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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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Rückzug aus der Verantwortung? Der überfällige Vollbericht meiner 17. Afghanistanreise

Veröffentlicht von: Nachtwei am 28. Dezember 2012 18:12:03 +01:00 (54523 Aufrufe)

Meine letzte Afghanistanreise liegt schon eine Weile zurück. Nach dem Kurzbericht "Es gibt Chancen" hier endliche der umfassende Bericht (mit Aktualisierungen) zu Sicherheitslage, Übergabe (Transition) + Redeployment, Aufbau + Entwicklung, Polizeiausbildung (RPTC, GPPT), Rule of Law, aktuellen Schlussfolgerungen. Kritiken oder Ergänzungen bitte an winfried@nachtwei.de

Bericht von der 17. Afghanistanreise

Rückzug aus derVerantwortung? (Vollbericht)

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (12/2012)

Nach dem Kurz-Reisebericht vom Mai kommt erst jetzt der Vollbericht. Das bitte ich zu entschuldigen. Aber immerhin gingen die Reiseerkenntnisse u.a. in 22 Afghanistanvorträge ein, die ich zwischenzeitlich hielt. Trotz mancher Veränderung vor Ort macht der Vollbericht immer noch Sinn. Außerdem habe ich nach 13 Reiseberichten eine Chronistenpflicht. Mehrfach sind Aktualisierungen eingefügt.

Anfang Mai 2012 hatte ich nach einem Jahr Unterbrechung endlich wieder die Möglichkeit eines Afghanistanbesuches. Vor Monaten hatte ich Minister de Maizière daraufhin angeschrieben. Er hatte bezüglich logistischer Unterstützung grünes Licht gegeben. Dankenswerterweise nahmen mich die rheinland-pfälzischen Grünen-MdB Dr. Tobias Lindner (Haushaltsausschuss) und Tabea Rößner (Ausschuss für Kultur und Medien) in ihre erste Delegationsreise nach Afghanistan auf. Vierter im Bunde war Steffen Buchsteiner, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Tobias. „Allein" blieb ich noch zwei weitere Tage vor Ort. Ich danke herzlich meinen Gastgebern und Unterstützern.

In Kunduz standen auf dem Programm Unterrichtungen/Gespräche im PRT Kunduz: Kommandeur, Vertreter von BMZ und German Police Project Team (GPPT); Task Force Kunduz; Vertrauensleute zu Betreuungseinrichtungen; individuelle Gespräche mit Diplomaten, Polizisten, Soldaten.

In Mazar-e Sharif ISAF RC North, Stab; Einsatzgeschwader Mazar; Mitarbeiter des Senior Civilian Representative; Public Affairs Officer; Fernmelde-Kompanie; US-Zeppelin PTDS; Wasseraufbereitung; 209. ANA-Korps und deutsche Militärberater (Operational Mentor + Liaison Team OMLT); GPPT und Police Training Center; Teacher Training College; GIZ-Alphabetisierungsprojekt; Abend mit 20 deutschen EZ-MitarbeiterInnen.

Da keine politischen Gespräche auf dem Programm stehen, kommen auch zentrale politische Themen wie Verhandlungsprozess („Reconciliation"), innenpolitische Lage, regionale Konfliktlösung (Pakistan, Istanbulprozess), Zukunft von UNAMA kaum zur Sprache. Bei früheren Reisen erbrachten politische Gespräche in der Regel am wenigsten Hoffnung und am meisten Skepsis.

Annäherung

Der Start des Bundeswehr-Airbus in Köln-Bonn verzögert sich um 23 Stunden. Umweg und Zwischenlandung inmitten der Steppe in Astana, der Hauptstadt von Kasachstan, wo ein Musikkorps der Bundeswehr aussteigt. Das neue Flughafengebäude ist von der unterschiedslosen Internationalität solcher Stationen. Das Land am Boden zeigt sich nur in den Souvenirshops. Los geht es aber mit den ersten Zufalls(wieder)begegnungen: ein Presseoffizier, dem ich zuletzt in der Fußgängerzone von Münster begegnete; zwei Frauen, die für einen Spielfilm in Afghanistan recherchieren; ein ehemaliger Interkultureller Einsatzberater aus Kunduz; ein höherer Offizier, der auch an Sitzungen des Beirats Zivile Krisenprävention des AA teilgenommen hatte.

In Kunduz wie in Mazar führen die ersten Wege zu den Ehrenhainen: Mauern, in die Plaketten mit den Namen der hier gefallenen deutschen und verbündeten Soldaten eingelassen sind. Viele Namen sind mir bekannt, mit den jeweiligen Anschlägen und Gefechten, mit den Trauerfeiern für sie in Zweibrücken, Seedorf, Regen, Hannover, Detmold Was bisher ein stilles Gedenken war, wird in Mazar zu einer kleinen Andacht mit zwei Militärgeistlichen. Wenige Tage zuvor fand eine Hinterbliebenenreise statt. Zwei junge Witwen von im April 2010 gefallenen Soldaten, begleitet von Birgitt Heidinger, Beauftragte des BMVg für Familie und Dienst/Hinterbliebene, besuchten die Orte, wo ihre Männer zuletzt eingesetzt waren. An dem Black-Hawk-Hubschrauber, der vor zwei Jahren den schwerst-verwundeten Hauptfeldwebel Nils Bruns ins PRT geflogen hatte, trafen sie zufällig auch den US-Piloten von damals.

KUNDUZ

PRT Kunduz: Insgesamt sind auf dem PRT-Gelände 2.040 Personen stationiert, davon ca. 1.400 Deutsche. Diese setzen sich zusammen aus ca. 500 Soldaten des PRT, 120 Soldaten im Rahmen der OMLT, über 600 der Task Force Kunduz, zusätzlich Task Force 47 (Spezialkräfte). Das Auswärtige Amt ist mit acht MitarbeiterInnen vertreten, das German Police Project Team umfasst 24 Beamte. Die EZ-MitarbeiterInnen leben und arbeiten richtigerweise außerhalb des PRT. Im PRT ist „nur" die BMZ-Vertreterin, die dank ihres afghanischen Hintergrundes und ihrer langen Präsenz vor Ort ganz besonders orts- und menschenkundig ist. Das niederländische Kontingent umfasst 320 Personen.

Ursprünglich sollte in diesen Monaten das PRT Kunduz in zivile Leitung übergehen - wie zuvor in Feyzabad. Aber es habe Widerstände vom BMVg gegeben. Nun solle die Leitungsübergabe Ende des Jahres erfolgen.

Bilateral heißt es von ziviler Seite, dass die Ressortzusammenarbeit ganz in Ordnung sei. Allerdings gehe man als Zivilist in der Masse der Militärs etwas unter. Die „gleiche Augenhöhe" sei für Militärs auch etwas schwierig. Es gebe gelegentlich eine Neigung zur Vereinnahmung.

Aktualisierung: Am 15. November ging das PRT Kunduz in die zivile Leitung eines AA-Diplomaten über. Bisher bestand der Anspruch einer militärisch-zivilen Doppelspitze. Der militärische Anteil heißt jetzt Unterstützungsverband Kunduz. Ich erinnere mich, dass Militärs vor Ort schon vor zwei Jahren auf eine zivile Leitung drängten. Sie wollten, dass der Primat der Politik nicht nur in Berlin betont, sondern auch vor Ort wahrgenommen würde. Nach allen Erfahrungen mit militärisch-zivil-polizeilicher Zusammenarbeit in den letzten neun Jahren ist die zivile Leitung eines PRT eine ganz besondere Herausforderung. Es ist Neuland.

 

Militärische Lage

Im ersten Quartal gab es in der Provinz 140 Sicherheitsvorfälle, in ganz 2011 waren es 828. Sorgen bereiten die Distrikte Archi, Aliabad und das nördliche Chahar Darreh. Hauptangriffsmittel der Aufständischen sind Sprengfallen (IED). Hauptziele sind Polizeichefs und ähnliche Autoritäten. Bei einem Angriff auf den Kommandeur der Polizeispezialeinheit kürzlich in Kunduz überlebte er wohl. Seine Tochter wurde aber schwer verwundet.

Insgesamt fühlen sich die Menschen sicherer, habe sich die Bewegungsfreiheit verbessert. Allerdings: Bei Vergleichen kommt es auf das Vergleichsjahr an: Gegenüber 2010 ist die Verbesserung auffällig - aber das war auch das schlimmste Jahr. Besser als 2008 sei die Lage noch nicht. Das Afghanistan NGO Security Office (ANSO) komme auch zu einer skeptischeren Bewertung der Sicherheitsentwicklung. (vgl. meine aktuelle Übersicht Sicherheitsvorfälle in Afghanistan Nord und landesweit 2012, bis 22. Mai, www.nachtwei.de/index.php/aricles/1142 )

Aktualisierung: Der 3. Quartalsbericht 2012 von ANSO vom Oktober meldet für die Provinz Kunduz einen Rückgang der Aufständischenattacken um 27% auf 132 ggb. 180 im Vorjahrszeitraum.

