Neuer Erfolg der deutsch-russischen Abrüstungszusammenarbeit
Start für die 3. Chemiewaffenvernichtungsanlage in Potschep
von Winfried Nachtwei, MdB, abrüstungspolitischer Sprecher (6/08)
Vx, Sarin und Soman sind Nervenkampfstoffe, die schon in kleinsten Mengen das Nervensystem blockieren, die Atmung lähmen und Menschen qualvoll ersticken lassen. Mehr als 7.500 Tonnen dieser chemischen Kampfstoffe lagern in 67.000 Munitionskörpern (vor allem Bomben) seit Jahrzehnten in der Nähe des Städtchens Potschep/Gebiet Brjansk ca. 400 km südwestlich von Moskau unweit der weißrussischen Grenze. Das Lager von Potschep beherbergt 18,8% der deklarierten Chemiewaffenbestände Russlands und ist damit das größte der insgesamt sieben Chemiewaffen(CW)-Lager in Russland.
Am 10. Juni 2008 begleitete ich eine deutsche Delegation unter Leitung des stellvertretenden Abrüstungsbeauftragten des Auswärtigen Amtes, Botschafter Rüdiger Lüdeking, nach Potschep, um als Mitglied des Unterausschusses für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung an der feierlichen Grundsteinlegung für die inzwischen dritte mit deutscher Unterstützung errichtete Chemiewaffenvernichtungsanlage in Russland teilzunehmen. Ende 2009 soll die Anlage in Betrieb gehen. Es war mein dritter Besuch in einer russischen Chemiewaffenvernichtungsanlage nach Gorny/Gebiet Saratov in Südrussland im Jahr 2000 und Kambarka/ Westural 2006.
Politischer Hintergrund
Das Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) ist seit April 1997 in Kraft. Im November 1997 wurde es auch von Russland ratifiziert. Inzwischen ist das CWÜ von 184 Staaten ratifiziert. Irak, Syrien, Ägypten, Libyen, Angola, Somalia und Nordkorea haben das CWÜ nicht unterzeichnet. Russland verpflichtete sich, binnen zehn Jahren seine damals 40.000 Tonnen deklarierten und an sieben Orten gelagerten CW-Bestände sowie ehemalige Produktionsanlagen zu vernichten bzw. diese auf zivile Produktion umzustellen. 2003 wurde die Frist (29. April 2007) im Rahmen des CWÜ verlängert. Sie läuft längstens bis zum 29. April 2012.
Nach dem Terroranschlag des 11. September wurde das hohe Risikopotenzial der Altlasten des Kalten Krieges in Russland, vor allem der CW, Nuklearanlagen und Atom-U-Boote, bewusst und im Jahr 2002 die G8-Initiative „Globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -materialien" beschlossen.
Im Fall Russlands gelten die Gefahren der Proliferation, der „Abzweigung" von nuklearen Materialien und chemischen Kampfstoffen zu kriminellen und terroristischen Zwecken sowie der Abwanderung von Fachpersonal keineswegs als gebannt.
Die Teilnehmerstaaten der Globalen Partnerschaft verpflichteten sich, hierfür binnen zehn Jahren 20 Milliarden US-$ aufzubringen. Die Bundesrepublik sagte bis zu 1,5 Mrd. US-$ zu, die USA 10 Mrd. $, die EU und Italien je 1 Mrd. Euro, Großbritannien und Frankreich je 750 Mio. $, Kanada 650 Mio. $, Japan 200 Mio. $. Russland selbst sagte 2 Mrd. $ zu. (vgl. Strengthening the Global Partnership, SGP Issue Brief Feb 2006, http://www.sgpprocect.org/; Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit; Die Globale G8-Partnerschaft - Deutsch-Russische Zusammenarbeit, Broschüre 2004, http://www.bmwa.bund.de/)
Die Kosten der CW-Vernichtung sind enorm, sie betragen das mehr als Hundertfache der Herstellungskosten. Die geschätzten Gesamtkosten des Vernichtungsprogramms in Russland stiegen seit 1997 von 3 auf 10 Mrd. US-$. Davon sollen 2-3 Mrd. $ von der Globalen Partnerschaft bestritten werden. (Die geschätzten Kosten des US-Programm stiegen von 1987-2007 von 2 auf 40 Mrd. US-$)
Im Rahmen des CWÜ deklarierten weitere Staaten Chemiekampfstoffbestände: Indien 1.055 to, Südkorea 400-1.000 to, Albanien 16 to, Libyen 23,62 to.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Länder mehr produziert als deklariert haben.
