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Widersprüche, Glaubwürdigkeitslücken und Verantwortung – die Grünen zwischen Antikriegsprotest und Kriegsbeteiligung

Veröffentlicht von: Webmaster am 8. Juni 1999 23:31:38 +01:00 (114275 Aufrufe)

Seit Beginn der NATO-Luftangriffe erschüttert die Auseinandersetzung um die rotgrüne Kriegsbeteiligung die Grüne Partei. Sie fand ihren Höhepunkt mit dem Bielefelder Sonderparteitag, wo die Mehrheit der aus der Friedensbewegung stammenden Grünen die deutsche Beteiligung am ersten NATO-Krieg der Geschichte billigte, die Friedensinitiativen des grünen Außenministers ausdrücklich unterstützte, deutlich die Art der Kriegführung kritisierte und eine befristete Aussetzung der Luftangriffe zur Beförderung einer Verhandlungslösung forderte. Damit bekannten sich die Grünen weiterhin zu ihrer Mitverantwortung für eine möglichst schnelle Beendigung von Krieg und Vertreibung im Kosovo.

Hätte sich die Forderung nach einseitigem und bedingungslosen Bombardierungsstopp durchgesetzt, dann wäre das nach aller Erfahrung mit Milosevic auf das Zeichen hinaus gelaufen, ihm freie Hand zu lassen, den Kosovo endgültig und unwiderruflich von allen Kosovaren zu „säubern" und in weiteren Krisenregionen zu zündeln. Das hätten die große Mehrheit der Bundestagsfraktion und ich politisch nicht verantworten können und uns in einen scharfen Gewissens- und Loyalitätskonflikt gestürzt. Die realen Folgen eines solchen BDK-Beschlusses und des daraus resultierenden Koalitionsbruches wären für den Kosovo-Konflikt allerdings kontraproduktiv gewesen: Die NATO hätte deshalb keine Bombe weniger geworfen. Das serbische Regime wäre durch den Bruch in einem wichtigen NATO-Land eher ermutigt als zum Einlenken gebracht worden. Vor allem aber wären die spezifischen deutschen Bemühungen, mit Rußland und der UN eine Verhandlungslösung hinzubekommen, massiv geschwächt worden.

Die Reaktionen auf den Parteitag und den grünen Streit konnten kaum gegensätzlicher sein: Bewunderung für die Offenheit und das demokratische Wagnis der grünen Kosovo-Debatte war insbesondere auch bei Nichtgrünen zu hören. Nur die Grünen riskieren in der elementaren Frage von Krieg und Frieden eine Auseinandersetzung, die eigentlich alle Parteien führen müßten. Viel Anerkennung für die Art, wie unter schwierigsten Bedingungen Regierungsverantwortung wahrgenommen wurde. Das führte zu nicht wenigen Neueintritten. Auf der anderen Seite bei vielen Grünen und Friedensbewegten tiefe emotionale und politische Enttäuschung, Austritte - darunter etliche langjährige MitstreiterInnen aus der Friedensbewegung - und Schwüre, nie wieder grün zu wählen, Demotivation und innere Emigration. Der z.T. feindliche, ja gewaltbereite Antikriegsprotest in Bielefeld zeigt, daß für viele linke Antimilitaristen die Grünen inzwischen Feind Nr. 1 sind.

Erheblich sind die Verletzungen auf allen Seiten. Verhärtungen und Lagerbildungen, aber auch Verdrängung liegen nah, sind aber nur selbstzerstörerisch.

Nach Bielefeld muß es darum gehen, produktiv mit der Krise der Grünen umzugehen, Kommunikation und gemeinsame Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Erste Voraussetzung dafür ist der Versuch einer Selbstbesinnung über die bisherige Auseinandersetzung um die rotgrüne Kriegsbeteiligung und die Konsequenzen aus diesem ersten NATO-Krieg.

Aneinander vorbei

Auffällig war, wieviel in der Auseinandersetzung um den Kosovo-Krieg aneinander vorbei geredet wurde.

Bei den Unterstützern der Kriegsbeteiligung standen der großserbische Vertreibungskrieg, also die Legitimation der NATO-Luftangriffe, sowie die Bemühungen um eine politische Lösung im Mittelpunkt. Weniger thematisiert wurden die völkerrechtliche Problematik und die Glaubwürdigkeitsdefizite der NATO(-Staaten). Eher ausgeblendet blieben die bisher so ernüchternde bis verheerende Bilanz der Luftangriffe und ihre zivilen Opfer.

Die GegnerInnen des Regierungskurses konzentrierten ihre Kritik vor allem auf die Verstöße gegen Völkerrecht, Grundgesetz, 2+4-Vertrag, auf die verheerenden Folgen des NATO-Luftkrieges als erneuten Beleg für die Grundeinsicht, daß Krieg nie Konflikte lösen kann. Trotz mehr oder weniger deutlicher Verurteilung der großserbischen Vertreibungspolitik blieben hier die konkreten Erfahrungen mit dem Milosevic-Regime seit 1991, seiner kriminellen Energie und notorischen Vertragsuntreue weitgehend ausgeblendet.

