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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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Nachtwei in Nord-Afghanistan

Veröffentlicht von: Webmaster am 6. August 2006 20:45:47 +01:00 (73461 Aufrufe)

Ãœber seine Reise nach Nord-Afghanistan verfasste Winfried Nachtwei folgenden Bericht:

Besuch in Nord-Afghanistan: Hoch kritische Monate

Winfried Nachtwei, MdB (24.7.2006)

Zusammen mit den Kolleginnen M. Brünung (CDU) und U. Mogg (SPD) begleitete ich am 17.-19. Juli 2006 Verteidigungsminister Jung und Generalinspekteur Schneiderhan bei seinem ersten Besuch der ISAF-Nordregion und der deutsch geführten Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Feyzabad und Kunduz sowie das neue Regional command (RC) North in Mazar-e-Sharif.

Der Start von Berlin-Tegel verzögert sich wegen Vogelschlag an den Triebwerken des Bundeswehr-Airbus, mit dem kurz vorher die Kanzlerin aus St. Petersburg vom G8-Gipfel zurückgekommen war. Ein Techniker muss aus Frankfurt eingeflogen werden. In Termez/Usbekistan steigen wir in CH-53-Hubschrauber um und legen Schutzwesten an. Um das Risiko eines Beschusses vom Boden zu minimieren, brettern wir im Tiefflug (Mindesthöhe 8 m) und ICE-Tempo in knapp 2 Stunden nach Feyzabad in der entlegenen Nordostprovinz Badaghshan. Der Konturenflug mit offener Heckklappe, auf der ein Soldat als Beobachter sitzt, ermöglicht Blicke auf grandiose Landschaften: gewellte Steppen und Wüsten, zerklüftete Bergwelt, Schluchten, wenige saftig grüne Oasen, Flusstäler, Felsmassive. Nur ganz vereinzelt sind menschliche Ansiedlungen zu sehen, doch kein Berg ohne Trampelpfade (gerade über die Höhen), plötzlich eine kleine Herde, ein vereinzeltes Zelt, einzelne Menschen..

Bei meinem letzten Besuch in Kunduz und Feyzabad waren die PRT noch Provisorien und lagen inmitten der Orte, waren ziemlich verwundbar, äußerst beengt - aber für Bevölkerung auch eher erreichbar und einsehbar. (vgl. Bericht vom September 2004) Jetzt liegen die neuen Camps jeweils ganz nah an der jeweiligen Landepiste, sie sind großräumig angelegt und massiv gegen Raketenbeschuss und Attentate gesichert - aber jetzt weniger erreichbar und gar nicht einsehbar. In den letzten Wochen wurde um den bisherigen norwegischen Stützpunkt herum das Camp Marma bei Mazar-e-Sharif hochgezogen. Über allem trockene Backofenhitze von über 40° C, im wüstenartige Mazar-e-Sharif immer wieder von dichten Staubwolken durchweht.

Drei Tatsachen schränken unsere Einblicke vor Ort zusätzlich über den engen Zeitrahmen ein:

Die Besuche führen vom Flugfeld direkt in die PRTs. Eine Fahrt wie früher durch den ganzen Ort, die zumindest Eindrücke von Lebensverhältnissen, Veränderungen und Bevölkerungsreaktionen ermöglichte, gibt es jetzt nicht mehr. Offizielle Briefings gibt es nur durch Militärs nicht durch die zivilen Vertreter der PRTs. Mit dem deutschen Botschafter in Kabul, Dr. Seidt, AA-Vertretern und deutschen Polizisten ergeben sich nur kurze Gesprächsmöglichkeiten am Rande. Das BMZ ist gar nicht sichtbar. Nicht eingeplant sind Kontakte mit lokalen Autoritäten, was eigentlich ein Gebot der Höflichkeit und des Respekts gegenüber dem Gouverneur und anderen gewesen wären. Bei früheren Struck-Besuchen war das eine Selbstverständlichkeit.

Bei unseren Abgeordnetenreisen nach Afghanistan wollen wir voll in die Breite erkunden, ressortübergreifend, multinational, (nicht-)staatlich. Heute ist meine Fraktionskollegin Anna Lührmann nach Afghanistan gestartet, um vor allem zivilgesellschaftliche Projekte zu besuchen. Ich bin gespannt auf ihre Erfahrungen.