Die deutsche Abrüstungshilfe im Bereich der chemischen Waffen begann lange vor Inkrafttreten des CWÜ und geht auf einen Beschluss des Bundestages vom 24.6.1992 zurück. Noch am 16.12.1992 wurde das deutsch-russische Regierungsabkommen über Hilfeleistungen zur Eliminierung nuklearer und chemischer Waffen abgeschlossen und 1993 durch ein Ressortabkommen zwischen dem AA und der russischen Regierung ergänzt. Über das AA (Referat 244 Abrüstungszusammenarbeit/Projektumsetzung „Globale Partnerschaft") stellte Deutschland für Gorny Leistungen im Wert von 50 Mio. Euro zur Verfügung (13 der 14% ausländischen Anteils an den Gesamtkosten der Anlage), für Kambarka Leistungen von über 150 Mio. Euro (17 der 20% ausländischer Gelder). Für Potschep sind bis 2009 insgesamt Leistungen über 140 Mio. Euro geplant. In 2008 gehen aus dem AA-Haushalt wahrscheinlich über 50 Mio. Euro in die CW-Vernichtung.
Ursprünglich wollte Deutschland als dritte Anlage in Russland die in Leonidovka unterstützen. Da wegen des vorläufigen Bundeshaushaltes 2006 die deutsche Hilfe nicht langfristig zugesagt werden konnte, entschied sich die russische Seite dafür, die Anlage ohne ausländische Unterstützung zu errichten. Mit der Verstetigung der Haushaltsmittel und den mit dem Bundeshaushalt 2006 geschaffenen Verpflichtungsermächtigungen konnte Deutschland dann bei Potschep einsteigen.
(Über das BMWi läuft das U-Boot-Entsorgungsprojekt: Bau eines landseitigen Langzeitzwischenlagers für 150 U-Boot-Reaktorsektionen und 28 nukleare Objekte von Überwasserschiffen; Errichtung eines regionalen Entsorgungszentrums für radioaktive Abfälle; Atom-U-Boot-Zerlegung etc. Hierfür wurden bisher 255 Mio. Euro ausgegeben. Ebenfalls über das AA läuft das Projekt „Physischer Schutz russischer Nukleareinrichtungen": Dazu gehört auch die sicherheitstechnische Modernisierung von Atomwaffenlagern.)
Andere Beiträge zur CW-Vernichtung in Russland: Von Seiten der USA ca. 1,2 Mrd. US-$, davon 1,04 Mrd. für Schtschutschje, wo die Zusammenarbeit offenbar schwierig war und sich die Fertigstellung enorm verzögerte. (Ursprungstermin 2005!)
Von den zugesagten 750 Mio. $ verausgabte GB erst 50 Mio. vor allem für Schtschutschje. Zusammenarbeit bez. Kizner wurde abgesagt.
Kanada verausgabte von seinen zugesagten 700 Mio. $ ca. 150 Mio., davon 100 Mio. für Schtschutschje.
Italien hatte in 2004 360 Mio. Euro für Potschep zugesagt. Das Abkommen ist bisher von Italien nicht ratifiziert. Frankreich verausgabte bisher von zugesagten 750 Mio. Euro 20 Mio. für Schtschutschje (Umweltmonitoring).
Die EU-Kommission verausgabte von zugesagter 1 Mrd. Euro bisher 13 Mio. (!), davon 10 Mio. über das AA für Gorny und Kambarka. Weitere Geber sind die Schweiz (u.a. für Green Cross Russland) und die Niederlande.
Nur die USA und Deutschland unterstützen und beliefern direkt die CW-Vernichtungstechnologie.