Im Fokus der militärischen Operationsführung steht weiterhin der strategisch bedeutsame Nord-Süd-Korridor. Die TF Kunduz steht im Südwesten der Provinz, ein US-Bataillon in Imam Shahib im Norden (es schrumpft demnächst). Die Niederländer unterstützen die Polizeiausbildung in Kunduz, Khanabad und später Archi. Der PRT-Kommandeur als Raumverantwortlicher ist für die Koordination der Kräfte verantwortlich. Er selbst verfügt nur noch über begrenzte eigene militärische Kräfte. Die drei CIMC-Teams bestehen aus je einem Offizier, einem Unteroffizier. Im Keyleaderboard fließen verschiedene Elemente der zivilen Lage zusammen.

Der Kommandeur ist fast täglich draußen. Alle ca. sechs Wochen geht es in die Distrikte, Essen und Gespräche mit ca. 30 Personen, lokalen Autoritäten, am Samstag z.B. nach Imam Shahib, wo die US-Kräfte abziehen und die Niederländer hinkommen.

In Taloqan/Takhar wurde das Provincial Advisory Team (PAT) aufgelöst, am 29. Februar auch die Außenstelle Taloqan der deutschen Botschaft geschlossen. Jetzt sei nur noch ein AA`ler dort und EZ. Noch bestehe persönlicher Kontakt zum Gouverneur. Aber das werde irgendwann auslaufen. Damit wird auch das Lagebild zu dieser zwischen Kunduz und Badakhshan gelegenen Provinz immer gröber und oberflächlicher. Zu bedenken sei aber, dass das kleine PAT vorher eher ein Anlaufpunkt war und nicht sonderlich zur Sicherheit der Provinz beigetragen hätte. Die Afghanen würden hier ihre Angelegenheiten im Wesentlichen selbst klären.

Task Force Kunduz: „Es kommt auf jeden an!"

Die TF besteht aus zwei Infanteriekompanien, einer Pionier-, einer Aufklärungs- und einer Kompanie für verschiedene Teilfähigkeiten. Die TF verfügt über keine Reserven. 80% der Task Force stammt aus der Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern", 51% aus dem PzGrenBtl 411. Seit April 2011 wurde die Truppe zusammengeführt.

Auftrag ist die Unterstützung der afg. Operationsführung und der Ausbildung der Sicherheitskräfte durch Niederlande u.a. Hauptbedrohungen sind IED`s.

Einsatzraum ist vor allem das nördliche Chahar Darreh (die ANA im Süden des Distrikts) und Aliabad (LOC Pluto). Die Verbindungsstrecken (Lines of Communication, LOC) sind die Lebensadern. Die LOC Kamins, Hauptverbindungsstrecke durch Chahar Darreh, ist einer breiter Feldweg. Manche LOC ist gut bewacht. Anderswo kann es 6 Stunden für einen Kilometer brauchen.

Partner sind ANP, ANA und dt. Berater der 2. Brigade, belg. Berater des 1. ANA-Kandak (Bataillon), die Distriktgouverneure von Chahar Darreh und Aliabad, das PRT Kunduz, die Task Force 47, die mit afg. Spezialkräften zusammenwirkt.

Das Partnering läuft genau besehen nicht „Schulter an Schulter", sondern einander ergänzend auf Ebene der Kompanien und Züge.

Das eigene Auftreten stehe unter der Devise „stark-freundlich-respektvoll-rücksichtsvoll":

Ein von vorneherein starkes und militärisch-abschreckendes Auftreten vermeide, zum Gelegenheitsziel zu werden. Freundlichkeit gegenüber der Bevölkerung, Respekt in der Zusammenarbeit mit afg. Kräften. Es komme darauf an, Vertrauen zu erwerben. Hüten müsse man sich, Afghanen zu beleidigen. Bloß nicht über Afghanen lachen, mit ihnen lachen selbstverständlich. Unterwegs werde viel gewunken. Die Leute sähen von weitem durch die Panzerscheibe, ob Soldaten mit dem Kopf nicken, winken. (Das erinnert an die Anfangsjahre des AFG-Einsatzes. Seit Jahren schien es mit der Winkerei vorbei zu sein. Ich hoffe, dass die Beobachtungen stimmen - und nicht eine schöne Geschichte für die Besucher aus Deutschland sind.)

In den bisherigen vier Monaten des Einsatzes sei nichts passiert, habe man Glück gehabt. Die Panzerhaubitze musste keinen Schuss abgeben, nicht mal Nebelgranaten. (Am 25. Mai kommt es gegen 8.45 Uhr 11 km entfernt vom PRT Kunduz zu einem Sprengtoffanschlag gegen eine dt. Patrouille, nur Sachschaden, kein Personenschaden.)

Die Task Forces (Ausbildungs- und Schutzbataillone) sollen gemäß dem Security-Force-Assistance-Konzept ab Juli 2012 umgegliedert und mit den bisherigen OMLT zusammengeführt werden. Nach Wegfall einer Infanterie-Kompanie besteht die künftige „Partnering + Advisory Task Force"/PATF aus einer kampfstarken Partnering-Kompanie (zugleich Quick Reaction Unit), einer Aufklärungs-Kp, einer verminderten Pionier-Kp, einer Stabs- und Versorgungs-Kp sowie mit Schutzkräften verstärkte Advisory-Teams auf Kandak(Bataillons)-Ebene.

Aktualisierung: Nach Abschluss der Umstrukturierung erfolgte die Umbenennung der PATF Mazar und Kunduz am 14. Und 16. Juli.

Künftig habe die TF keinen eigenen Gefechtsstand mehr, werde nur noch Einzelfähigkeiten wie Artillerie, Aufklärung, Pioniergerät stellen.

Im Gefechtsstand der TF mit Hilfe des über uns stehenden US-Beobachtungs-Zeppelins (Permanent Threat Detection System PTDS) Blick auf die Umgebung des PRT. Die zwei Kameras (auch Infrarot) gewährleisten aus über 1500 Fuß Höhe ein generelles Screening im Umkreis von ca. 20 km. Aufständische wissen, dass ihre Bewegungen von oben gesehen werden, und verzichten dann lieber auf Raketenattacken und IED-Verlegungen.

(Die USA setzten die Helium-gefüllten Ballons erstmalig 2004 im Irak ein, ab 2007 auch in AFG. Heute sollen es mehr als 100 unterschiedlicher Größen (117, 70 Fuß) in ganz AFG sein, über Kandahar allein acht. Sie sind billiger als Drohnen und halten ein  gewisses Maß an Einschüssen aus. In einer Reportage berichtete die New York Times am 12. Mai 2012 über Reaktionen auf die „spy ballons": sie seien „game changer" für die militärische Aufklärung, bei Afghanen aber umstritten als „oppression", „shameless", unmoralischer Einblick in die Privatsphäre. Im Sommer könne man nicht mehr auf dem Hausdach schlafen.)

Geräteschau der Intermediate Reaction Force Alpha (IRF) zum Einsatz in der ganzen Provinz. Die IRF besteht aus zwei Zügen mit je vier Marder. Diese Mini-QRF sei „überall willkommen". Auch die US-Streitkräfte hätten nichts Vergleichbares. Zuletzt war die IRF 24 und 21 Tage draußen. Die einsatzvorbereitende Ausbildung für die IRF-Soldaten lief seit Januar 2011, also über ein Jahr. An 25 Wochenenden waren die Soldaten nicht zuhause. 60% des Zuges waren schon mal in Afghanistan, manche viermal. Die Ausstattung eines Truppführers: Weste 15 kg, Waffe 3,5 kg, Funkgerät 12 kg (mit Antenne 25 km Reichweite, top!). Das hat man bei bestimmten Operationen 23 Stunden an. Auf meine Frage, wie lange man so ein Gewicht tragen könne, die Antwort: Wie es nötig sei. Aktiver Hörschutz kostet 900 EUR: Er lässt Funksprüche durch und hält nur Schockwellen ab. Ein Teil der Funkgeräte sei aus der Steinzeit, keine Vereinheitlichung! In Dörfern reichen die Geräte manchmal keine 300 m weit.

Aufbau + Entwicklung

Für die deutsche EZ arbeiten in der Provinz 25 internationale und mehr als 250 lokale Kräfte.

(Landesweit sind es 325 internationale und 1.500 lokale, insgesamt über 1.800.)

2010 gab es in der Provinz einige No-go-Areas. Heute sei die komplette Provinz für Projektarbeit wieder zugänglich - natürlich mit Hilfe des Risk Management Offices. Jeder Besuch sei machbar.

Zzt. laufen in der Provinz 65 dt. EZ-Projekte, 12 sind in Planung. 22 der laufenden Projekte wurden durch den paritätisch besetzten Provincial Development Funds (PDF) beschlossen.