Bei inzwischen 33 Kosovo-Veranstaltungen erfuhr ich äußerst gegensätzliche Umgehensweisen mit dem Krieg und der rotgrünen Beteiligung daran. Bei langjährig aktiven Friedensgruppen und in christlichen Zusammenhängen überwog die Nachdenklichkeit, blieb trotz kontroverser Haltung zum Krieg die Dialogfähigkeit und die Grundsolidarität von Friedensbewegung erhalten. Im Mittelpunkt stand die Suche nach Problemlösungen. Erheblich anders hingegen die Debattenstruktur bei solchen Veranstaltungen, an denen vor allem Menschen teilnahmen, für die Außen- und Friedenspolitik erst mit den NATO-Angriffen wieder zum Thema geworden war. Hier standen eher Fragen der eigenen politischen Identität und der Be- und Verurteilung der Grünen im Vordergrund, weniger die Fragen der Problemlösung. Der Diskussionsstil war oft unversöhnlich und von Massivvorwürfen wie „Verräter" und „Kriegstreiber" geprägt. Mehrfach erfuhr ich totale und persönliche Exkommunizierungen.

Programm-GAU und Realitätsschock

Die rotgrüne Kriegsbeteiligung offenbart eine schwindelerregende Rasanz in der Veränderung außen- und friedens-politischer Positionen bei uns Regierungs-grünen. Gerade Friedensbewegten drängt sich der Eindruck auf, daß diejenigen, die noch vor Jahresfrist die „Militarisierung der Außenpolitik" brandmarkten, diese nun auf die blutige Spitze treiben. Das ist kaum nachvollziehbar, weshalb einfache Erklärungsmuster von Opportunismus, Machtgeilheit und Verrat Konjunktur haben.

Tatsache ist, daß wir mit unserem außen-politischen Programm in der Realität der internationalen Krisenpolitik aufgeschlagen sind, wobei wichtige Programmteile in die Brüche gingen. Tatsache ist, daß wir die ganz anderen Handlungsbedingungen in der Regierungsbeteiligung nur unzureichend vermitteln konnten.

In der Bosniendebatte stritten die Grünen intensiv um die Rolle von Militär in der Außenpolitik. Mit den Ifor-/Sfor-Erfahrungen löste sich die bisherige kategorische Ablehnung jeder Form von Militäreinsätzen auf. Doch bei aller programmatischer Weiterentwicklung blieb das Verhältnis der Grünen zu Bundeswehr, NATO und militärischer Gewalt letztendlich ungeklärt und widersprüchlich. Die Wahrnehmung der Bundeswehr etc. blieb antimilitärisch geprägt, sie interessierte eigentlich nur als Objekt von Abrüstung und Spender der Friedensdividende. Eine umfassende Bestimmung der Rolle von Militär in der Außen- und Friedenspolitik erfolgte nicht. Schon die Frage der Landes- und Bündnisverteidigung wurde lieber ausgespart. Nicht thematisiert wurde, wieweit diese antimilitärische Grundhaltung überhaupt mit einer Regierungsbeteiligung in einem Staat wie der Bundesrepublik vereinbar ist.

Verkompliziert wurde die Situation dadurch, daß jenseits der Programmformulierungen die realen Einstellungen der bündnisgrünen WählerInnen zum Militär immer mehr auseinandergedriftet waren und kaum noch diskutiert wurden: prinzipieller Pazifismus und breite KDV-Haltung, in den 80er Jahren geprägte Anti-NATO-Positionen und Antimilitarismus, Sfor-Zustimmung (militärische „robuste" Friedensbewahrung), Militär als „Schützer, Helfer, Retter", Ablehnung und Zustimmung zur NATO-Osterweiterung.

Mit dem Koalitionsvertrag stimmte der Parteitag Bekenntnissen zu Bundeswehr und NATO zu und brach insofern mit der bisherigen antimilitärischen Grundhaltung. Damit war der Rubikon überschritten und z.B. die erstmalige Billigung eines Militärhaushaltes durch die Grünen vorprogrammiert. (Diese erfolgte im Mai, wobei auch die sieben KollegInnen, die in der Öffentlichkeit gegen die rotgrüne Kriegsbeteiligung kämpften, den „Kriegskrediten" zustimmten.) Allerdings erfolgte diese Klarstellung keineswegs aus Überzeugung und im Bewußtsein ihrer Konsequenzen. Sie wurde vielmehr von vielen als unvermeidbare „Kröte" hingenommen im Austausch zu grünen Primäranliegen und zu vielversprechenden Vereinbarungen zu einer vorbeugenden Friedenspolitik. Daß der außenpolitische Teil des Koalitionsvertrages unter Friedensorganisationen auf ein sehr geteiltes bis ablehnendes Echo stieß, bekamen wohl die AußenpolitikerInnen der Fraktion und Partei zu spüren. Die Partei insgesamt nahm die gewachsene Kluft zur restlichen Friedensbewegung aber kaum zur Kenntnis. Sie fühlte sich weiterhin auf beiden Seiten des Rubikon, verbunden im Wunschdenken, dass der Grenzfluß weiter ruhig und passierbar bliebe. Mit der Kosovo-Krise geschah das Gegenteil.

Außen- und Sicherheitspolitik waren im ganzen Wahlkampf praktisch kein Thema Sie wurden es auch nicht mit den Bundestagsbeschlüssen vom 16. Oktober (Androhung von NATO-Luftangriffen) und Februar 1999 (deutscher Beitrag zur Kosovo-Friedenstruppe als bisher größter und riskantester Auslandseinsatz) und der Verschärfung des Kosovo-Konfliktes. Mit den NATO-Bomben ab 24 März fiel uns die verdrängte Debatte auf den Kopf und brachte ein böses Erwachen.