Potschep ist ein weiterer wichtiger Fortschritt bei dem Bemühen, die geächtete Waffenkategorie der Chemiekampfstoffe auch tatsächlich unschädlich zu machen - in einem komplizierten und teuren technischen Prozess. Unter den hier lagernden 67.000 Munitionskörpern befinden sich Bomben von bis zu 400 kg!
Von den deklarierten 40.000 Tonnen Chemiekampfstoffen in Russland wurden bisher rund 25% (teil-)vernichtet: 1.250 to Hautkampfstoffe Lost und Lewesit in der Pilotanlage Gorny, der größte Teil der 6.350 to Lewesit in Kambarka am Ural. In Maradikowskij bei Kirov findet bisher nur die erste Vernichtungsstufe (Hydrolyse ohne Verbrennung) statt. Hier wurden bis März 2008 4.200 to Vx-Nervengas aus 20.000 Granaten vernichtet. Die vierte Anlage in Leonidovka/Gebiet Pensa (550 km südöstlich von Moskau) nahm Mitte Juni ihren Betrieb auf. Die Anlage in Schtschutschje soll nach erheblichen Verzögerungen im August ihren Betrieb aufnehmen. Die Anlage in Kisner bei Kazan ist zzt. im Bau. Hier lagern über 2 Mio. kleinere Munitionskörper. Sie soll 2009 in Betrieb gehen. Insgesamt sollen die russischen CW-Bestände bis zum 29. April 2012 vernichtet werden.
(Von den 31.500 to deklarierten US-Beständen in 9 Lagern sind bisher 54% vernichtet. Zu 100% geschafft sind Johnston Atoll, Aberdeen, zu 71% Tooele, zu 44% Anniston, zu 32% Umatilla, zu 15% Pine Bluff, zu 85% neutralisiert Newport, zu 0% Pueblo und Blue Grass.)
Gewalttour in friedlichem Auftrag
Um 5.00 Uhr (3.00 Uhr MEZ) startet unser Delegationsbus am Traditionshotel Metropol in Sichtweite des Kreml. Unter Leitung des Stellv. Beauftragten der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, Botschafter Rüdiger Lüdeking, gehören zur Delegation der Leiter des Referats AA-244 „Abrüstungszusammenarbeit/Globale Partnerschaft" Dr. Andreas Pfaffernoschke, seine Stellvertreterin Astrid Wolf und Matthias Salomon-Lüer, Mitarbeiter des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung/BWB, MitarbeiterInnen der Firma Eisenmann/Envirotherm, Mitarbeiter der Botschaft und ich. Noch ist gutes Durchkommen in der Stadt, in der täglich 14 Millionen Menschen unterwegs sein sollen und der Autoverkehr auch auf den breitesten Rennschneisen immer dichter und stockender wird. Entlang der M-3 Richtung Kiew zeigt sich die russische Weite an diesem blauen Sonnentag von ihrer freundlichsten Seite. Wiesen und Wälder und Wälder und Wiesen, ganz selten mal in der Ferne eine Ortschaft, ein Kirchturm. Von der Grenze des Gebietes Brjansk an verschafft uns ein blinkender und heulender Polizei-Audi permantes Überholrecht. In Höhe Potschep biegen wir von der M-13 nach Süden Richtung Semtsy ab. Gelbe Schilder signalisieren linker Hand das Sperrgebiet mit dem CW-Lager. 12 km südlich davon befindet sich das Baugelände. Statt der geplanten sechs brauchen wir fast sieben Stunden, so dass die Zeremonie gekürzt wird. Die Begrüßung mit Brot und Salz entfällt. Dafür gibt es die Nationalhymnen zwei Mal.
Das Kerngelände umfasst ein eingezäuntes und gerodetes Areal von ca. 300 x 400 Meter. Während entlang der Stichstraße kräftig Rohre für Gas, Wasser etc. verlegt werden, hat sich auf dem Gelände noch nicht viel getan. Der Vorschrift wegen bekommen wir alle einen weißen Bauhelm.