In der Provinzverwaltung gebe es einiges an Frustration. Notwendig wären Mentoringprojekte für /(kleine) Departements. Zu schaffen mache der dominierende Klientelismus: An allererster Stelle stehe die eigene Familie, dann der Clan, das Dorf, weit weg ist schon die Provinz - und ganz weit weg sei Afghanistan. Das gehe mit viel Missgunst einher.

Förderung von Verwaltungsfähigkeit und Staatlichkeit: Da könne man nur sehr begrenzt was schaffen. Es sei eine Illusion, in einer Gesellschaft von informellen und persönlichen Beziehungen schnell Verwaltungsfähigkeit etablieren zu können. Hier müsse man erkennen, was man nicht ändern könne.

Aber es gebe Anzeichen eines Generationenwechsels: Endzwanziger, v.a. Juristen rücken in verantwortliche Positionen. Z.B. der Bürgermeister von Kunduz, die Distriktgouverneure von Imam Shahib und Chahar Darreh.

Seit 2010 liege der Schwerpunkt auf Förderung guter Regierungsführung. Die Finanzierung erfolgt über zwei deutsche Regionalfonds für Infrastruktur und Kapazitätenentwicklung. Das National Solidarity Program wird zu 100% von der afghanischen Seite getragen. (Das NSP entstand 2003 und untersteht dem Ministerium für ländlichen Wiederaufbau und Entwicklung. In fast 30.000 ländlichen Gemeinden gibt es gewählte Community Development Councils; Berichte und aktuelle Daten unter www.ndpafghanistan.org )

Polizeiaufbau

Das Police Training Center Kunduz umfasst 500 Ausbildungsplätze und soll Mitte 2013 voll übergeben werden. Ausgebildet wird nach Curricula des afg. Innenministeriums.

Im Polizei-Compound von GPPT und EUPOL erleben wir eine Abschieds- und Einstiegsfeier für zwei leitende Polizisten. Ein Bundespolizist begrüßt mich mit „Willkommen im Paradies!" Es ist etwas ironisch, aber vor allem ernst gemeint. Denn die Stimmung am Abend und einige Einzelgespräche offenbaren einen sehr guten Zusammenhalt. Eine Beamtin war vorher in Feyzabad gewesen. Das gefiel ihr so sehr, dass sie sich für Kunduz meldete. Reizvoll hier seien die anderen Erfahrungen, die Eigenständigkeit und der Zusammenhalt. Ein alter Hase war in Bosnien, Kosovo, Georgien. Etliche erfahrene IPM-Polizisten kennen wir gemeinsam., z.B. aus NRW Stefan Feller und Tom Litges.

Polizeiausbilder, die erst kürzer hier sind, berichten von den mageren Voraussetzungen der Polizeirekruten. Aber sie würden sich anstrengen, Fortschritte seien sichtbar. Ein persönlicher Gewinn sei der Kontakt mit einer ganz anderen Welt, die Relativierung der Verhältnisse in Deutschland. Als Polizist aus der Frankfurter Bahnhofsgegend verstehe man jetzt die Hintergründe von Afghanen und anderen Migranten besser.

Rundgang am frühen Morgen

Wie bei früheren Besuchen nutze ich die frühen Morgenstunden ab 5.30 Uhr für einen Rundgang durchs Feldlager. Zu dieser Zeit sieht alles aus wie heller Frieden. Die Begrünung des PRT-Geländes kommt voran. Bäume haben inzwischen mittlere Höhe erreicht und überragen die Unterkunftsgebäude. Zwischen den Gebäuden große Rosenbeete, am Flugfeld rote Flecken von dicht wachsendem Klatschmohn. Der Innenhof unseres Unterkunftsgebäudes „Augsburg" ist wieder eine regelrechte Oase. Auf einem Gebäude des Polizei-Compounds dient die Dachterrasse zum Sonnenbaden und als Aussichtsplattform.

Am Flugfeld ein kleiner „privater" Ehrenhain mit sieben Kreuzen für HFw Nils Bruns, 35 Jahre (gefallen 2.4.2010), StGefr Robert Hartert, 25 Jahre (2.4.2010), HGefr Martin Augustyniak, 28 Jahre (2.4.2010), HGefr Sergej Motz, 21 Jahre (29.4.2009), HFw Mischa Meier, 29 Jahre (27.8.2008), StGefr Roman Schmidt, 22 Jahre (20.10.2008), SrUffz Patrick Behlke, 25 Jahre (20.10.2008). Daneben ein Schildkrötengehege:

„Im Gedenken an unsere gefallenen Kameraden der 2./InfTF KDZ ist dieses

Schildkrötengehege entstanden. Die Soldaten der 2./InfTF KDZ verpflichten sich,

diesen Ehrenhain und die dazu gehörigen Schildkröten zu pflegen. In mühevoller Kleinarbeit über mehrere Kontingente wurde der Ehrenhain am 06.12.2011 fertiggestellt.

Schildkröten symbolisieren in diesem Land „ewiges Leben".

Damit unsere gefallenen Kameraden in unseren Gedanken immer weiter leben,

halten wir für jeden Kameraden eine Schildkröte.

Schenkel, OStFw u. KpFw, 2./PzGrenLehrBtl 92 06.12.2011"

Im Nordosten ist eine Erweiterungsfläche für Munition u.ä. im Bau. Andere Baumaßnahmen sind gestoppt. Wahrscheinlich hat das PRT jetzt seine Höchstbelegung erreicht. Auf dem Plateau gibt es inzwischen sechs Feldlager von Sicherheitskräften. Das Police Training Center schließt direkt an das PRT an.

 

MAZAR-E SHARIF

Das ISAF Regional Command North ist das RC mit den meisten (17) beteiligten Nationen: DEU 4.800, USA 3.400 (zusätzlich 1.200 unter nationaler Führung; 2.000 als Ausbilder für Afghan National Security Forces/ANSF!), SWE 495, NL 448, NOR 391, UNG 269, HRV 245, FIN 193, insgesamt 12.500. Auf AFG-Seite sind es 13.700 ANA-Soldaten, 14.000 AFG Uniformed Police, 4.000 Border Police, 1.400 ANCOP (Bereitschaftspolizei). Das „Combined Team North" umfasst insgesamt 45.600 Sicherheitskräfte. Die Relation Sicherheitskräfte / Einwohner liegt im Norden bei 1/200, im Westen bei 1/115, im Süden bei 1/33, im Südwesten (Helmand) 1/19!

Im Norden sind strategische Partner DEU und USA. Eine zweite Gruppe von Verbündeten haben Schwerpunkte gebildet: Türkei in Jowzjan (militärisch kaum aktiv, ansonsten „beeindruckend"), Skandinavier im Nordwesten, Niederlande in Kunduz und Ungarn in Baghlan. Alle anderen acht Unterstützernationen sind zu 100% auf die Großen angewiesen.

Sicherheitslage

Aus Kabuler Sicht ist im Norden nichts los! In 2011 gingen die von ISAF registrierten Sicherheitsvorfälle um 33% zurück. Januar bis April 2012 lagen sie erneut unter dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Bei der Hauptbedrohung IED stieg die Zahl der gefundenen und geräumten IED. Es gab vermehrt Hinweise aus der Bevölkerung. Während die Zahl der uniformierten Opfer zurückging, stieg die Zahl der Zivilopfer. ISAF sei für Aufständische mehr ein „target of opportunity". ISAF habe sich für die Aufständischen erledigt.

Ein möglicher künftiger Brennpunkt sei die Provinz Faryab nach Westen. Hier gebe es viel Unruhepotenzial, hier entwickle sich ein Schwerpunkt.

Eine beunruhigende Tendenz ist die wachsende Zahl von Angriffen afghanischer Uniformträger (Soldaten, Polizisten) auf ISAF-Angehörige (Innentäter, „green-on-blue-attacks"). Zur Vorbeugung sind nun ISAF-Soldaten mit geladenen Waffen (Guardian Angels) an Stellen mit hohem Personenaufkommen postiert.

Die ANSF hätten ihre Leistungsfähigkeit bei mehreren Großereignissen bewiesen: Im Februar reagierten sie eigenständig, schnell und eindämmend bei den gewaltsamen Demonstrationen nach der Koranverbrennung durch US-Kräfte. Die Führungen von ANP und ANA gaben einen klaren Nicht-Schießbefehl (ausgenommen Notwehr) heraus. Beim Neujahrsfest (Nawroz) waren die Planungen auf 500.000 Besucher ausgerichtet. Wegen des sehr schlechten Wetters kamen aber weniger zusammen. Einen Bericht dazu gibt es nicht. (Wieder ein Beispiel von guten Nachrichten, die nicht verbreitet werden.)