Feyzabad

Die Landepiste aus Stahlplanken wird gerade instand gesetzt. Das in einem Flusstal von Bergen umgebene Feyzabad ist auf dem Luftweg zzt. nur per Hubschrauber erreichbar. In unmittelbarer Nähe liegt das „neue" PRT. Dicht an dicht stehen die Feldhäuser (aus Containern), Zelte, Dienst- und Werkstattgebäude, mit dicken „Hesco Bastions" (Gitterkörbe mit Schotter) und Sandsäcken regelrecht eingebunkert.

Zum PRT gehören 365 Soldaten (228 DEU, 82 TSCH, 40 DÄN) und 12 Zivilisten (2 AA, 2 DEU und 2 KROA Polizisten, 1 KROA Diplomat, 1 USAID). Die BMZ-Position ist seit Februar nicht besetzt. Angesichts des Bedarfs an Entwicklungshilfe ist das völlig unverständlich.

Die u.a. an China angrenzende Provinz erstreckt sich über 450 km in Ost-West- und 300 km in Nord-Süd-Richtung und umfasst eine Fläche von der Größe Dänemarks. Die Bevölkerung wird auf ca. eine Mio. geschätzt. Badakhshan sieht sich als „vergessene Provinz". Die Lebensadern des PRT nach außen sind dünn und weit: Von Kunduz nach Feyzabad braucht man auf dem Landweg ca. 12 Stunden (im Winter ggfs. unpassierbar), durch die Luft ca. 1 Stunde. Da hier die zweimotorige Transall zu Normalzeiten nicht landen darf, kommen hier überwiegend die - knappen - CH-53-Hubschrauber zum Einsatz. Die Infrastruktur ist katastrophal, aphaltierte Straßen gibt es nicht. 40 km können hier eine Tagesreise bedeuten Patrouillen in einen Ort 80 km Nordost brauchen 6 Tage.

Während unserer Anwesenheit überfliegt mehrfach ein Kampfflugzeug das Tal von Feyzabad, offenkundig zur demonstrativen Abschreckung.

Der Auftrag des PRT ist

- Unterstützung der Regierung bei der Armee- und Polizeireform, Zusammenarbeit der Afgh. Nationalpolizei ANP und beim Wiederaufbau der Provinz;

- Sicherstellung eines sicheren Umfeldes durch Präsenz im Einsatzraum, Aufklärung, zivil-militärische Zusammenarbeit, Schutz von Hilfsbedürftigen;

- enge Zusammenarbeit mit Provinzregierung und (Nicht-)Regierungsorganisationen bez. Sicherheit, Entwaffnung illegaler bewaffneter Gruppen (DIAG), Counter Narcotics im Rahmen des Mandats, humanitäre Hilfe.

Sicherheitslage: differenziert nach Distrikten in den Kategorien low, medium, significant, high und unknown (fünf nördliche Distrikte): überwiegend low, sechs Distrikte medium (örtliche bewaffnete Kräfte, Organisierte Kriminalität), ein Distrikt significant (vor einigen Monaten Angriffen nach der Vernichtung von Mohnfeldern). Seit 2005 gab es insgesamt 24 Angriffe, davon fünf von Anfang Juni bis Anfang Juli (zweimal Raketen, dreimal IED - Improvised Explosive Devices/improvisierte Sprengmittel). Auf die gestiegene Anschlagshäufigkeit reagiert man ausdrücklich nicht mit Rückzug, sondern mit verstärkter Präsenz (auch Stören möglicher Angriffsvorbereitungen), Informationsarbeit, Koordination und Kooperation mit der afghanischen Seite.

Seit Januar führte das PRT ca. 1.000 Patrouillen durch, davon mehr als hundert mehrtägige.

Schon mit geschützten Fahrzeugen ist nur ca. die Hälfte der Distrikte erreichbar. Mit gepanzerten Fahrzeugen wären nur noch fünf Distrikte eingeschränkt erreichbar, die 23 anderen nicht mehr.