Was tun, wenn Krieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor der Haustür stattfinden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist? Das grüne Programm sah einen solchen schlimmsten Fall nicht vor, erteilte aber zugleich - aus grundsätzlich guten Gründen - militärischer „Friedenserzwingung" und Kampfeinsätzen eine kategorische Absage.

Vom ersten rotgrünen Regierungstag an konfrontierte uns die Entwicklung des Kosovo-Konfliktes mit diesem Widerspruch. Wir mussten uns zu dem sich anbahnenden schlimmsten Fall eines „zweiten Bosnien" verhalten - und dabei das Risiko des Programmverstoßes eingehen. Ist das Verrat?

Wenn die Programmaussagen zu militärischen Kampfeinsätzen zum alleinigen Beurteilungsmaßstab genommen werden, dann ist das Urteil einfach, dann sind die Regierungsgrünen in der Tat „Verräter". Wenn hingegen der Grundwertekonflikt mit anderen Pro-grammaussagen (umfassendes Eintreten für die Menschenrechte) und die realen Bedingungen unseres politischen Handelns einbezogen werden, dann ist das Urteil schwieriger: Was haben die Bonner Grünen aus dem Regierungsauftrag gemacht, den ihnen die BDK im Oktober erteilt hatte, in Kenntnis (und damit Hinnahme) der Bundestagsentscheidung vom 16. Oktober, unter den Voraussetzungen des Koalitionsvertrages und des 6,7%-Wahlergebnisses. Was tat insbesondere der grüne Außenminister zur Kriegsverhinderung, zur friedlichen Streitbeilegung unter Beteiligung Russlands, zur Stärkung der Vereinten Nationen?

Die internationale und deutsche Öffentlichkeit, aber auch Friedensforscher kommen da zu einem diametral anderen Urteil als diejenigen, die ihn nun als „Kriegstreiber" beschimpfen. Bonn wurde zur Drehscheibe der diplomatischen Friedensbemühungen, Fischer-Plan und der im AA entworfene Stabilitätspakt Südlicher Balkan wurden zu ihrer Basis. Es gab keine andere Regierung, die sich im Widerspruch zur US-Position so stark und wirksam für die Einbeziehung Rußlands und der VN eingesetzt hätte. (vgl. Friedensgutachten 1999)

Welten zwischen den Erfahrungswelten

Trotz aller kommunaler Außenpolitik und Eine-Welt-Arbeit ist die Ebene internationaler Politik, insbesondere der Sicherheitspolitik  soweit von der Erfahrungs- und Handlungswelt der BürgerInnen und auch der meisten aktiven Grünen entfernt wie keine andere. In der Umwelt-, Verkehrs-, Wirtschaftspolitik erfahren wir seit vielen Jahren auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die Spannungen zwischen Programmforderungen und ihrer Umsetzung in Koalitionen und im Widerstreit der gesellschaftlichen Kräfte, eben Politik als Bohren dicker Bretter und Bemühen um schrittweise Veränderungen.

Wo wie auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik eigene realpolitische Erfahrungen fehlten, konnten sich am ehesten Fundamentalpositionen und gewisse Allmachtsphantasien halten. Dem steht eine reale Außenpolitik gegenüber, wo Handlungsspielräume durch die Vielzahl von Akteuren und internationale Verflechtungen besonders eingeengt sind, wo nationale Außenpolitik im Verbund der Partner gefragt ist und nationale Alleingänge schnell kontraproduktiv sind. Internationale Politik geschieht auf glattem und dünnem Eis und in seinen relevanteren Teilen unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

Die Frage der Anwendung von militärischer Gewalt, von Krieg und Frieden trifft gerade AnhängerInnen der Grünen in ihrer politischen Identität. Die Welten von Wunsch und Wirklichkeit, von Prinzipien und Politik im Alltag stoßen hier unvermeidbar und besonders schmerzhaft aufeinander.

Hinzu kommt der Bühnenwechsel von der Opposition zur Regierung: Jetzt bekommen wir unser reales politisches Gewicht und die auf dem Gebiet militärischer Sicherheitspolitik für Friedensbewegte besonders ungünstigen Kräfteverhältnisse zu spüren. Jetzt müssen wir mit unseren Zielvorstellungen im Hier und Jetzt unter den gegebenen Bedingungen agieren. Wir haben uns zu entscheiden zwischen realen Alternativen auf dem Tisch der internationalen Politik und ihren mutmaßlichen Konsequenzen. Dazu gehört die Frage: Wem nutzt unser Verhalten?

Versperrt sind den Mitregierenden die Möglichkeiten einer „leichten Opposition", die sich vor allem auf die Fehler der Vergangenheit („hätte man doch ...") oder das Wünschenswerte fixieren und der Schlüsselfrage nach den realen Handlungsalternativen ausweichen kann.

Mit der Frage nach den Alternativen sind Friedensgruppen und Basismitglieder überfordert Bundestags- und vor allem FraktionskollegInnen, die sich als Mit-glieder einer Regierungsfraktion nicht auf „leichte Opposition" zurückziehen können, müssen sich dieser Frage stellen.

Alternativen und Legenden

Als im März die Verhandlungsbemühungen gescheitert waren und die Realisierung der seit sechs Monaten bestehenden NATO-Luftangriffsdrohung bevorstand, konnte trotz aller Zweifel und Warnungen im Bundestag niemand reale Handlungsalternativen benennen.