Von der Tribüne sprechen vor ca. über 100 Versammelten Prof. Victor Cholstow, stellv. Leiter der Föderalen Agentur für Industrie, Botschafter Lüdeking, ich als Vertreter des Bundestages, der Gouverneur des Gebiets Brjansk, Nikolaj W. Denin, der Duma-Abgeordnete Andrej J. Botscharow und schließlich der mir seit 2000 bekannte Generalleutnant Kapaschin, Leiter der Föderalen Behörde für die sichere Lagerung und Entsorgung von Chemiewaffen.
Botschafter Lüdeking erinnert an den Abschluss des deutsch-russischen Regierungsabkommens von Dezember 1992 und den erheblichen gemeinsamen Leistungen seitdem. „Nicht ohne Stolz kann ich sagen: Deutschland war wesentlich an der Errichtung von zwei der drei derzeit in der Russischen Föderation in Betrieb befindlichen Chemiewaffenvernichtungsanlagen beteiligt.(...) Noch immer warten über 25.000 to chemische Kampstoffe darauf, innerhalb der nächsten knapp 4 Jahre vernichtet zu werden. (...) Die technischen und ökonomischen Herausforderungen, vor denen unsere russischen Partner dabei stehen, sind gewaltig. (...) Die historische Aufgabe der Vernichtung einer ganzen Kategorie von schrecklichen Massenvernichtungswaffen hat für die Bundesregierung weiterhin hohe sicherheits- und abrüstungspolitische Priorität. Die Unterstützung der entschlossenen russischen Bemühungen liegt auch im deutschen Interesse. Unser gemeinsames Projekt in Potschep und die heutige Grundsteinlegung für das Gebäude 11 sind der konkrete Beweis dieser Unterstützung. Bis Ende 2009 soll hier die komplette Anlage für die thermische Entsorgung der chemischen Kampfstoffe und für das Ausglühen der Munitionskörper betriebsfertig sein." Nach dem Dank an die russischen Partner der Föderalen Behörden und die Mitarbeiter der Firma Eisenmann für die stets konstruktive, engagierte und kompetente Zusammenarbeit geht Botschafter Lüdeking in diplomatischen Worten auf das Dauerproblem einer Projektplanung ein, die „unsere Zusammenarbeit vor besondere Herausforderungen" stellte und „eine Anpassung des ursprünglichen Zeitplans unvermeidbar" machte. „Wir lassen uns dadurch aber weder entmutigen, noch zur Untätigkeit verdammen. Ich bin sicher: Wir werden nach der heute erfolgten Grundsteinlegung die zügige Fertigstellung und Inbetriebnahme erreichen."
In Bewusstsein der deutsch-sowjetischen Kriegsgeschichte dieser Region, beflügelt vom historischen Lichtblick unserer heutigen Abrüstungszusammenarbeit und erleichtert, nicht wieder wie in Kambarka bei schneidender Kälte, sondern in Frühsommerwärme reden zu können, wende ich mich an die Versammelten:
Sehr geehrter Herr Professor Cholstow, sehr geehrter Herr Gouverneur,
sehr geehrter Herr General Kapaschin, sehr geehrte Kollegen Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich überbringe Ihnen die herzlichen Grüße des Deutschen Bundestages. Das deutsche Parlament fasste schon 1992 den vorausschauenden Beschluss, die Aufnahme einer deutsch-russischen Abrüstungszusammenarbeit zu fordern. Immerhin 10 Jahre vor dem Programm der „Globalen Partnerschaft".
Mir ist es eine besondere Freude, heute bei der Grundsteinlegung dabei sein zu können. Im Jahr 2000 habe ich in Gorny und in 2006 in Kambarka gesehen, in welch vorzüglicher Weise hier russische und deutsche Experten zusammenarbeiten.
Bisher ging es um Hautkampfstoffe. Hier in Potschep geht es um die Vernichtung von mehr als 7.500 to Nervenkampfstoffe, von VX, Sarin und Soman. Im Unterschied zu allen anderen einmal entwickelten Waffen wurden Nervenkampfstoffe nie eingesetzt. Jetzt soll dieses Teufelszeug endlich vernichtet werden.