Aktualisierung: Der ANSO-Bericht für das 3. Quartal 2012 meldet: Rückgang aller bewaffneter Operationen ggb. dem Vorjahrszeitraum um 28%, der Regierungsgegner um 32%, der internationalen Streitkräfte um 57%. Nur die Operationen der ANSF nahmen um 0,7% zu. In den Nordprovinzen Rückgang in Takhar um 52% auf 13 regierungsfeindliche Attacken, in Balkh (Mazar) um 38% auf 84, Anstieg in Faryab um 3% auf 246, in Badakhshan um 10% auf 54, in Baghlan um 69% auf 110. Zum Vergleich die Entwicklung in den gewaltträchtigsten Provinzen: Helmand -73% auf 600, in Kandahar -25% auf 806, in Kunar -1% auf 1008.

www.nachtwei.de/index.php/artickes/1174

Insider-Attacken gab es in 2010 5, in 2011 15, in 2012 bis 24. Dezember ca. 43. 16% der ISAF-Verluste in diesem Jahr gehen auf ihr Konto. Am 18. Februar fielen einem solchen Angriff im OP North in Baghlan drei Bundeswehrsoldaten zum Opfer, sieben weitere wurden verwundet. Seitdem blieb der Norden von solchen Angriffen weitestgehend verschont. Hinzu kommen „green-on-green-attacks" innerhalb der ANSF, denen lt. AP bis 30. September in 2012 53 afg. Polizisten und Soldaten zum Opfer fielen. Der jüngste Fall am 23./24.12. in der Nordprovinz Jowzjan, wo ein ALP-Kommandeur in einem Checkpoint fünf seiner Polizisten erschoss.

Ein zentraler Indikator für das im ISAF-Auftrag angezielte „sichere Umfeld" ist die Zahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts: Nachdem die Opferzahl lt. UNAMA im ersten Halbjahr 2012 erstmalig seit Jahren um 15% ggb. dem Vorjahreszeitraum zurückging, stieg sie im 3. Quartal 2012 um 28% auf 967 Getötete und 1.590 Verwundete. 80% der Opfer seien durch Aufständische verursacht worden, 56% allein durch Sprengkörper.

Transition (Ãœbergabe der Sicherheitsverantwortung)

In einer Stability Matrix sind die komplexen Zusammenhänge zwischen militärischen und zivilen Akteuren zusammengefasst. Die Hauptlast gehe jetzt auf zivile Einrichtungen und afg. Kräfte über. Der ausgeklügelten Planung der militärischen Seite scheint keine solche auf der zivilen Seite gegenüberzustehen. (Die Frage ist aber auch, ob so was von ziviler Seite aus überhaupt leistbar ist. Einzelne zivile Gesprächspartner bewerten diese Planung in ihrer Detailliertheit und Komplexität als weit von der Wirklichkeit entfernt.)

Die Übergabereife der Distrikte wird in mehreren Schritten bewertet: zuerst militärische Sicht, dann politische Bewertung, schließlich Entscheidung durch den Präsidenten. Jedes Vierteljahr erfolgt eine Neubewertung. Die Tranche 2 umfasst große Teile der Nordregion (Balkh, Takhar) und läuft vom Januar 2012 bis Januar 2014, die Tranche 3 vom Juli 2012 bis Juli 2014, die Tranche 4 vom Januar 2013 bis Dezember 2014. Unter vier Augen heißt es von zivilen Insidern, die Transitions-Tranchen seien politisch begründet. Viele andere Interessen gingen da ein. Es sei kein objektiver, an der tatsächlichen Entwicklung orientierter Bewertungsprozess.

Redeployment (Rückverlegung), erste Überlegungen

Es ist ein so gigantisches wie komplexes Unterfangen, behaftet mit erheblichen Risiken und Kosten. Da die Nachschubroute über Pakistan seit 26. November 2011 weiter geschlossen ist (hierüber lief 85% der Treibstoffversorgung und 60% der Fracht für ISAF), würde die Masse der ISAF-Ausrüstung der großen Regionalkommandos Südwest, Süd und Ost über die Nordroute gehen.

Aktualisierung: Die pakistanischen Grenzübergänge wurden Anfang Juli 2012 für den ISAF-Nachschub geöffnet, dann mal wieder geschlossen, im August wieder geöffnet.

Auf die Bundesrepublik als Lead-Nation im Norden und Hauptverantwortliche für die Logistik-Drehscheibe Camp Marmal/Mazar kämen damit besondere Herausforderungen zu. Wie das bewältigen und gleichzeitig noch den UN-Auftrag (Förderung eines sicheren Umfeldes) erfüllen, ist das große Rätsel!

12-15 Monate brauche die Rückverlegung des Materials; 12 Monate, wenn das Liegenschaftsgerät hier bliebe; 16 Monate, wenn alles rückgeführt würde. Beispiel der Niederlande: Rückgeführt werden mussten 2010 aus Uruzgan im Süden 2000 Soldaten, 1.500 Container und 500 Fahrzeuge. Hiermit waren 600 Logistikpersonal beschäftigt. Die Bundeswehr hat viermal so viele Container und Fahrzeuge im Land (6.000/ 2.000), die NATO ca. 70.000 Fahrzeuge und 125.000 Container. Der dt. Bedarf an Logistikpersonal wird die NL-Größenordnung überschreiten. Knackpunkt: Woher diese Kräfte angesichts sinkender Obergrenze? Aus den operativen Kräften für den eigentlichen Auftrag? Oder Beschluss eines Extra-Mandats? Die genauere Planung wird erschwert durch die bisher offene, von der Politik zu beantwortende Frage nach dem internationalen und deutschen Unterstützungsengagement nach 2014: Wie lautet der genauere Auftrag auf den Feldern Aufbau und Entwicklung, Förderung von Regierungsfähigkeit und ANSF-Unterstützung (Berater, Unterstützung in Mangelfähigkeiten wie Luftaufklärung, Lufttransport, Luftnahunterstützung)? Was ist nötig zu wirksamer Auftragserfüllung und Notfallabsicherung eigener militärischer, aber auch polizeilicher und ziviler Kräfte? Welche Fähigkeiten und Kräfte benötigen die verschiedenen Ressorts? Daraus ließe sich dann der Materialbedarf ableiten und entscheiden, was bleibt und was zurückgeht.

Rückzug aus der Fläche

USA, NOR, SWE, DEU reduzieren ihre Kräfte, ziehen sie aus dem Osten und Westen ab und konzentrieren sie im Zentrum der Nordregion. Diese Konzentration geht einher mit einem enormen Ausbau des US-Teils von Camp Marmal, das ungefähr verdoppelt wird. Von der Aussichtsplattform aus gesehen reicht das nach Westen erweiterte Camp fast bis zum Horizont. Zu hören ist auch, dass die USA ein „mandatsübergreifendes", von einem Zweisterne-General geführtes Kommando nur für Spezialoperationen aufbauen.

Aktualisierung: Anfang Juni wandelte NOR sein bisheriges PRT Maimanah in der Provinz Faryab (Nordwest) um in die „Transition Support Group Faryab". Am 19. August beendet die TSG-F ihren Auftrag und baute Maimanah ab.

Im August übergaben die USA ihre Basen Ghormach und Qaisar westlich Maimanah an die ANSF und zogen damit aus dem Westen ab.

Am 16. Oktober übergab DEU die Liegenschaft des früheren PRT Feyzabad an die afg. Bereitschaftspolizei ANCOP. Damit sind in den Nordostprovinzen Badakhshan und Takhar keine ISAF-Kräfte mehr dauerhaft stationiert. In zwei Drittel der Nordregion tragen die ANSF jetzt die Sicherheitsverantwortung.

Ungarn wollte das von ihm geführte PRT Pul-e Khumri/Baghlan am strategisch wichtigen Kunduz-Baghlan-Korridor eher verlassen, behält aber nun die PRT-Führung mit dt. Unterstützung bis März 2013. Im Laufe 2013 soll der Bundeswehrstützpunkt Kunduz geschlossen werden, vorher OP North in Baghlan.

Für nach 2014 soll die Obama-Administration eine Truppenstärke von 6.-9.000 planen, nachdem höhere Kommandeure für eine Größenordnung von 15.000 votiert hatten. Die meisten sollen in der Nähe der Hauptstadt stationiert sein. (Los Angeles Times 11.12.2012)

Einsatzgeschwader Mazar

Bedrohungslage für Luftfahrzeuge: In 2011 mehr als 1000 Fälle von Kleinwaffenbeschuss (SAFIRE), in der Masse nicht gelenkt, der Einsatz von MANPADS wurden nicht nachgewiesen.

2007 gab es auf dem Flughafen Mazar 12.680 Flugbewegungen, 2011 86.000. 300-350 Flugbewegungen pro Tag, 7% zivil, 93% militärisch. Im April allein über 10.000. Auf dem militärischen Teil des Flughafens herrscht inzwischen Platznot.

In das militärische Intra-Theatre-Airlift-System bringt DEU 325 Flugstunden ein, d.h. 52% des gesamten ISAF-Lufttransport (FRA 11,3%, USA 10,4%). Für die sieben C-160 Transall sind limitierende Faktoren Höhe, Hitze (in Kabul max. 32%) und die fehlende Nachtsichtausstattung. Hierfür ist die Beschaffung eingeleitet.