Daß es im März Alternativen gegeben habe, wurde dann aber zunehmend im Nachhinein behauptet.

Der nachtäglich veröffentlichte militärische Anhang des Rambouillet-Abkommens wurde als Beweis gewertet, daß die Verhandlungen in Wirklichkeit nicht ernst gemeint gewesen seien und die serbische Ablehnung mit der Zumutung eines „Besatzungsstatuts" vorprogrammiert gewesen sei. Angesichts der fast wortgleichen Übereinstimmung mit den entsprechenden Regelungen des Dayton-Abkommens und der kategorischen Ablehnung der jugoslawischen Seite, in den Verhandlungen überhaupt über Sicherheitsfragen zu sprechen, ist das eine Fehlinterpretation. Diese hält sich nichtsdestoweniger hartnäckig - zu sehr entspricht sie offenbar einem „Erkenntnisinteresse", daß doch die NATO und nicht etwa Milosevic verantwortlich sein muß für den Beginn des NATO-Krieges.

Behauptet wird auch, Alternativen der zivilen Konfliktbearbeitung und nichtmilitärischer Sanktionen seien ungenügend versucht worden. Das stimmt voll und ganz für den Zeitraum 1989 bis Anfang 1998, als die internationale Gemeinschaft den Kosovo-Konflikt und den vorbildlichen gewaltfreien Widerstand der Kosovo-Albaner weitgehend ignorierte und politische Initiativen nicht zuletzt der Grünen im Bundestag ungehört verhallten. Über viele Jahre wurden so die Möglichkeiten der Krisenprävention nicht wahrgenommen. Das änderte sich erst mit dem Aufflammen der Kämpfe zwischen UCK und serbischen Kräften. Initiativen und Sanktionen (Waffenembargo, Investitionsboykott, Landeverbot) von UN und EU, Shuttle-Diplomatie, schließlich der relativ späte „Einstieg" der NATO und die bisher größte OSZE-Mission. Ein strategischer Fehler dabei war allerdings, daß noch zur Zeit der Kohl-Regierung im Sommer 1998 UN und Rußland immer mehr aus der Suche nach einer Konfliktlösung verdrängt wurden zugunsten der NATO.

Seit Jahren insistieren wir darauf, angesichts drohender Gewaltkonflikte die Möglichkeiten von Krisenprävention und ziviler Konfliktbearbeitung auszuschöpfen, vor allem aber erst einmal aufzubauen. Gerade weil wir auf den Primat von nichtmilitärischer Konfliktlösung setzen, können wir aber nicht die sehr unterschiedliche Wirksamkeit und Reichweite ihrer verschiedenen Maßnahmen ignorieren. Friedensfachkräfte im Rahmen eines Zivilen Friedensdienstes tragen vor allem zum langfristigen gesellschaftlichen „Friedensschaffen" bei, zur Förderung von Zivilgesellschaft von unten. Sanktionen wie Embargomaßnahmen müssen sehr zielgenau sein und brauchen Zeit, um wirksam zu werden. Bei innerstaatlichen Konflikten trafen Wirtschaftsembargos oft statt der Machthaber vor allem die Zivilbevöl-kerung. Ihre größten Nutznießer sind „neue Politunternehmer" und die organisierte Kriminalität. Das sehr sinnvolle Druckmittel eines Ölembargos setzt eine Seeblockade voraus, also eine ausdrückliche militärische Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der UN-Charta. Ihr besonderes Risiko ist, daß diese sich auch gegen Neutrale, zum Beispiel gegen russische oder ukrainische Öllieferanten richten würde.

Die Instrumente ziviler und nichtkriegerischer Konfliktbearbeitung sind enorm ausbaufähig. Doch Alleskleber und -könner sind sie keineswegs, zumal dann nicht, wenn ein Konflikt extrem und gewaltförmig zugespitzt ist bzw. Konfliktparteien ohne alle Skrupel völker-mörderische Ziele verfolgen. Falsche Erwartungen schaden da nur.

Seit Regierungsantritt von Rotgrün versucht die PDS sich als letzte Aufrechte und Bannerträgerin von Pazifismus und Antimilitarismus zu profilieren. Zur Europawahl plakatiert sie z.B. „In einer Frage gibt es keine Kompromisse: Du sollst nicht töten. FRIEDEN" und „Europa schaffen ohne Waffen". Das mag angesichts des hohen Mitgliederanteils von nostalgischen Ex-NVA-Militärs in der PDS glauben, wer kann. Bemerkenswert sind allerdings ihre „antimilitaristischen" Forderungen zum Kosovo: Keine Bundeswehr zur Unterstützung der Flüchtlingshilfe nach Albanien, keine Bundeswehrbeteiligung an der Kosovo-Friedenstruppe, statt dessen Abzug aller Bundeswehrkontingente vom Balkan. (PDS-Entschließungsantrag vom 7. Juni 1999) Angesichts der Tatsache, daß die Bundeswehr ein unverzichtbarer und bedeutender Bestandteil der Waffenstillstandsabsicherung in Ex-Jugoslawien ist, laufen diese Forderungen auf die Destabilisierung der Region, auf Kriegsförderung hinaus. Wer sowas als „Antimilitarismus" verkauft, leistet jedem ernsthaften Antimilitarismus einen Bärendienst.