Bei allen PRTs ist die Botschaft einhellig: Die Berliner Weisung, nur noch mit geschützen/gepanzerten Fahrzeugen raus zu fahren, schränke Bewegungsfreiheit und Kontaktmöglichkeiten enorm ein. Die Kommandeure brauchen Entscheidungsfreiheit, um lageangepasst die bestmögliche Auftragserfüllung zu gewährleisten.

Die Zusammenarbeit mit Gouverneur und lokalen Autoritäten geschieht über regelmäßige Meetings zur Sicherheitslage, zu DIAG, Entwicklung, Projektabsprachen, Drogenbekämpfung, an der Offiziere und/oder zivile Vertreter des PRT teilnehmen. Entwicklungsschwerpunkte aus PRT-Sicht sind Verkehrsinfrastruktur, Schulwesen (z.B. Mädchenschule Nr. 1, Lehrerausbildungszentrum in Feyzabad) und Gesundheitswesen (Hospital, Ärzteausbildung in F.).

Die Drogenbekämpfung in der Hochburg des Schlafmohnanbaus - schon seit der Zeit der Nordallianz - beschränkt sich auf Nacht-und-Nebel-Aktionen gegen Mohnfelder. Alternativen zum Mohnanbau gibt es so gut wie nicht. Es bleibt ausschließlich Gewalt. Das gefährde die Sicherheit des PRT.

Bedarf/Anträge: Man braucht mehr Luftbeweglichkeit („Nadelöhrfähigkeit"), Jammer gegen funkgesteuerte IEDs, mehr Mittel für Quick-Impact-Projekte und Entwicklung (hierzu ging eine lange Liste ans BMZ), mehr Reaktionsmöglichkeiten gegenüber Terroristen - und auf jeden Fall weiter deutsche Polizisten in Feyzabad.

Denn geplant ist, die deutschen Polizeiberater aus Feyzabad und Kunduz abzuziehen und in Mazar-e-Sharif zu konzentrieren. Stattdessen sollen tschechische Polizeiberater nach Kunduz kommen. Das wird von allen Seiten für völlig falsch gehalten. Der Abzug sei nicht hinnehmbar.

Der Hinflug führte entlang der Kunduz-Piste und durch ein wildes Flusstal. Zurück geht es über die Berge. Unglaublich, an welchen Stellen noch Felder auftauchen. Ob wir irgendwo abgeerntete Mohnfelder überfliegen, sagt keiner.

Kunduz

Das Camp liegt ca. 1 km vom „Flughafen" entfernt. Geradezu endlos erstreckt sich die Mauer, die jeden Blick ins Lager versperrt. Die Zufahrt zum Haupttor ist weiträumig gesichert. Dahinter liegt eine gerade im Vergleich zur inprovisierten und chaotisch erscheinenden Enge von Camp Warehouse in Kabul eine auffällig großzügige Anlage. Manche Gebäude sind um Innenhöfe herum gebaut. Irgendwann einmal soll die Anlage z.B. als Pädagogische Hochschule Verwendung finden können.

Der Verantwortungsbereich des PRT ist so groß wie Sachsen-Anhalt bei einer Bevölkerung wie Hamburg. Es gibt zwei befestigte Straßen, eine in Nord-Süd, die andere in Ost-West-Richtung. Im Vergleich zu Badaghshan sind andere Distrikte viel schneller erreichbar (eine bis max. acht Stunden). Das PRT umfasst 464 Personen, davon 414 Bundeswehr, 40 Soldaten anderer Nationen und 10 Zivilisten (AA, BMI u.a.). Hinzu kommt eine afghanische Wache und 88 afg. Mitarbeiter

Sicherheitslage: Zwischen Februar und Juni gab es neun Anschläge auf das PRT, davon acht IED und ein Hinterhalt mit Panzerfäusten. Bei dem einen Selbstmordanschlag am 27.6. in Kunduz in Nähe des Krankenhauses explodierte ein Fahrzeug vor einem DINGO: neun Afghanen, davon sechs Kinder, werden schwer verletzt; die DINGO-Besatzung kam mit dem Schrecken davon; vom Angriffsfahrzeug blieb ein Klumpen Schrott. Beim Freitagsgebet der örtliche Mullah dazu: „Dieser Täter starb wie ein Schwein."

Einen Tag später wurde eine Nachtpatrouille südlich Kunduz mit einer Panzerfaust beschossen. Es entwickelte sich ein Feuergefecht. Opfer gab es nicht.