Die sechs hier stationierten CH-53 -GS (davon einer ausgestattet für Medizinische Evakuierung(MedEvac) sind speziell für AFG ausgerüstet. Die Bundeswehr verfügt über insgesamt 20 GS. Nach 200 Flugstunden müssen sie zur Überholung nach DEU. Im Jahr sind acht solcher Transfers notwendig.

Übung MedEvac, die alle drei Wochen stattfindet: Mit dabei ist auch niederländisches Personal. In Transall und CH-53 jeweils fliegende Intensivstationen. Die Blackhawks der US sind kleiner und leichter, ohne Arzt an Bord. Die Devise ist: Schnell raus mit den Verwundeten. In 15 Minuten ist die Maschine nach Alarm oben (CH-53 in 30 Min.). Für Hin- und Rückflug sind jeweils maximal 22,5 Min. angesetzt.

Unbemanntes Aufklärungssystem (UAS) Heron 1: Beginnend März 2010 wurden das aus Israel geleaste AUS mit drei Drohnen in Mazar stationiert. Das System dient der Echtzeitaufklärung vor allem zum Schutz eigener Kräfte. Weitere Aufgaben sind Vorbereitung von Operationen, Lagebeurteilung, Beobachtung der Aktivitäten von gegnerischen Kräften, Ziel- und Wirkungsaufklärung, humanitätre Hilfe + Schadenserfassung bei Katastrophen. Es kann technisch über 30 Stunden in der Luft sein, laut Vorschrift maximal 27, real ca. 23 Stunden. Ablösungen in der Luft ermöglichen längere Beobachtungszeiten. Bei einer Flughöhe von 3000 m (maximal 7600) ist Heron vom Boden aus nicht zu sehen und nicht zu hören. Heron beobachtet immer im Winkel. So sind Objekte und Bewegungen besser erkennbar. Pro Tag werden von den insgesamt drei Heron der Bundeswehr zwei bis fünf Missionen geflogen. Die insgesamt sechs Bediener- und Auswertecrews in der Auswertestation im Camp Marmal wechseln alle vier Stunden. Die US-Streitkräfte planen ihre Flugeinsätze 72 Stunden vorher, die liegen dann fest. Heron 1 als National Asset kann viel kurzfristiger beauftragt werden, ist sehr flexibel. Auf dem Bildschirm sehe ich einen Kreisverkehr, Kfz, Räder, Personen. Letztere sind aber nicht identifizierbar. Wetter und Winde sind Haupteinsatzhindernisse.

Bedarfsträger können direkt über Laptop mitsehen, über Roversystem sogar auch eine Patrouille. Ausgebildete Luftbildauswerter analysieren die Aufnahmen. Die Powerpointpräsentation mit Daten kann in zwei, drei Minuten fertig sein.

Gegenüber von Heron 1 stehen in der Halle einige US-Predator-Kampfdrohnen.

Die neueren technischen Aufklärungsmittel PTDS und Heron-1 sind beeindruckend. Wo fast lückenlos Bewegungen von Personen und Fahrzeugen beobachtet werden können, könnte man meinen, man wüsste jetzt so richtig Bescheid. Von der komplexen afg. Gesellschaft, von den ständigen Auseinandersetzungen und Veränderungen in ihr, von der „nichtkinetischen" Wirkung eigener Maßnahmen weiß man dadurch natürlich keinen Deut mehr. Wie steht es um diese Art von Aufklärungsfähigkeit, um Interkulturelle Kompetenz und Einsatzberater? Wie steht es um die Bereitschaft von Kommandeuren und Zivilexperten, deren Erkenntnisse ernst zu nehmen - zumal solche Erkenntnisse oft verkomplizierend sind?

Senior Civilian Representative (SCR) und Entwicklungszusammenarbeit

Im September 2009 umfasste der Vorläufer des SCR, der Political Adviser des dt. Kommandeur des RC North, einen AA-Beamten des Höheren Dienstes. Er war zugleich Vertreter der Dt. Botschaft im Norden. Wenn er im Urlaub war, war die Funktion vakant. Im August 2010 umfasste die neu eingerichtete Funktion des Senior Civilian Representative drei AA-Beamte. Inzwischen ist der Stab auf elf Mitarbeiter angewachsen, darunter vier Internationale (FIN, KROA, NL, SWE). Angesichts der Fülle, der Bedeutung und des Zeitbedarfs der politischen Aufgaben, der Vielzahl an - oft wechselnden - Akteuren ist die politische Säule personell immer noch unterausgestattet.

Dass dieses strategische Fähigkeitsdefizit über die Jahre in der deutschen Öffentlichkeit nicht kritisiert (man vergleiche die Medienresonanz bei Ausrüstungsmängeln der Bundeswehr) und von Koalitionsmehrheiten im Bundestag hingenommen wurde, zeigt, wie unterentwickelt und einseitig das Verständnis von Krisenengagements lange Zeit war.

Der Stabilitätspakt AFG des Auswärtigen Amtes umfasst mehrere Großprojekte: Das Balkh-Hospital, der Neubau des Zivilflughafens Mazar, die Verwaltungswissenschaftliche Fakultät an der Balkh-Universität.

Im Kontext der dt. EZ arbeiten in Mazar 60 internationale und 320 lokale MitarbeiterInnen.

Inhaltliche Schwerpunkte der dt. EZ sind: Wasser (v.a. Trinkwasserversorgung), Energie (Wasserkraftwerke, Stromübertragung), Wirtschaft (Aufbau von Wirtschaftsinstitutionen, Förderung Mikrofinanzwesen und kleine/mittlere Unternehmen, Infrastruktur), Grund- und berufliche Bildung, gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit.

Unzureichende und schlechte Verwaltung sei der größte Mangel. Hieran zu arbeiten, sei besonders wichtig.

Viel investiert werde in Bildung, Berufsbildung, Energie - aber das wie die Stärkung lokaler Strukturen insgesamt wirke erst langfristig. Hier sei man mit einer Vielfalt von Konfliktursachen konfrontiert, wobei Armut nicht die Hauptursache sei. Entwicklungsmaßnahmen beeinflussen eine Konfliktdynamik, wirken aber nur sehr langfristig. EZ könne Sicherheit nicht kaufen und mangelnden Reformwillen nicht ersetzen. EZ könne aber Reformprozesse unterstützen. Das Land könne nur langsam besser werden - aber schnell schlechter!

Enabler sind über längere Zeit auch für die zivile Seite notwendig. Dabei solle man sich aber auf wenige Punkte konzentrieren.

(Erinnert sei hier an den World Development Report 2011 „Conflict, Security and Development" der Weltbank über internationale Erfahrungen mit der Transformation von Institutionen im 20. Jahrhundert: Bei den schnellsten zwanzig Ländern dauerte es mit der Entwicklung von Verwaltungsfähigkeit im Durchschnitt 20 Jahre, mit der Kontrolle von Korruption 27 Jahre, mit Rule of Law 41 Jahre.)

Insgesamt sei Balkh aber eine Modellregion. Im Zentrum entwickle sich die Nordregion am besten, an der Peripherie werde es schwieriger. Für den Übergang 2014 sei es von elementarer Bedeutung, wieweit die „Eliten" bis dahin einen Ausgleich finden.

Die Festlegungen der Übergabe-Tranchen seien in erster Linie „politische Entscheidungen".

Expandierende Polizeiausbildung

Im Sommer 2008 erlebte ich beim Besuch von Außenminister Steinmeier die Grundsteinlegung zum Police Training Center direkt ostwärts neben Camp Marmal bei Mazar-e Sharif. Einige Wochen später standen schon die ersten Gebäude im Rohbau. Damals, sechs (!) Jahre nach ihrem Start, bekam die deutsche Polizeiaufbauhilfe endlich einen quantitativen Schub. Vier Jahre später ist das Ausbildungszentrum enorm expandiert und beherbergt auf 500 x 1000 m das Regional Police Training Center North (RPTC) mit der Nebenstelle der Kabuler National Police Academy.  Einen halben Tag verbringe ich bei den gastfreundlichen Beamten des German Police Project Teams (GPPT). Im Rahmen des GPPT arbeiten hier allein knapp 90 deutsche Polizeibeamte, darunter sechs Polizistinnen, inzwischen vor allem als Mentoren und Berater. (61 im RPTC, 15 Administration) An der Polizeiakademie arbeiten 27 dt. Polizeiberater. Von den Polizisten in Mazar kommen 37 von der Bundespolizei, 13 aus NRW, je 6 aus Bayern und Niedersachsen, je 5 aus Berlin und Hessen, 4 aus Rheinland-Pfalz, 3 aus Thüringen, je 2 aus Baden-Württemberg, Sachsen und BKA, je 1 aus Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, niemand aus Brandenburg (grundsätzlich), aus Bremen, Hamburg, Saarland, Sachsen-Anhalt. Sie werden unterstützt von 47 lokalen Übersetzern.