Altlasten und Neuaufbau

Gewünscht hätten wir uns, nach Regierungsantritt erst einmal die bisher so sträflich vernachlässigten Elemente von Krisenprävention und ziviler Konfliktbearbeitung aufbauen und so künftigen Kriseneskalationen wirksam entgegenwirken zu können.

Doch die übernommenen Altlasten, die reale Entwicklung des Kosovo-Konflikts knallten uns vom ersten Tag an auf den Regierungstisch. Wie im Schlimmen das Schlimmere verhindern, wie das Kriegsfeuer eindämmen und löschen? Das waren die dominierenden und absorbierenden Schlüsselfragen der bisherigen Regierungsmonate.

Der Aufbau des „vorbeugenden Brandschutzes" wurde dennoch angegangen: die Ausbildung von Friedensfachkräften und Experten für internationale Friedensmissionen durch BMZ und AA (Ziviler Friedensdienst), die Stärkung der OSZE und der UN (Vereinbarung eines stand-by-Kontingents der Bundeswehr für friedensbewahrende Einsätze), die verstärkte Orientierung der Entwicklungszusammenarbeit auf Krisenprävention, der Wiedereinstieg in die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung, die Effektivierung der Instrumente nicht-militärischer Sanktionen. Diese praktischen Schritte zur Stärkung einer vorausschauenden und vorbeugenden Friedenspolitik sind nach Jahren friedens-politischer Dürre ausgesprochen hoffnungsvoll. Aber sie brauchen noch erheblich Zeit und Anstrengung, um mehr als Tropfen auf die heißen Steine der vielen Krisengebiete zu werden. Der Haushalt 2000 wird die Bewährungsprobe bringen, ob Rotgrün es wirklich ernst damit meint oder nur ein friedenspolitische Spielwiese für die entsprechende Klientel eröffnet hat.

Die Wahrnehmung der neuen Ansätze wird völlig überschattet von der aktuellen Kriegspolitik - und beeinträchtigt von einem auffälligen Desinteresse an konstruktiver Friedensarbeit und -politik. Dieses Desinteresse erfahre ich seit Jahren nicht nur bei den Medien, sondern auch bei Antimilitaristen und Grünen. Bei aller Lautstärke des verbalen Pazifismus und Antimilitarismus während der Bosnien-Debatte blieben die kleinen Gruppen des praktischen Pazifismus trotz vieler Aufrufe ohne breitere Unterstützung. Das droht sich bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung zu wiederholen.

Geschichtslosigkeiten und Wegsehen

Die Zustimmung der grünen Fraktionsmehrheit zur Androhung von NATO-Luftangriffen im Oktober führte vor allem zu Protesten aus den Reihen der verbliebenen Friedensbewegung. Ein umfassender, auch die grüne Basis ergreifender Protest setzte mit dem NATO-Krieg am 24. März ein. Große Teile des Antikriegsprotestes erweckten den Eindruck, als hätte der Krieg im Kosovo erst zu dem Zeitpunkt begonnen. Der Ursprungskrieg, der rassistische Vertreibungskrieg gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung seit Februar 1999 und sein „Probelauf" vor einem Jahr, wurde auffällig wenig erwähnt und bei Kundgebungen oft nur in Art einer Pflichtübung verurteilt. Beispielhaft dafür ist die Erklärung von „Erziehungswissenschaftlern zum Jugoslawienkrieg und seinen Folgen", die eine angebliche „ideologische, z.T. verhetzende Aufrüstungskampagne von Bundesregierung und Massenmedien gegen Serbien" anprangert, zum Schicksal der Kosovo-Albaner aber „mitleidlos schweigt". (Micha Brumlik)

Keine Rolle spielen in der Regel die Erfahrungen der acht Jahre Krieg und Nichtfrieden in Ex-Jugoslawien, die Erinnerungen an die früheren „ethnischen Säuberungen", das Schicksal der UN-„Schutzzonen" in Bosnien, die Selektionen und Massaker von Srebrenica, den militärisch erzwungenen Waffenstillstand von Dayton, die unverzichtbare Rolle von Sfor (und damit der NATO und Bundeswehr) bei der Wahrung des Waffenstillstandes ...

Ich „erlebte" das nachträglich im Herbst 1996 am Hang oberhalb Sarajewos. Von dort hatten jahrelang serbische Belagerer die Menschen unten in der Mausefalle abgeschossen. Dort spürte ich als menschlichen und europäischen Verrat, was die Staaten, was auch wir als Opposition zugelassen hatten. (vgl. „Die Reise der Grünen durch Bosnien und das Gelöbnis von Banja Luka: Rumrutschen in der Mausefalle", SZ vom 28.10.1996)

Deutlich und glaubwürdig verurteilen die meisten grünen Gegner des NATO-Krieges den serbischen Vertreibungskrieg. Als aber Angelika Beer auf der BDK einen Bericht über Massenerschießungen im Kosovo zitierte, schrie ihr ein Delegierter dazwischen „hör auf mit dem Scheiß, das kennen wir doch reichlich von Scharping!" Das war symptomatisch für eine verbreitete Stimmung: Selbstverständlich ist man gegen die Vertreibungen. Aber im Mittelpunkt der Wahrnehmung, der Kritik und Forderungen steht der NATO-Krieg. Begünstigt wird das durch eine breite, noch stark in den 80er Jahren geprägte Anti-NATO-Haltung und das Bild des Krieges heute.