Als uns die attackierten gepanzerten Fahrzeuge vorgeführt werden, ist an den „begrenzten" Schäden zu sehen, welchen enormen Schutz die Panzerung bietet. Zugleich haben die SoldatInnen aber auch sehr viel Glück gehabt.

Die Mehrheit der Bevölkerung und die Mullahs lehnen die Anschläge ab.

Auch hier war die Reaktion des PRT offensiv im Sinne verstärkter Präsenz (Aufklärung, Abschreckung, nicht aktiver Anti-Terrorkampf) im kritischen Raum: Nach dem Hinterhalt waren eine ganze Kompanie sowie ANA-Soldaten eine Woche vor Ort, „bestimmt, deutlich, freundlich", vorher und nachher wurde mit dem Mullah gesprochen.

Die Analyse der Anschläge ergibt interessante Ergebnisse: Sie geschahen alle in Gebieten mit hohem paschtunischen Bevölkerungsanteil. Bei Paschtunen ist die Unzufriedenheit besonders groß, weil sie kaum an Wiederaufbau, Entwicklung und Macht teilhaben. Viele paschtunische Flüchtlinge sind aus Pakistan zurückgekehrt. Diese Gebiete bieten sich als Aufenthaltsräume für Oppositionelle Militante Kräfte (OMF) aus dem Süden an. So resultiert aus einer anfänglichen Stabilisierung, die vielen die Rückkehr ermöglichte, eine erneute, „sekundäre" Destabilisierung. Überdies sind von der früheren Taliban-Hochburg Kunduz noch viele (ehemalige) Taliban übrig geblieben. Angesichts des militärischen Drucks im Süden sei es eine nahe liegende Taktik für OMF, nach Norden auszuweichen und dort Nadelstiche zu setzen.

Hinzu kommen andere Unruhemotive: (illegale) Milizen sehen nicht ein, warum sie die Waffen abliefern sollen, nachdem sie gegen die Kommunisten, gegen die Taliban gekämpft hätten und wo doch im Süden Milizen z.T. Verbündete der US-Truppen seien. Und für Kriminelle, Menschen- und Drogenschmuggler sei eine starke Regierung nur hinderlich. So werde ISAF, weil Stütze der Regierung, zum Störfaktor.

Die Region ist ausgesprochen fruchtbar, mehrere Ernten pro Jahr sind möglich. Wenn gegen Mohnfelder vorgegangen werde, dürfe das nicht so spät erfolgen, dass die Bauern gar keine Möglichkeit mehr haben, andere Feldfrüchte anzubauen.

Seitens AA werden ausgesprochen sinnvolle Projekte wie z.B. Wasserinstallationen für Moscheen (Waschgelegenheiten, Trink- und Abwasser) gefördert, was die Beziehungen zu den Mullahs deutlich verbessert habe. Bei der Empörung um den Karrikaturenstreit habe sich das erkennbar bewährt. Angesichts der Aufgaben sei die AA-Säule aber unterbesetzt, das BMZ halte sich bewusst außerhalb. Dass es in der Provinz Kunduz mehr als tausend (?) von DEU (mit-)unterstütze Projekte gebe, wisse keiner. Bloße Organisationsabsender bei bisherigen Projekten (z.B. von der GTZ) würden nicht reichen. Deshalb habe man jetzt ein Plakat herausgegebenen, wo die deutsche Unterstützungen schlicht mit Schwarz-Rot-Gold kenntlich gemacht werden.

Der ISAF-Sender „Stimme der Freiheit" wird stark mit Hilfe afghanischer MitarbeiterInnen betrieben und hat die besten Einschaltquoten im Norden.

Die ANP brauche neben einer besseren und verlässlichen Besoldung (ein Polizist erhält 60/70 US-$, oft verzögert, für eine Familie braucht man 120 $) längere Ausbildung und Begleitung/Monitoring. Die „Ausbildung" der einfachen Polizisten durch die amerikanische Private Sicherheitsfirma Dynkorp scheint eher eine Karrikatur zu sein: In wenigen Wochen geht es hier in der Hauptsache um militärisches Grüßen, Marschieren und Nahkampf. Die Ausbildungsordnungen werden verlesen. Die Polizisten erhalten Schlagstock, Reizstoffsprühgerät, erfahren aber nichts über Einsatzgrundsätze.