Vor genau 20 Jahren hatte ich die Gelegenheit, den westlichen Teil der damaligen Sowjetunion - Weißrussland - zu besuchen. Dort stieß ich auf die Spuren des deutschen Überfalls und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Ich erfuhr von der Doppelschlacht von Wjasma-Brjansk im Oktober 1941. Ich fand den Befehl des Oberkommandos der 2. Panzerarmee über eine Aktion zur Plünderung und Vertreibung der Einwohner im Gebiet Brjansk.
Damals wäre völlig unvorstellbar gewesen, was heute hier geschieht, dass Russen und Deutsche gemeinsam daran arbeiten, die Altlasten des Kalten Krieges zu beseitigen.
Der Deutsche Bundestag bewilligt Jahr für Jahr die Gelder für die deutsch-russische Abrüstungszusammenarbeit. Ich muss gestehen, dass es im Parlament auch Stimmen gibt, die das kritisieren. Sie verweisen darauf, dass der deutsche Staatshaushalt hoch verschuldet ist, der russische hingegen schuldenfrei. Diese Kollegen erinnere ich daran,
Ich wünsche allen Beteiligten, dass sie ihre Fristen einhalten können, damit die Anlage Ende 2009 in Betrieb gehen kann. Auf Wiedersehen Ende 2009 in Potschep! Ich danke Ihnen."
Nach Verlesen der Gedenkurkunde wird diese in einer Stahlkapsel in das Fundament des künftigen Gebäudes 11 eingelassen. In der Gedenkurkunde heißt es:
„erfüllt von der Entschlossenheit zu handeln, um einen wirksamen Fortschritt in Richtung auf eine allgemeine und vollständige Abrüstung zu erzielen,
in dem Wunsch, zur Verwirklichung der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen beizutragen (...)
Die deutsch-russische Zusammenarbeit dient dem Ziel, eine ganze Kategorie von Massenvernichtungswaffen für immer zu vernichten und damit dem Weltfrieden zu dienen."
Gebäude 11
Das von Deutschland mit 140 Mio. Euro geförderte Projekt beinhaltet die Errichtung einer Anlage für die thermische Entsorgung von Reaktionsmasse, flüssigen und festen Reststoffen sowie für das Ausglühen und die Bearbeitung von entleerten Munitionskörpern. Die Ausrüstung entspricht weitgehend der in Gorny und Kambarka installierten. Wegen der höheren Gefährlichkeit der Nervenkampfstoffe (ungefähr hundertfache Tödlichkeit im Vergleich zu Hautkampfstoffen) ist die Verfahrenstechnik hier noch aufwendiger.
Generalauftragnehmer ist die Firma Eisenmann Anlagenbau GmbH & Co KG, Böblingen. (www.eisenmann.de)
Die Vernichtung der 4.851,5 to Vx, der 2.443,2 to Zähsoman und 252,4 to Sarin geschieht nach einem russischen, von der OVCW anerkannten Verfahren: Zuerst wird der Kampfstoff durch Zugabe von Chemikalien in eine hochtoxische Reaktionsmasse verwandelt. Diese wird in zwei Linien für Reaktionsmassen und flüssige Reststoffe in zwei Hochturbulenzreaktoren (TURAKTOR) bei ca. 1.200 °C verbrannt. Flüssige Reststoffe sollen bis zu 2.000 kg/h verbrannt werden können, feste Reststoffe bis zu 900 kg/h.
Das dabei entstehende Rauchgas wird in einem mehrstufigen Verfahren (Quenche, Wäscher, Elektrofilter) von Schadstoffen gereinigt und über einen Kamin ins Freie abgegeben.
Die entleerten und gespülten Munitionskörper werden eine Stunde lang im Ofen bei bis zu 900 °C ausgeglüht und dann deformiert oder zerschnitten.
Die Gesamtanlage ist ausgelegt im Rahmen der entsprechenden deutschen und russischen Gesetze, Vorschriften und Normen und den besonderen Bestimmungen für die Entsorgung toxischer Stoffe.
Das Gebäude 11 wird mit allen Anlagen als funktionsfähige Einheit schlüsselfertig geliefert.