Dieses wird auf Dauer vor allem durch Fernsehbilder geprägt: von den Flüchtlingsmassen in Albanien und Mazedonien, von den zivilen Opfern und Zerstörungen auf serbischer Seite - den Brücken, Fabriken, Wohnhäusern, Krankenhäusern. Zerstörungen militärischer Objekte sind nur als unwirkliche NATO-Videos zu sehen. Unbebildert, praktisch unsichtbar bleibt der Vertreibungskrieg mit seinen Grausamkeiten. Der ist wohl durch die Aussagen von weit über tausend Flüchtlingen gegenüber OSZE und UNHCR breit dokumentiert und belegt. Aber es sind nur Wortberichte, die relativ abstrakt bleiben - und die viele in ständiger Wiederholung aus dem Mund sich legitimierender Minister immer weniger hören können. So wächst sukzessive ein Bild des Krieges, wo die NATO zum Haupttäter wird.

Ich stelle mir vor, die heutige Mediengesellschaft hätte es schon 1942 ff. gegeben: mit vom Großdeutschen Rundfunk täglich gelieferten Bildern von bombardierten deutschen Städten, aus Köln, Hamburg; mit bloßen Wortberichten ab und zu aus Polen und der Sowjetunion über unglaubliche Kriegsverbrechen - wie hätte darauf die westliche Öffentlichkeit auf Dauer reagiert?

Dass dieser seit Jahren vor unseren Augen stattfindende Konflikt unter Friedensbewegten, Antimilitaristen und Grünen so diametral unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet wird, daß ich sogar beim eigenen Kreisverband trotz meiner ständigen Informationsangebote soviel Erinnerungslosigkeit und Wegsehen erlebe, macht mich ratlos, ja verzweifelt.

Moralkeulen und Schlussstriche

Um den serbischen Vertreibungsterror zu brandmarken, stellten vor allem Regierungsmitglieder Bezüge zum Nationalsozialismus her. Scharping sprach von KZ`s im Kosovo, Fischer von der Verhinderung eines neuen Auschwitz. Diese Parallelisierungen wurden inzwischen zurückgenommen. Sie waren sachlich falsch und kontraproduktiv. Der serbische Vertreibungsterror ist für sich schlimm genug, er steht in der blutigen Kontinuität vieler anderer „ethnischer Säuberungen" im Europa des 20. Jahrhunderts und bedarf keiner historischen „Überhöhung". Aber offenbar ist der NS-Bezug verführerisch: Er spricht Grüne, Linke, Antimilitaristen an dem Punkt an, wo die meisten ihre historische Ausnahme vom Gewaltverbot machen und damit zumindest die Möglichkeit einräumen, daß militärische Gewalt legitim und notwendig sein kann. Der NS-Bezug drängt zugleich grundsätzliche Gegner des NATO-Krieges ins politisch-moralischen Abseits und läßt Kritik als moralisch „verboten" erscheinen. So wird er zur Moralkeule.

Vergleiche mit dem NS-Terror stehen unter dem Risiko, einer Relativierung des Nationalsozialismus Vorschub zu leisten.

Auf vielen Veranstaltungen habe ich aber inzwischen erfahren müssen, daß vielen Gegnern des NATO-Krieges jeder Bezug zu NS-Herrschaft und 2. Weltkrieg als „Relativierung des NS" erscheint, wo schon die Benennung von Ähnlichkeiten, die ich zwischen dem heutigen Vertreibungskrieg und dem Vorgehen der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD in Polen 1939/40 sehe, auf massiven Protest stößt. Eine solche pauschale Abwehrhaltung schneidet die historischen Erfahrungen mit der NS-Herrschaft von der Gegenwart ab, zerstört das „Den Anfängen wehren!" als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und läuft auf eine neue Art von Schlussstrich-Mentalität hinaus. So wird dann möglich, daß auf einer Antikriegskundgebung am 8. Mai in Münster statt vom „Tag der Befreiung" nur noch von der „Einstellung der Kampfhandlungen vor 54 Jahren" die Rede war. Und ausgerechnet an diesem Tag sprach eine DFG-VK-Rednerin den pazifistisch korrekten Satz „Krieg ist niemals ein humanitärer Akt. Denn im Krieg werden Soldaten zu Mördern." Heißt das, daß Europa von Mördern befreit wurde? Die Pauschalbeleidigung der alliierten Soldaten stieß auf keinerlei Widerspruch.

Besonders widersprüchlich wird der Antikriegsprotest dort, wo er zugleich maßlose Vereinfacher und Relativierer in den eigenen Reihen machen läßt, zum Beispiel mit den Gleichsetzungen von 1914, 1941 und 1999. Ein Mitinitiator des Offenen Briefes an Fischer und Scharping, in dem diesen eine „neue Art der Auschwitz-Lüge" vorgeworfen wurde, tut sich seit Jahren damit hervor, berechtigte Kritik am Alltag der militärischen Traditionspflege zur Behauptung einer Kontinuität zwischen NS-Wehrmacht und Bundeswehr aufzublasen.

Die wechselseitigen Instrumentalisierungen der Nazizeit für gegenwärtige politische Zwecke sind deprimierend. Sie lassen am Sinn der Erinnerungsarbeit der letzten Jahre (ver-)zweifeln.