Die Trainingskapazitäten wachsen auf: in Mazar von 400 in 2011 auf 1.400 (davon 600 Akademie) im Juni 2012, in Kunduz von 120 auf 530. Landesweit wird die polizeiliche Breitenausbildung von bisher 37 Police Training Centers in den RPTC West, South, East, North (mit Außenstellen in Kunduz, 540 Plätze, und Badakhshan, 80 Plätze), dem National PTC Wardak und einem PTC in Helmand konzentriert. Zusammen mit der Polizeiakademie (2.250 Plätze) stehen dann 16.000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Zu bedenken ist, dass einfache Polizisten und Unteroffiziere auf fünf Jahre verpflichtet sind, Offiziere auf zehn Jahre.

Auf einem Übungsplatz beobachte ich Polizeischüler beim Üben einer Fahrzeugkontrolle. In der achtwöchigen Grundausbildung ist 70% Praxis. Bei ca. 70% der Ausbildung geht es um Überlebensfähigkeit. Um der Innentätergefahr vorzubeugen, haben die Polizeischüler nur Holzgewehre.

In einer Uffz-Klasse halte ich eine kurze Ansprache. Die hier brav sitzenden jungen Polizisten sind zugleich begeisterte Fuß- und Volleyballspieler. Die deutschen Polizisten würden ihnen gegenüber gnadenlos verlieren.

Wir besuchen auch eine Kindertagesstätte mit ca. 20 Kindern der im RPTC beschäftigten Frauen. Die Einrichtung haben die deutschen PolizistInnen gesponsert. Eine ulkige Szene ergibt sich, als vor der Kamera zwei lachende Polizistenpakete neben einem Jungen in die Knie gehen - drei strahlende Glatzen. Draußen sind die Polizeischüler unterwegs zum Mittagessen. Am laufenden Band freundliche Begrüßungen zwischen den afghanischen und deutschen Kollegen.

Hauptzielgruppe des GPPT ist die Afghan Uniform Police (AUP), die allgemeine Polizei. Für die paramilitärische Bereitschaftspolizei ANCOP sind Trainer der European Gendamerie Force zuständig, ausdrücklich nicht die dt. Polizisten. Seit April 2011 hat sich das Aufgabenprofil der deutschen Polizeiberater deutlich verschoben: Weg vom direkten Training hin zum Mentoring der afg. Ausbilder, von Polizisten in Stabs- und Verwaltungsfunktionen, zur Verbesserung der Ausbildungsqualität und Unterstützung der Professionalität. Entscheidend sei, dass die Trainer eigenständig würden, sich Gedanken machen.

Aktualisierung:PTC an das afg. Innenministerium. Seit September ist kein deutscher Polizist mehr vor Ort. Insgesamt wurden 2012 in den von DEU errichteten PTC und Schulen mehr als 10.000 Polizisten ausgebildet, darunter über 750 Polizeitrainer. Lt. „Fortschrittsbericht AFG" der Bundesregierung vom November 2012 ist DEU damit der größte Akteur im Bereich der Trainerausbildung. (www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/632316/publicationFile/174653/121128_Fortschrittsbericht_2012.pdf

Seit 2009 beteiligte sich DEU an dem von den USA initiierten umfassenden Programm zur gezielten Ausbildung und Begleitung ganzer Distrikt-Polizeien (Focused District Development/FDD). Seit 24. Oktober 2011 sind dt. Polizisten nicht mehr an FDD beteiligt. Eigentlich sei es ein gutes Programm gewesen. Es brauchte aber viel Personal, insbesondere die von Soldaten begleiteten Ausfahrten in die Distrikte (je vier Polizisten und Feldjäger, zwei Sprachmittler + Schutzkomponente). Der Sinn von FDD wurde auch dadurch infrage gestellt, dass Polizeichefs und Polizisten immer wieder schnell versetzt wurden und so ein kontinuierliches Mentoring untergraben wurde.

Als Handicap der dt. Polizeihilfe bleibt: Wo die Begleitung nach den relativ sehr kurzen Trainingskursen entfällt, wo es keine Beratung am Arbeitsplatz gibt, ist die „Rückfallquote" hoch und die Chance auf nachhaltige Wirkung viel geringer. Was bleibt von der Ausbildungsinvestition in den PTC`s?

(Im Mai 2012 betrug der Personalschwund der ANP -1.400, d.h. ca. 1% der Gesamtstärke.)

Aktualisierung: Offen bleibt, wie die militärischen Police Advisor Teams der US-Streitkräfte wirken, die noch das Mentoring in der Fläche praktizieren. Offen bleiben die Parallelstrukturen außerhalb der ANP: Village Stability Operations + Afghan Local Police (ALP), Critical Infrastructure Protection Program (CIPP), „ungesetzliche Milizen". Der Halbjahresbericht des Pentagon „on Progress Toward Security and Stability in AFG" vom Dez. 2012 bringt eine Übersicht zur ALP in 137 Distrikten landesweit. Demnach umfasste die ALP in den Distrikten Kunduz Stadt 225, Chara Darah 280, Imam Shahib 295, Dashte Archi 230, in zwei Distrikten von Takhar insgesamt 600, in Pul-e Khumri/Baghlan 321 etc. (www.defence.gov/news/1230_Report_final.pdf )Das CIPP lief offiziell am 30.9.2012 aus. Ein Teil wurde von der ALP übernommen. Das hartnäckigste und andauerndste Problem sind die ungesetzlichen Milizen. Lt. Vorsitzendem des High Peace Council sollen diese Milizen allein in der Provinz Kunduz ca. 4.500 Mann umfassen. Im September gab es mehrere blutige Zwischenfälle mit ihnen - und in Kunduz Proteste für ihre Entwaffnung. (vgl. Bei Afghanistan Analysts Network Gran Heward: Legal, illegal: Militia recruitment and (failed) disarmament in Kunduz, 10.11.2012, www.aan-afghanistan.con/print.asp?id=3108 )

Bewerberlage bei GPPT: Sie sei ausgezeichnet. 90% der Kurzzeittrainer hätten verlängert. Seit 1. Januar 2012 geht das aber nicht mehr. Einige Absolventen der AFG-Kurse an der Bundespolizeiakademie seien jetzt in der Warteschleife. Ich frage nach dem persönlichen Gewinn des Einsatzes: Die Aufgaben seien hier viel breiter als in der Heimat. Man mache hier mehr Erfahrungen als in vier Jahren zu Hause. Es bringe mehr Selbstverwirklichung im Beruf. Für polizeiliche Fähigkeiten im engeren Sinne sei er Einsatz kein besonderer Gewinn. Da sei ein FBI-Besuch ergiebiger. Die Karriereverträglichkeit sei unterschiedlich. Wer bei der Bundespolizei im höheren Dienst was werden wolle, müsse ein Jahr im Ausland gewesen sein. In den Ländern und Dienststellen gebe es eher die üblichen Vorwürfe („Du machst Geld und Urlaub, wir müssen deine Arbeit machen").

ANA-Unterstützung

Mit dem Hubschrauber-Shuttle geht's mit Weste und Helm vom Camp Marmal in acht Minuten zum Camp Mike Spann westlich von Mazar. (Mike Spann war der erste alliierte Soldat, der im Rahmen der Operation Enduing Freedom am 25.11.2001 in Afghanistan fiel.) Rechter Hand das Flugfeld mit 23 (!) US-Hubschraubern. Die seit 2010 insgesamt ca. 70 Hubschrauber für Aufklärung, Kampf und Transport sind die Vorrausetzung dafür, dass die ISAF-Einheiten seit 2010 einen viel weiteren Operationsradius haben. Allein 15 stehen für Foward Air MedEvac zur Verfügung. Gespräch mit dem Kommandierenden General des 209. ANA-Korps, General Weza, zuständig für die ganze Nordregion: Mentoren gebe es zu wenige; im Brennpunkt Ghormach im Westen sei bisher nur ein Kandak stationiert. Dort brauche er vor allem schwere Waffen. Das sei in Kabul zu entscheiden. Als Gastgeschenk überreicht er mir einen Chapan (von Präsident Karzai bevorzugter grüner Umhang).

Im Sommer 2008 war ich im Kontext des Steinmeier-Besuches erstmalig hier. Damals umfasste die ANA 16.000 Soldaten, heute sind es über 170.000.

In Gesprächen mit deutschen Mentoren bekomme ich Einblicke in die Arbeit der deutschen OMLT und ihre Erfahrungen mit den Fähigkeiten und Begrenzungen der afghanischen Armee. Beim Korps sind um die 50 dt. Mentoren in fast allen Stabsabteilungen. Vergleichbare Teams gibt es bei der 3. Brigade und bei der 2. Brigade in Kunduz. Wenn die Norweger im Oktober Maimanah verlassen, gebe es bei der dortigen 1. Brigade keine internationalen Mentoren mehr. Das werde sich auf die Operationsführung auswirken. Bezüglich Lagebild sei man dann auf technische Aufklärung und die Afghanen angewiesen. (Dasselbe gilt für den Osten). Falsch sei, hier alles durch die deutsche Brille zu sehen. Es fange damit an, dass viele nicht Lesen und Schreiben können. Die Basisausbildung sei zentral. Auf Korps- und Brigadeebene sei die Planungsfähigkeit brauchbar, auch die Zusammenarbeit mit ANP und ISAF. Insofern könne Afghan Lead umgesetzt werden. (Wenn ich diese Aussagen mit denen vor vier Jahren vergleiche, scheinen Welten dazwischen zu liegen.)