Schlussfolgerungen:

- Über den passiven Schutz soll weiter der Kommandeur lage- und auftragsabhängig entscheiden können. „Schutz ist nicht alles."

- Mehr Mittel und Anstrengungen sind notwendig bei der Nachrichtengewinnung und Aufklärung.

- Mehr kurzfristige Geldmittel für Projekte (für den AA-Topf stehen 65.000 Euro zur Verfügung, BW 15.000): Die Waage zwischen Sicherheit und Entwicklung müsse gehalten werden.

- Statt die dt. Polizeiberater abzuziehen, wäre ihre Verstärkung notwendig. Der zivile Anteil des PRT brauche insgesamt Verstärkung.

- Im Rahmen des Mandats aktivere Operationsführung mit Wirkung gegen OMF und auf die Bevölkerung

Mazar-e-Sharif

liegt 25 Hubschrauberminuten südlich von Termez in einer vegetationslosen Fläche, hinter der das Marmal-Gebirge aufwächst. Von dort beschoss vor vielen Jahren der heutige Gouverneur mit seinen Kämpfern den sowjetischen Stützpunkt am „International Airport". Auf diesem können auch größere Maschinen landen. Der BW-Airbus darf es nicht, weil er keinen Schutz gegen Bodenbeschuss hat.

Das Lager liegt 500 m vom Flugfeld entfernt, umfasst ein Areal von 1x2 km und befindet sich noch im Aufbau. Es soll einmal 2.400 Soldaten beherbergen. Als Untergrund wurde eine meterdicke Schotterschicht aufgetragen - als eine von mehreren Schutzmaßnahmen gegen die von einer Wüstenmaus über eine Sandmücke übertragenen Leishmaniose-Parasiten (Hautleismathiose, auch Orient- oder Aleppobeule genannt).

Brigadegeneral Markus Kneip ist Regional Commander ISAF North und zugleich nationaler (DEU) Befehlshaber des 11. Einsatzkontingents.

Das RC North umfasst neun Provinzen mit 7-10 Mio. Einwohnern (40% der afg. Bevölkerung) und erstreckt sich max. 1.200 km in Ost-West-Richtung und max. 400 km N-S (30% der Fläche). Das RC grenzt an fünf Länder an. (drei Schmuggel- und eine Terrorgrenze) Zu RC North tragen 18 Nationen bei, DEU hat die Lead-Rolle. Die fünf PRT werden von Schweden, Norwegen, Niederlande (bald Ungarn) und DEU (2) geführt. Diese Multinationalität wird als sehr kompatibel erfahren.

Die Masse des deutschen Kontingents ist jetzt von Kabul in den Norden und vor allem nach Mazar-e-Sharif verlegt worden. Eine dt. Einsatzkompanie ist noch der franz. Battle Group in Kabul zugeordnet. Zusammen mit dem Einsatzunterstützungsverband Kabul soll damit in der Hauptstadt weiter ein „signifikanter" dt. Beitrag geleistet werden. Ob das in der internationalen Hierarchie der Dienstgrade und Eitelkeiten noch genügend Gewicht darstellt, wird von manchen bezweifelt.

Auftrag des RC North: durch enge Kooperation mit zivilen Kräften die afg. Regierung und die afg Bevölkerung bei der Entwicklung eines sicheren Umfeldes zu unterstützen, Wiederaufbau und Entwicklung zu ermöglichen und damit zur regionalen Stabilität beizutragen. Ziel ist, dass die afghanische Seite das eigenständig leisten kann.

Eine besondere Leistung ist, verschiedene Aufgaben parallel zu erfüllen, z.B.

- bestmöglicher Schutz und Kontakt zur Bevölkerung

- Aufbauarbeit und Abwehr von Terrorismus

- afg. Eigenverantwortung und eigenes Vorgehen gegen Bedrohungen

Sicherheitslage:

- Mehr OMF-Aktivitäten im ganzen Land, jetzt auch gezielt gegen ISAF (nicht explizit gegen DEU); Org. Kriminalität nutzt das zur latenten Destabilisierung, im Süden und Osten teilweise offener Kampf/Krieg.