Regierende Unglaubwürdigkeiten

Der Anspruch der NATO, „Luftoperationen für die Menschenrechte" zu führen, war von vorneherein nicht besonders glaubwürdig, auch nicht, wenn es aus grünem Mund verkündet wurde. Der Aufwand an legitimatorischem Pathos machte viele mißtrauisch.

Zu offenkundig ist die Doppelmoral der NATO-Staaten, die in Sachen Türkei/ Kurdistan und vielen anderen menschen-rechtlichen Notstandsgebieten kaum einen Finger rühren oder gar auf der anderen Seite stehen.

Zu offenkundig sind auch die Interessen einiger maßgeblicher NATO-Staaten, die Vormachtstellung der NATO vor allen anderen Systemen kollektiver Sicherheit auszubauen und sie zu einem Hilfsweltpolizisten der USA zu machen. Daß die NATO nach sechs Monaten Drohung im März unter enormem Glaubwürdigkeits- und Handlungsdruck stand, daß es Erwartungen gab, noch vor dem Washingtoner 50. Geburtstag die Kraft der „neuen NATO" unter Beweis zu stellen, spielte unzweifelhaft eine erhebliche Rolle.

Das heißt aber keineswegs, daß die NATO-Intervention eine imperialistische Aggression gegen den letzten Nicht-NATO-Bewerber und „Schurkenstaat" in Europa wäre, wie es so manche wieder-auferstandene NATO-Gegner unterstellen. Das Primärinteresse hinter der Kosovo-Politik der Staatengemeinschaft und der NATO-Intervention ist die Stabilisierung der Region, in der durch die fortgesetzte Politik „ethnischer Säuberungen" der serbischen Führung ein grenzüberschreitender Flächenbrand droht.

Viel Moral soll viel Massenzustimmung bringen. In Teilen der Medien geriet die notwendige Kennzeichnung von Milosevic als Großkriegsverbrecher aber zu einer regelrechten Dämonisierung des Diktators und der Serben insgesamt.

Die Grünen treten gerade in dieser Zeiten der Propaganda und Desinformation für eine glaubwürdige Politik ein. Diese setzt Nüchternheit und Offenheit voraus - vor allem in Hinblick auf die Art der Kriegführung und ihre Ergebnisse.

Anfänglich war der Charakter des Doppelkrieges eindeutig: Die serbischen bewaffneten Kräfte führten einen Vertreibungs- und Vernichtungskrieg gegen die UCK, vor allem aber gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung. Die Kriegführenden brachen systematisch und von Anfang an das Kriegsvölkerrecht. Der Vertreibungskrieg erfüllte die Tatbestände der Völkermordkonvention von 1948. Die NATO führte Krieg gegen die Vertreibungskräfte und ihre Quellen. Damit hatte die NATO lange Zeit keinen Erfolg, im Gegenteil. Der Vertreibungskrieg nahm ungeahnte Ausmasse an. Während die NATO weiter an ihrer ersten Einsatzregel „keine eigenen Verluste" festhielt und den Luftkrieg aus Distanz führte, löste sie sich immer mehr von der zweiten Einsatzregel „Vermeidung ziviler Opfer". Auch wenn die Vorstellung eines „chirurgischen Krieges" Illusion und der Anteil der „Fehlschüsse" am Gesamtbombardement vergleichsweise „gering" war, so wurde doch jeder ungewollte „Begleitschaden", vor allem aber die systematische Bombardierung der zivilen Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen (Strom, Wasser) als Angriff gegen das serbische Volk insgesamt verstanden.

Diese Ausweitung der Kriegführung sprengte jede Verhältnismäßigkeit der Mittel, sie nahm das serbische Volk in Geiselhaft und verstieß damit gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht. (Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte) Sie zerstörte mehr und mehr die Legitimation der NATO-Intervention. Eine solche Kriegsausweitung ist durch nichts zu rechtfertigen und macht eine Rückkehr zum Frieden in der Region immer schwerer.

Die zivilen Opfer der NATO-Luftangriffe empfinde ich als besonders unerträglich. Denn für die NATO-Bomben bin ich als grünes Mitglied des Verteidigungsausschusses mitverantwortlich, es sind gleichzeitig „meine Bomben". Deshalb wuchs mit den Kriegswoche der Druck, aus dieser Mitverantwortung auszusteigen. Doch was wäre die Konsequenz gewesen? Das Gewissen wäre befreit von der Last der Mittäterschaft, mehr nicht. Zurück wäre ich in der relativen Ruhe des Gewissens, das sich schon lange an das Wegsehen durch Fernsehen gewöhnt hat.

Kriegsillusionen und -realitäten

Die Sicht auf die Wirklichkeit des Kosovokrieges wurde und wird beeinträchtigt durch falsche Erwartungen, durch selektive Information und Wahrnehmung, durch Propaganda und nicht zuletzt durch die generelle Unberechenbarkeit von Kriegen.

Es fing an mit der parlamentarischen Kontrolle der NATO-Strategie. Die Strategie der „begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe" wurde im Vorfeld der Bundestagsentscheidung vom 16. Oktober auf parlamentarischer Ebene keineswegs systematisch durchdiskutiert. Der mögliche Krieg wurde nicht gedacht. Im Mittelpunkt stand die Legitimation des Zweckes, die Notwendigkeit der Drohung. Kaum geprüft, geschweige offen diskutiert wurde die Rationalität der Ziele und Funktionalität der Mittel.