Allerdings sehe die ANA die Hold-Phase bei der Counterinsurgency nicht als ihre, sondern der ANP Aufgabe an. Die Begeisterung der ANP für Hold sei begrenzt.

Die Internationale Gemeinschaft habe eine Kultur der Abhängigkeit geschaffen. Die USA stellten Material en masse vor die Tür, z.T. von überhöhtem Niveau, das eigenständig nicht betrieben und erhalten werden kann. Wenn ein Ford Ranger defekt sei, gebe es einen neuen. Am Aufbau der Logistik werde kräftig gearbeitet. Das seien dicke Bretter. (Die Bundeswehr unterstützt seit 2008 die Logistikschule in Kabul, die seit 2011 Einsatzunterstützungsschule heißt. 79 dt. Mentoren sind für die Schule eingeplant, an der bis zu 3.000 Soldaten und Polizisten ausgebildet werden können.)

Die Mentalität insgesamt sei wenig initiativ, überwiegend reaktiv. Notwendig sei ein ressortübergreifendes Ausbildungskonzept über 2014 hinaus.

Bildung, Bildung, Bildung

Als VIP-Besucher bewegt man sich fast nur innerhalb der militärischen Feldlager. Für den Besuch einzelner, von Deutschland unterstützter Aufbauprojekte komme ich raus aus der ISAF-Kleinstadt, näher ran an das alltägliche Afghanistan. Von außen erscheint Camp Marmal schnell als Raumschiff, als fremder Planet. Mazar boomt weiter. Im abenteuerlichen Straßenverkehr gibt's alle paar Minuten Überholmanöver bei Gegenverkehr. Hier erlebe ich so viele brenzlige Situationen wie in Deutschland kaum in einem Jahr. Ich vermute, dies sind die gefährlichsten Momente meines Afghanistanaufenthaltes. Der afghanische Fahrer fährt aber so forsch-gekonnt, dass ich mich gut geborgen fühle. In der ganzen Zeit begegnet uns kein einziges ISAF-Fahrzeug.

Alphabetisierung und „nachholende Grundbildung" für Polizisten der ANP: Besuch der

GIZ-PIU (Police Implementation Unit), in der drei afghanische und zwei deutsche MitarbeiterInnen das seit 2009 laufende Programm organisieren. Ca. 70% der afghanischen Polizisten sind Analphabeten. Das Programm für alle 114 ländlichen Distrikte und fast alle städtischen Polizeistationen des ganzen Nordens beinhaltet Kurse von 6-8 Wochen und 6 Monaten. Der 6-Monatskurs schließt Basisausbildung in Polizeiaufgaben und -recht, Menschenrechte, Gender, häusliche Gewalt, Rule of Law, Gesundheitspflege ein. Über 300 einheimische ehemalige Polizisten und Militärs sowie Zivile arbeiten als Lehrkräfte. Für den Unterricht wurden 95 voll ausgestattete Container-Klassenräume und acht Zelte für unzugängliche Gebiete bereit gestellt. Stolz überreicht man mir das erste, von Innenministerium und GIZ herausgegebene Handbuch für Polizeirecht sowie eine Lehrbroschüre für Polizeischüler in einfacher Sprache. Seit 2009 haben knapp 13.000 Polizisten in Nord-AFG die 6-Monatskurse durchlaufen. An den Kurzzeitkursen nahmen 6.250 teil.

Dieses Projekt erscheint mir besonders sinnvoll: Es fördert Basisfähigkeiten bei einer für die Zukunft des Landes besonders wichtigen Personengruppe; die Durchführung ist geprägt von Afghan Ownership. Insgesamt scheinen hier die Voraussetzungen für eine nachhaltige Wirkung am ehesten gegeben zu sein.

Aktualisierung: Der Spiegel vom 22.12.2012 (Nr. 52) berichtet, ein Besuch im Polizeitrainingszentrum in Mazar verstärke Zweifel am Sinn der dt. Polizeihilfe. Er nimmt das Urteil eines GdP-Vorstandsmitglieds in die Überschrift „Weder sinnvoll noch nachhaltig." Wer wollte die genannten Zweifel bestreiten. Auffällig ist aber die oberflächliche Einseitigkeit des Spiegel-Reporters: Kein Wort, dass die dt. Ausbildung von einfachen Polizisten nicht vor zehn Jahren, sondern 2008 begann. Kein Wort zum o.g. Alphabetisierungsprogramm.

Förderung von Rechtsstaatlichkeit/Rule of Law

Die GIZ unterstützt den Aufbau von Rechtsberatungsstellen (Rechtshilfe für Arme), der Rechtsanwaltskammer, die Vernetzung junger JuristInnen, die Rechtsaufklärung (u.a. über Radios), die gemeinsame Konfliktlösung zwischen Bevölkerung und Behörden. Beim Treffen der dt. Entwicklungsexperten erfahre ich Näheres zu den „Huquq", Büros zur zivilen Streitschlichtung. Zivile Streitschlichter gibt es schon seit Jahrhunderten. Als Teil des informellen Sektors sind sie aber in der Verfassung nicht anerkannt. Sie sind angesiedelt auf der Distriktebene und zuständig vor allem für Streitfälle um Land, Lohn, Familienfragen. In den Aufgaben besteht eine gewisse Überlappung mit den Shuren, mit denen auch zusammengearbeitet wird. Die Korruption sei das vorherrschende Problem. Sie sei nie so verbreitet gewesen wie jetzt. Die ältere Generation kenne noch was anderes. Jüngere seien daran gewöhnt. Zugleich sei ein Wechsel der Generationen spürbar. Jüngere hätten einen ganz anderen Zugang zu Informationen, seien international orientiert. Manche Studierende könnten besser sein als ihre Professoren.

Wo es an Rechtsbildung fehle, vor allem in entlegenen Gebieten, da werde besonders auf das traditionelle Recht zurückgegriffen. Es gebe eine Sehnsucht zu wissen, was wirklich Recht sei. Rechtsaufklärung und -bildung sei zentral. Die geschehe nur durch Einheimische. Da gebe es keinen „Rechtsimport". Trainer seien ausschließlich afghanische Juristen. Unter denen gebe es wirklich gute Leute. Diese erstellen die Materialien. Die Internationalen lesen gegen, sorgen für Druck und Verteilung. Im Auftrag der GIZ arbeiten insgesamt ca. 60 Personen im Bereich RoL, davon zzt. fünf Internationale.

 

Das Teacher Training College in Mazar besuche ich jetzt zum vierten Mal seit 2008. Die mit deutschen Mitteln errichtete Einrichtung wird inzwischen von 4000 Studierenden besucht. Hier erlebe ich wie bei den vorherigen Besuchen bei meinen jüngeren Kollegen eine enorme Motivation für ihren Beruf. Vor einer Klasse mit ca. 30 jungen Frauen und Männern bekräftige ich, dass das Abzugsjahr 2014 nicht falsch verstanden werden darf. Es gilt für die Masse der internationalen Truppen. Die Aufbauhilfe soll und muss bleiben!

 

Stärkung der Verwaltungsausbildung in AFG

Die GIZ unterstützt vor Ort mit vier internationalen Mitarbeitern den Aufbau von Fakultäten für Verwaltungswissenschaften und die Einführung verwaltungswissenschaftlicher Bachelor-Studiengänge an den Universitäten Balkh in Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Kandahar und Nangarhar in Jalalabad. Zielgruppe sind künftige Führungskräfte in der Verwaltung. Das Curriculum wurde vom Hochschulministerium bestätigt. Im April und im August fanden erste Coaching für Uni-Dozenten statt, im September eine erste Sommerakademie in der Türkei. Auf deutscher fachlicher Seite läuft die Unterstützung über ein Konsortium von Uni Potsdam, Erfurt (Public Policy), TU Berlin und Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. In Mazar haben sich inzwischen 200 Studierende eingeschrieben, in Herat 400, in Kabul 100, in Jalalabad 50; Kandahar startet 2013.

Die systematische Korruption könne man von außen kaum bekämpfen. Bei diesem Projekt setze man darauf, dass sich bei den jungen Leuten ein Geist von staatlicher Dienstleistung entwickle. Dabei gebe man das Verhältnis von Modernisierung und Tradition nicht vor. „Der Aufbau des Studienganges soll etwas Eigenständiges sein. Wir lassen die Afghanen selber machen, geben jedoch fachliche und organisatorische Unterstützung." Geduld sei angebracht. Spürbare Wirkungen gebe es erst in 10, 15 Jahren, wenn die Hochschulabsolventen in den öffentlichen Dienst übernommen sind, Führungsfunktionen eingenommen haben und den Reformprozess flächendeckend selbständig weiterführen. Die Studierenden seien sehr lernwillig, die Aufnahme der internationalen Partner vollkommen freundlich.