- Massen, gerade Analphabeten, können mobilisiert werden; „Kollateralschäden" bei OEF-Einsätzen spielen dabei eine erhebliche Rolle; Kritik am internationalen Militär insgesamt wächst, alle werden zunehmend in einen Topf geworfen.

- Die Bevölkerung steht weit überwiegend ISAF und DEU neutral bis freundlich gegenüber; DEU weiterhin am beliebtesten, aber von Angriffen nicht mehr ausgenommen.

- Die Anti-US-Stimmung ist dramatisch und beeinträchtigt auch andere (das aggressive Auftreten der US-Soldaten - Höchstgeschwindigkeit, Monolog der vorgehaltenen Waffe - ist notorisch).

- Counter Narcotics und DIAG wirken ausschließlich negativ.

- Verschärfung der Lage durch eine z.T. bestechliche und wenig fähige Polizei; die Polizeireform schafft zusätzliche Unruhe.

- In den Medien spielen OMF/Opposition eine größere Rolle als ISAF und OEF.

- Relationen: im ganzen Norden passieren weniger als 5% der landesweiten sicherheitsrelevanten Vorfälle, es sind weniger als in einer einzigen „amerikanischen" Provinz. Sie stiegen von sechs im Februar auf zwanzig im Juni, davon gegen ISAF 3/10, gegen AFG Sicherheitskräfte 2/4, gegen NGOs 1/2; im Norden auffällige räumliche Konzentrationen; Anschläge auf Schulen gab es bisher „nur" in der Provinz Balkh (sechs im Mai) - man ging mit Gouverneur vor Ort und baute die Schule wieder auf.

- Eskalationsmöglichkeiten: Das potenzielle Gewaltspektrum ist keineswegs ausgeschöpft.

Lage von ISAF

ISAF IX unter brit. Lead praktiziert einen offensiven Ansatz. Am 1. Juni wurden die RC North und West implementiert, zum 31.7. mit aller Macht RC South, zum 6.8. RC Central (Kabul). Im Mai/Juni lag der Schwerpunkt von ISAF im Westen (erfolglos), jetzt steht RC S an erster Stelle. Der Kommandeur ISAF (COMISAF) versucht ständig, Kräfte aus dem Norden dauerhaft nach Süden zu verschieben. Dem widersetzt sich u.a. die dt. Seite.

Die PRTs sind in Ansatz, Ausstattung und Stärke sehr unterschiedlich. Z.B. verfügt das schwedische geführte PRT über keinerlei flexible Finanzmittel.

Sicherheitssektorreform

Die ANA (US-Lead) ist trotz ihrer Abhängigkeit von US-Ressourcen vergleichsweise eine Erfolgsgeschichte und wichtigster Baustein für eine Exit-Strategie. Ihr Abzug z.B. aus Badaghshan in den Süden schwächt den Norden.

Die ANP ist unzuverlässiger als die ANA. Die Polizeireform mit ihrem häufigen Führerwechsel behinderte nicht nur Kontinuität, sondern war auch der Hintergrund für manche Schau-IED-Vorkommnisse.

Das dt. Polizeiprojekt sei zu schwach. Die Konzentration auf Mazar-e-Sharif sei falsch.

DIAG brachte keine Erfolge und wurde zunächst ausgesetzt.

Counter Narcotics/CN wurde in Balkh und Badaghshan begonnen und ist ein kompletter Misserfolg.

20-Tage-Aktionen gegen Mohnfelder erfolgten ohne rechtzeitige Informationsoperationen und ohne alternative Erwerbsmöglichkeiten (Alternativ Livelihood). Das führte zu einer Verschlechterung der allgemeinen Stimmungslage und der Sicherheitslage.

Von der Justizreform (Lead Italien) gibt es nichts zu berichten, weil sich auf diesem Feld weder im Norden noch im Westen was getan hat.

Kritische Zeit/Window of Opportunity:

- Bis zum Winter muss ISAF im Süden gegen die OMF erfolgreich sein.

- Angesichts der großen Enttäuschung über Karzai und die Regierung müssen sichtbare Erfolge her - nach den Parlamentsferien und vorm Winter

- Bis zum Wechsel zu ISAF X im Februar 2007 muss die Lead-Nation GB erfolgreich bei den Ausweitungstufen 3 (Süden) und 4 (Osten) sein.