Als schließlich im März die NATO-Kriegsmaschinerie anlief, gab es Unterrichtungen im Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschuß und eine Bundestagsdebatte. Das war`s dann aber. Angesichts der Frage, was passieren würde, wenn Milosevic nicht einlenkte, fanden wir uns mit der allgemeinen Ratlosigkeit ab, der worst case wurde kollektiv verdrängt bzw. mit „keine Spekulationen!" abgetan. Die Frage nach der möglichen Dauer der Luftangriffe - Tage, Wochen, Monate - , nach ihren Wirkungsmöglichkeiten und Risiken wurde nicht gestellt. Eine klare, systematische und vor allem ehrliche Strategiedebatte unterblieb weiterhin. Trotz allen Wissens um die begrenzten „Erfolgsaussichten" von Luftangriffen herrschte die aus den Erfahrungen mit Milosevic und Wunschdenken erwachsene Erwartung vor, in wenigen Tagen werde es vorbei sein. Die grundsätzliche Unberechenbarkeit von Kriegen war nicht präsent.

Als das nicht funktionierte, als die serbischen bewaffneten Kräfte im Gegenteil Tempo und Brutalität ihres Vertreibungsfeldzuges enorm steigerten und die NATO zur Strategie der „Abnutzung" des serbischen Gewaltapparates überging, da hielt sich dennoch in der Öffentlichkeit die Hoffnung, der NATO-Krieg könne „chirurgisch", „sauber" und schnell geschehen.

Doch die Wirklichkeit des Krieges bleibt trotz aller Präzisionswaffen blutig und schmutzig. Jedes militärische Eingreifen in einen laufenden Krieg führt unweigerlich zunächst zu einer Ausweitung und Eskalation der Auseinandersetzungen. Die Widersprüche eines begrenzten Luftkrieges, eines „Krieges ohne Kampf", der keine eigenen Opfer kosten und direkte zivile Opfer der anderen Seite vermeiden sollte, waren kaum bewußt: Die vermehrte Gefahr von „Fehlschüssen" bei einer Angriffshöhe von mindestens 5.000 m; die Möglichkeit für die serbischen bewaffneten Kräfte den Krieg mit der NATO zu verweigern und ihn durch einen verschärften Vertreibungskrieg gegen Zivilisten zu unterlaufen; die durch die Restriktionen und das Wetter verursachten zeitlichen Verzögerungen gegenüber der ursprünglichen Planung; der Widerspruch zwischen der im technischen Sinne begrenzten Kriegführung und den immer unbegrenzteren Kriegsfolgen.

Ob die NATO nach inzwischen mehr als zehn Wochen Luftangriffen den serbischen Gewalt- und Machtapparat tatsächlich geschwächt hatte, ob dieser kurz vor dem Auseinanderbrechen stand oder weitgehend unbeeindruckt blieb, konnte ich auch als Mitglied des Verteidigungsausschusses nicht fundiert beurteilen. Die Hinweise auf die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der serbischen Armee im Kosovo, ihre Nachschub- und Rekrutierungsprobleme sowie hohe Desertionsraten wurden uns Woche für Woche präsentiert. Sie änderten aber kaum etwas an unserer erschreckenden Uninformiertheit. Zur Kriegszeit waren und wurden wir deutlich schlechter informiert als zu normalen Zeiten. Extrem erfuhren wir das in Sachen uranabgereicherter Munition.

Ende Mai meldete die NATO Tag für Tag neue Angriffsrekorde, während sich zugleich die Stimmen für den Bodenkrieg vor allem in Großbritannien und den USA mehrten. Die militärische Eskalation wurde immer gefährlicher. Aber auch jetzt gab es nur wenig offene Diskussion, sondern von Regierungsseite nur das Sekundärargument, ein Bodeneinsatz sei in der Bundesrepublik nicht durchsetzbar. Dabei lagen die verheerenden Aussichten eines Bodenkrieges auf der Hand: Auch bei massiver Überlegenheit der Invasoren hätte er zwangsläufig zu einem Partisanenkrieg und damit zu enormen Opfern und weiteren Zerstörungen führen. Vor allem aber wären die Konsequenzen in Rußland katastrophal gewesen. Noch mehr Auftrieb für die reaktionärsten antiwestlichen Kräfte von links und rechts, Erkaltung des Verhältnisses zwischen Rußland und dem Westen, demgegenüber der Kalte Krieg dann vielleicht ein Traum an Stabilität gewesen wäre.

Daß alle Fraktionen im Bundestag den Bodenkrieg als Irrweg ablehnten, war gut. Aber es reichte nicht. Denn auch ein nur von USA, Großbritannien, Frankreich und anderen getragener Bodenkrieg wäre - nur weil es noch keine deutschen Toten gegeben hätte - nicht minder verantwortungslos gewesen. Angesichts dieser Eskalationsgefahren bot die Forderung nach einer befristeten Aussetzung der Luftangriffe eine sinnvolle und realistische Alternative. Ausgehend von dem Verständnis, daß ein Krieg eben kein „Tauziehen" zwischen den Militärs beider Seiten ist, sollte sich dieses Signal der Verhandlungsbereitschaft vor allem an die serbische Bevölkerung und Milosevic-kritische Kräfte und an Rußland richten, weniger an den jugoslawischen Präsidenten selbst. Diesem sollte es aber zumindest die Option eines Auswegs eröffnen.

Winfried Nachtwei