Gute Nachricht - wer hört sie?

Im Vorbeifahren sehe ich noch im Zentrum das große Gebäude des Regional Hospital Mazar-e Sharif, springe raus und fotografiere. Das Hospital ist so eine Art Camp Marmal für das Gesundheitssystem der ganzen Nordregion mit seinen sechs Millionen Einwohnern. Es verfügt über 500 Betten, 21 Intensivbetten und sieben Operationssäle. Das nächste Krankenhaus dieser Art ist in Kabul 430 km entfernt jenseits des Hindukusch. Das u.a. mit 13 Mio. Euro des AA nach einem Brand 2006 wieder aufgebaute und erweiterte Hospital wird am 12. Mai feierlich eröffnet. Schweden finanzierte einen Lehr- und Ausbildungstrakt. Weitere 3 Mio. Euro gehen in Maßnahmen des Capacity Building (Training für das Hospitalpersonal und Management). Ich bin gespannt ob diese, für die afghanische Bevölkerung wichtige und hoffnungsvolle Nachricht in deutschen Medien auftaucht - oder mehr oder weniger übergangen wird. Es wäre ja keine bad news.

Aktualisierung: An der feierlichen Eröffnung am 12. Mai nahmen die Gesundheitsministerin Suraya Dalil, Provinzgouverneur Attah Mohammad Noor und der dt. Botschafter Rüdiger König teil. Die afg. Medien berichteten umfassend. Die deutschen mit keinem Bild und keiner Zeile. Den Bericht auf meiner Homepage überschrieb ich deshalb mit „Alles gut gelaufen, kein Anschlag - keine Nachricht?! Balkh Hospital in Mazar feierlich eröffnet." (www.nachtwei.de/index.php/articles/1138)

 

Muntere Mischung

Am letzten Abend habe ich das Glück, bei einem Abschiedsabend für einen RoL-Experten dabei zu sein. Mehr als zwanzig EZ-MitarbeiterInnen sind gekommen. Weitere Einblicke und Eindrücke ergeben sich, zum Beispiel:

- Einer mit zwanzigjähriger AFG-Erfahrung konstatiert irreversible gesellschaftliche Veränderungen, kulturell, in der Kommunikation, wo sich Welten verbinden/verwischen, wo nicht mehr ein so strikter Stadt-Land-Gegensatz bestehe. Trotzdem: Entstehung von Staaten brauche Zeit.

- Eine Friedensfachkraft mit Balkanerfahrung nennt als großes Versäumnis der EZ, dass die religiöse Dimension weitestgehend außen vor gelassen werde. 95% der Mullahs erhielten ihre Ausbildung in Pakistan. Es gebe sehr wohl Möglichkeiten, mit Mullahs zusammenzuarbeiten.

- Insgesamt ist Konsens, dass die AFG-Wahrnehmung zu Hause in Deutschland pauschal und einseitig negativ sei. Zugleich gibt es aber auch Kritik an einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit auf allen Seiten der Internationalen, bei Militärs wie Zivilen: oft gebe es wenig Ahnung vom Land, dafür aber ein großes Interesse, Erfolge zu melden, selbst gut dazustehen. Die allergrößten Gegensätze seien bestimmte US-Ausbilder und ihre afghanischen Rekruten, beides Söldner.

Es ist eine abendliche Gesellschaft, die völlig aus dem Rahmen des kriegerischen deutschen Afghanistanbildes fällt: überwiegend jüngere, engagierte Frauen und Männer, munter und kundig, eine kommunikative und lachende Runde.

Dass Hunderte solcher Fachleute aus Deutschland zusammen mit 1.500 Einheimischen in Afghanistan für Aufbau und Entwicklung im Auftrag des BMZ arbeiten - wer weiß das in der Bundesrepublik überhaupt?

Auf dem Weg zu der Abschiedsfeier kommen wir an einem Vergnügungspark mit Karussells vorbei. Begeisterte Mädchenstimmen sind noch bei beginnender Dunkelheit nicht zu überhören.

 

Schlussbemerkungen

(1) Der Rückzug der internationalen ISAF-Truppen aus der Fläche in Afghanistan und die schrittweise Rückverlegung in die Entsendeländer sind keine Propagandaschimäre, sondern real und weitestgehend irreversibel: z.B. in der Nordregion nach Übergabe der PRT`s und Stützpunkte an die ANSF keine ständige Präsenz mehr im Osten und Westen der Region, starker Rückgang der ISAF-Operationen und afg. Führungsrolle bei allen Operationen im Norden. 2014 laufen alle völkerrechtlichen und vertraglichen Voraussetzungen für internationale Streitkräfte in Afghanistan aus. Für Art und Umfang einer Nachfolgemission ist von ausschlaggebender Bedeutung, welche Position vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen im April 2014 und der Parlamentswahlen 2015 beide Staatsorgane dazu einnehmen. (Der Oberste Friedensrat forderte inzwischen, internationale Truppen künftig der Sharia zu unterwerfen.)

(2) Die Nordregion, insbesondere die Provinz Balkh um Mazar, ist (neben Herat) die Region mit den meisten Chancen in Afghanistan. In dieser Chancenregion spielt Deutschland nach wie vor neben den USA eine führende Rolle. Die meisten anderen Verbündeten im Norden hängen bis 2014 an der deutschen Führungsrolle. Angesichts der Unzuverlässigkeit der Transportrouten über Pakistan ist die Nordverbindung über den Baghlan-Kunduz-Korridor und Mazar von besonderer strategischer Bedeutung für die Rückverlegung. Sie ist zugleich ein Nadelöhr.

(3) Aus alledem ergibt sich eine herausragende Mitverantwortung der Bundesrepublik im Prozess der Übergabe, der Rückverlegung - und parallel der verlässlichen Unterstützung bis 2014 und danach.

(4) Dafür, dass die Aufbauhilfe für die ANSF erst 2006 (ANA) und 2008 (ANP) einen echten Schub bekam, sind die Fortschritte bemerkenswert. (Die stärkere Unterstützung des Verwaltungsaufbaus ist noch jüngeren Datums!) Bemerkenswert ist vor allem, dass ANA und ANP lt. Bevölkerungsumfrage der Asia Foundation von allen öffentlichen Institutionen in der Bevölkerung das höchste Vertrauen genießen. So lange aber der Primat der afg. Politik von schlechter Regierungsführung geprägt wird, sind diese Fortschritte auf Sand gebaut und sehr zwiespältig.

(5) Der Rückgang an Sicherheitsvorfällen und bewaffneten Operationen von Aufständischen und internationalen Streitkräften bedeutet noch keine wirkliche Stabilisierung. Vielleicht ist es eher eine Atempause. Erhebliche Risikofaktoren sind: das uneingeschränkte Hinterland der Aufständischen in Pakistan; das Chaospotenzial vor allem der illegalen Milizen; die weiterhin blühende Drogenökonomie (von der Staatengemeinschaft und auch der Bundesregierung faktisch seit Jahren ausgeblendet), der nicht in die Gänge kommende politische Verhandlungsprozess.

(6) Risikofaktoren auf Seiten der Internationalen Gemeinschaft sind: Primat innenpolitischer Interessen, woraus Schönfärberei oder Schwarzmalerei resultiert und eine nüchtern-realistische Wahrnehmung blockiert wird; der demonstrative Abschied von früheren Aufbauillusionen - und das Umkippen in Abzugsillusionen heute; die unausgesprochene, aber faktische Haltung „bloß weg vom Hindukusch!" - ohne Rücksicht auf Verluste für die afghanischen Menschen, die regionale und internationale Sicherheit. Was tun zur Entwaffnung der Milizen, gegen das Anschwellen von Aufständischenaktivitäten in Ghormach, inzwischen sogar Bamyan, was zur Absicherung der Nordroute, wenn die Ungarn sich zurückziehen?

Umso wichtiger sind die Förderung einer Verhandlungslösung zwischen den afghanischen Konfliktparteien und der Istanbul-Prozess als Anstrengung regionaler Konflikteindämmung.

(7) Teilfortschritte halten: Entgegen dem in der deutschen Öffentlichkeit verbreiteten düsteren Pauschalbild von Afghanistan und trotz aller großen Fehler der internationalen Afghanistanpolitik gibt es Teilfortschritte. (Vgl. auch das auffällig differenzierte und keineswegs düstere Meinungsbild, wie es die inzwischen achte Bevölkerungsumfrage der Asia Foundation vom Nov. 2012 widerspiegelt. www.asiafoundation.org/country/afghanistan/2012-poll.php ) Die bisherigen Teilfortschritte würden nach 2014 schnell zerbröseln, wenn es danach nicht noch weiterhin eine verlässliche internationale Unterstützung gibt. Das hat zuletzt die Vorsitzende der Afghanischen una


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch