangemessene Hausdurchsuchungen durch internationale Truppen und andere schaffen den Aufständischen weiteren Zulauf.  (...)

Die neue US-Regierung hat hier einen fundamentalen Strategiewandel eingeleitet. Der Fokus der Militär-operationen soll nicht mehr auf der Gegnerbekämpfung liegen, sondern auf dem Schutz der Bevölkerung.

2.4  Opfer auf Seiten der Pro-Regierungskräfte

Lt. Weekly Standard (www.weeklystandard.com) vom 22.12.2008 kamen in 2008 bis Mitte November 88 US-Soldaten "in action" um`s Leben, 464 AFG Soldaten und 1.215 Polizisten (+47% ggb. 2007). Zusätzlich wurden ca. 2.600 Polizisten in diesem Zeitraum verwundet bzw. vermisst. In Relation zum ANP-Umfang von 77.000 wurde jeder Zwanzigste AFG Polizist getötet bzw. verwundet. Umgerechnet auf die USA hieße das, dass 12.000 Polizisten ihr Leben verloren hätten.  ("Policing AFG - Too few good men and too many bad ones make for a grueling, uphill struggle" von Ann Marlowe.) Die AGE sollen auf den Tod eine Polizisten ein Kopfgeld von 1.500 US-$ ausgesetzt haben, auf Soldaten 5.000 US-$.

Internationalen Truppen: U.S. AND COALITION CASUALTIES in AFGHANISTAN lt. CNN-Liste: bis 11.08.2009 1.297 Tote, davon 773 Amerikaner, 11 Australier, 196 Briten, 127 Kanadier, 3 Tschechen, 24 Dänen, 19 Niederländer, 4 Esten, 1 Finne, 29 Franzosen, 30 Deutsche, 2 Ungarn, 14 Italiener, 3 Letten, 1 Litauer, 4 Norweger, 9 Polen, 2 Portugiesen, 11 Rumänen, 1 Südkoreaner, 25 Spanier, 2 Schweden, 2 Türken. Die Umgekommenen sind jeweils mit Foto (meist), Name, Alter, Einheit, Heimatort, Tag und Umstände des Todes aufgeführt. (www.edition.cnn.com/SPECIALS/2004/oef.casualties/2008.07.html)

Im Juli 2009, dem bisher opferreichsten auf Seiten der internationalen Truppen, kamen insgesamt 74 internationale Soldaten um`s Leben, davon 45 US, 21 UK, 4 CAN, davon 37 durch IED, 33 in Helmand. Von den 647 umgekommenen US-Soldaten von 7. Okt. 2001 bis 9. Feb. 2009 starben 189 (30%) durch IED`s, 165 (25%) durch feindliches Feuer und 100 (15%) durch Hubschrauberverluste. Von ihnen waren 246 bis 24 Jahre jung, 174 25-30 Jahre. (Afghanistan Index 10. Feb. 2009)

2.6 Kampf um die Wahrnehmung

Meinungsumfragen in AFG stehen angesichts der enormen Fragmentierung des Landes und kultureller Besonderheiten vor ganz besonderen mehodischen Schwierigkeiten. Insofern sind Umfrageergebnisse über das übliche Maß hinaus mit Vorsicht zu genießen, bedarf ihre Methodik besonderer Prüfung. (...)

ARD-Umfrage, veröffentlicht am 9.2.2009 (www.tagesschau.de/ausland/afghanistan772.html)

-     AFG auf dem richtigen/falschen Weg?  2009 40 %/38 %, 2007 54 %/24 %, 2005 77 %/6  %.

-          Wird`s Kindern besser/schlechter als Ihnen gehen? 2009 47/14, 2007 51/11   In Kunduz 64 % besser, Kandahar 16%

-          Beurteilung der Arbeit der Regierung eher gut/eher schlecht?  2009 49/49, 2007 59/39;  ... der USA? 2009 32/63, 2007 42/52

-          Wer sollte eher in AFG regieren - jetzige Regierung oder Taliban? 2009 82/4, 2007 84/4

-          Wer stellt die größte Gefahr dar: Taliban, Drogenhändler, lokale Kommandeure, USA, Regierung? 2009 58/13/7/8/1, 2007 52/23/9/10/1

-          Unterstützen sie die Präsenz oder lehnen Sie ab von: US-Militär? 2009 63/36, 2007 71/27;  NATO/ISAF? 2009 59/40, 2007 67/30

-          Angriffe auf US- und ISAF-Kräfte gerechtfertigt? 2009 25, 2007 17; in Kunduz 16, in Kandahar 55

-          Wann sollten ausländische Truppen abziehen: sofort/in 6-12 Monaten/1-2 Jahren/nach Wiederherstellung der Sicherheit? 2009 21/16/14/42, 2007 14/13/18/42

-          Haben Sie eine eher positive/negative Meinung von:  Taliban 2009 7/91, 2007 13/84; USA 2009 47/52,  2007 65/32; PAK 2009 8/91, 2007 19/80; GB 39/54, 2007 49/45; Iran 2009 57/40, 2007 52/45; DEU 2009 61/31, 2007 70/24

-          Wer spielt eine positive/negative Rolle: RUS 14/33, PAK 5/86, Indien 41/10, USA 44/36, GB 24/38, DEU 36/19

Kommentar: In der Tat setzen sich die Negativtrends der vorigen Umfrage fort, verschlechtert sich das politische Stimmungsbild und sinkt das Ansehen von Regierung und internationalen Streitkräften weiterhin.

Zugleich sind die Unterschiede zwischen den Regionen/Provinzen erheblich (auf tagesschau.de nur punktuell veröffentlicht). Etliche Wahrnehmungen (der Regierung, der USA, der Zukunftsaussichten) sind aber immer noch erheblich besser, als man hierzulande gemeinhin annimmt. Außerdem: Wenn man die Fragen (1) und (2) zu den allgemeinen Zukunftsaussichten in DEU stellen würde, gäbe es hier und heute vielleicht kaum bessere Antworten. Alarmierend ist aber, welch große Minderheiten Angriffe auf internationale Truppen für gerechtfertigt halten: Wo es 55% (Kandahar) sind, ist der Kampf um Legitimität verloren. Wo es 16% (Kunduz) sind, ist der Einsatz auf der Kippe. Im Hinblick auf einen Abzug der ausländischen Truppen ist die Bevölkerung gespalten: 51% dafür, 42% dagegen! (...)

Teil 2 findet sich hier.