Reaktionen auf die gestiegene Bedrohung: Differenzierte aktive und passive Maßnahmen

- Bestmöglicher Schutz bei gleichzeitiger Auftragserfüllung,

- Verbesserte Aufklärung (neuerdings auch mit den Aufklärungsdrohnen Luna und Aladin)

- flexible, bewegliche und überraschende Operationen und mit ANA/ANP

- Kontakte zur Bevölkerung und Multiplikatoren

- Störsender gegen funkgesteuerte IED (Jammer)

- Lagerschutz, gehärtete Unterkünfte, geschützte Fahrzeuge

- Längere Stehzeiten als die üblichen vier Monate bei ausgewählten Funktionen (Erfahrung)

- verbesserte interkulturelle Kompetenz

- stärkerer Erkennungswert der BW/DEU

Schlussfolgerungen und „Anträge": Außer zu Personal und Material auch

- an die Politik: DIAG und CN müssen anders laufen: Sicherheit und Entwicklung gehören zusammen; Konzentration und Belohnen!

Dt. Polizisten müssen in Feyzabad und Kunduz bleiben und eher verstärkt werden. Unterstützung durch Feldjäger der Bundeswehr kann nur begrenzt sein.

Aufstockungen sind notwendig für Quick-Impact-Projekte sowie für Entwicklungshilfe im RC N und Dt. PRT.

Kommandeure, Chefs der Stäbe, Offiziere bei Human Intelligence und CIMIC müssen länger vor Ort bleiben.

Rundgang durch das Camp:

Aus dem Leitstand eines schweren Krans darf der Minister vor den Linsen der begleitenden und örtlichen Presse den letzten Container eines Feldhauses setzen.

Die Soldaten sind gegenwärtig nur zu 3% allein, zu 13% zu zweit und zu 84% zu dritt in recht engen Wohncontainern untergebracht. Die 3er-Belegung ist strapaziös und erfordert ganz bsondere Rücksichtnahme. Bisher gibt es eine einzige Betreuungseinrichtung mit „Planet Mazar". Am Eingang des vorgelagerten kleinen Bier"gartens" gibt eine Infotafel hilfreiche Hinweise auf Schlangen, Spinnen und Skorpione.

Männer von der Logistikeinheit, die das Camp innerhalb kurzer Zeit hoch zog, berichten, dass sie die ganze Zeit praktisch nicht raus gekommen seien.

Die Hitze und der Staub, die 6 ½ Tagewoche, die beengten Unterkunftsverhältnisse, die Bindung ans Camp, die geringen Ablenkungsmöglichkeiten - das alles lässt erahnen, dass die Soldatinnen und Soldaten hier einen ausgesprochen harten Job machen.

Präsentationen: z.B. Luna-Aufklärungsdrohne (kann 2-3 Stunden in einem Raum von 40-50 km Durchmesser in Echtzeit und auch nachts so beobachten, dass Fahrzeuge und Personen erkennbar sind; ein Luna-Zug umfasst 35 Soldaten; für die Drohne gelten dieselben Luftsicherheitsbestimmungen wie für einen Tornado; wg. der ruppigen Landemethode per Fallschirm muss die Drohne nach jedem Flug auseinander genommen werden und von einem Prüfer - über fünf Jahre Ausbildung - abgenommen werden); Jammer; ein dänischer Quick Reaction Trupp.

Bei der abschließenden Pressekonferenz steht bei den afghanischen Medienleuten die Frage im Vordergrund, ob und wie lange die Bundeswehr angesichts der vermehrten Anschläge bleibe.

Zusammenfassende Bewertung und Schlussfolgerungen

Trotz aller Beschränkungen hilft der Kurzbesuch bei einer differenzierteren Einschätzung der Sicherheits- und Bedrohungslage (Professionalität der Anschläge, regionale Schwerpunkte, viel Terrorimport aus dem Süden), der auftragsbewussten Reaktionen von ISAF/BW (keine Wagenburgmentalität), der fragilen, aber noch keineswegs „verlorenen" Stimmungslagen.

Sehr deutlich werden Widersprüche + Defizite auf Seiten der „Internationalen Gemeinschaft", aber auch in der deutschen Präsenz: Das Auftreten verschiedener Militärs ist sehr unterschiedlich, ja teilweise nicht kompatibel. Das aggressive Auftreten von US-Kräften beißt sich mit dem ISAF-Ansatz, zu dem unverzichtbar Vertrauensbildung und Kooperation gehört. Wie soll das gehen, wenn ab Anfang 2007 erstmalig ein US-General ISAF-Kommandeur sein wird? Der spezifische ISAF-Ansatz muss erhalten bleiben und darf nicht einer vermeintlichen militärischen Effizienzsteigerung durch eine Zusammenlegung von ISAF und OEF geopfert werden.

Die Sicherheitssektorreform kommt bei der ANA ordentlich voran, bei der Polizei teils-teils, bei der Entwaffnung zzt. nicht mehr, bei der Justizreform gar nicht und bei der Drogenbekämpfung geht es voll nach hinten los.

Der Kurzbesuch bekräftigt meine Einschätzung, dass es ganz entscheidend auf die nächsten Monate bis zum Winter ankommt. Das heißt: Wenn es in der zweiten Septemberhälfte in Berlin um die Verlängerung der deutschen Beteiligung an ISAF geht (Mandatsende 13. Oktober), dann müssen die veränderten und neuen Perspektiven und Anstrengungen der deutschen und internationalen Afghanistanpolitik klar und eingestielt sein! Die OMF haben Zeit. Die Zentralregierung und die Staatengemeinschaft haben keine Zeit!

In zentralen Bereichen wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung muss sich sichtbar in allen Provinzen was tun. Dafür brauchen Entwicklungs- und Quick-Impact-Projekte eine Aufstockung und vor allem mehr Sichtbarkeit.

Die bisherige Art der einseitig repressiven Drogenbekämpfung ist zu Gunsten geduldiger und verlässlicher Förderung von Alternativ Livelihood auszusetzen; dasselbe gilt für die Entwaffnung der illegalen Gruppen.

Statt die deutsche Lead-Rolle beim Polizeiaufbau zu schwächen muss sie verstärkt werden. D.h. Aufstockung der bisher 40 Beamten und Beibehaltung der Polizeiberater in Kunduz und Feyzabad.

(Dass dt. Polizisten im Kosovo besser besoldet werden als im deutlich riskanteren Afghanistan, ist ein Unding. Der Politik muss endlich bewusst werden, dass polizeiliche Auslandseinsätze als Schlüsselbeitrag zu Stabilisierungseinsätzen nicht mehr länger aus dem schrumpfenden Personalbestand der Polizeien bestritten werden können, sondern dass hier ein neuer Personalpool aufgebaut werden muss.)

Richtig ist, dass sich DEU auf die Nordregion konzentriert und sich der Schwächung der dortigen Stabilisierungsbemühungen durch Abzug von Kräften in den Süden widersetzt.

Für den 18. Juli, als wir Feyzabad und Kunduz besuchen, meldet das U.S. Central Command Air Force in seinem täglichen „Air Power Summary" (www.globalsecurity.org): Koalitionsflugzeuge flogen im Süden Afghanistans 25 close-air-support-Einsätze (Luftnahunterstützung) für die Operation Enduring Freedom einschließlich afghanische Truppen, Aufbauaktivitäten und Streckenpatrouillen. Im Irak werden am selben Tag 44 solcher Einsätze geflogen. Für den 19. Juli werden 26 und 41 Luftwaffeneinsätze gemeldet.

Am Morgen des 19. Juli wird auf eine Routine-Patrouille der Bundeswehr 20 km südostwärts von Kabul ein IED-Anschlag verübt. Personenschäden gab es nicht. Der Transportpanzer Fuchs des beweglichen Arzttrupps wurde am Vorderrad beschädigt.

Weiteres:

- W.N.: Afghanistan auf der Kippe? Beratungspapier Anfang Juli 2006, http://www.nachtwei.de/

- Human Rights Watch: Lessons in Terror. Attacks on Education in Afghanistan, Anfang Juli 2006, http://www.hrw.org/)

- W.N.: Beobachtungen beim Besuch der PRTs in Feyzabad und Kunduz am 26.9.2004

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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