Nach Abschluss des Vertrages der Fa. Eisenmann mit der zuständigen Föderalen Agentur für Industrie im März 2007 verzögerte sich die Projektabwicklung, weil technische Anforderungen mehrfach präzisiert und geändert wurden. Das erforderte mehrere Vertragsänderungen und hatte die Verschiebung des ursprünglichen Starttermins von Februar auf November 2009 zur Folge. Hinzu kamen Überschwemmungen des Bauplatzes.
Die Fa. Eisenmann plant für September 2008 eine Vormontage der Anlage in Holzgerlingen bei Stuttgart. Nach der Vorabnahme durch die russische Seite soll die Anlage nach Russland versandt und dort montiert werden. Dafür ist es ausschlaggebend, dass bis zum Winterbeginn im November das Gebäude 11 steht. Alle Beteiligten sind sehr gespannt, ob diese Deadline eingehalten werden kann.
Öffentlichkeit + Transparenz
Im einige Kilometer entfernten Komplex „Internationale Inspektionen" sind die Gebäude mit weißen und blauen Luftballons geschmückt. Hier werden ständig 10-12 internationale Inspekteure untergebracht sein.
Zur Pressekonferenz sind ca. 30 JournalistInnen erschienen, wie es scheint, überwiegend aus der Region. Die angemeldeten deutschen Journalisten sind nicht gekommen. (Die AA-Pressemitteilung vom Tage findet in den Medien keinerlei Widerhall.)
Botschafter Lüdeking hatte 1987 bis 1990 an den Genfer Verhandlungen zum CWÜ teilgenommen. Im Gedächtnis sei die sehr gute und verlässliche Zusammenarbeit mit der damaligen sowjetischen Delegation. Damals habe sich gezeigt, was mit gutem Willen trotz Kaltem Krieg möglich war.
Ein Thema sind die anfänglichen Proteste in der Bevölkerung. Der Gouverneur verweist auf die Notwendigkeit von Offenheit und Informationen sowie das Diagnosezentrum. Potschep bekomme ein Krankenhaus, Schulen, Wohnraum und zusätzliche Haushaltsmittel.
Auf eine Frage nach den Sicherheitsgarantien wird betont, dass die hiesigen Bestimmungen den internationalen Anforderungen entsprechen würden. Bei bisherigem Vernichtungsbetrieb habe es bisher keinerlei Vorfälle gegeben. Eine militärische Einheit bewache die Anlage bis 2012. Insgesamt werden hier 1.500 Personen arbeiten, die Hälfte davon aus der Region.
(Am 31.10.-1.11.2007 fand in Moskau der 9. Nationale Russische Dialog über Chemiewaffen Nichtverbreitung und Vernichtung statt. Zu der von Green Cross Russia, Green Cross Switzerland und Global Green USA organisierten Tagung kamen ca. 150 Experten von lokalen und föderalen Behörden, Bewohner der von der CW-Vernichtung betroffenen Regionen, ausländische Diplomaten, Wissenschaftler und Medienvertreter zusammen. Ausgangspunkt dieses Dialogprozesses ist, dass die Chemiewaffen wegen zu großer Transportrisiken nur an den Orten ihrer Lagerung vernichtet werden können, dass diese Vernichtung aber nur mit Unterstützung der betroffenen Bevölkerung und nicht gegen sie gelingen kann. Die erste Unterstützung für die Beteiligung der Zivilgesellschaft kam von der Schweizer Regierung. Dann beteiligte sich auch die russische Regierung. Vgl. dazu der Beitrag von Prof. Cholstov in der Dokumentation der Tagung des 9. Nationalen Russischen Dialogs.)
Die Chemie stimmt
Den Abschluss der Grundsteinlegung bildet ein üppiges Arbeitsessen in kleinem Kreis. Nach dem formalen Ernst der vorherigen Zeremonien und Reden bekommen nun Gefühl und Witz ihre, von Trinkspruch zu Trinkspruch wachsende Chance. Besonderes Lob erfahren von Prof. Cholstow und General Kapaschin zwei Abwesende: Kollegin Uta Zapf, Vorsitzende des Unterausschusses Abrüstung des Bundestages, und der so erfahrene wie abgehärtete Horst Minning vom BWB. Der General erinnert sich noch sehr deutlich an seine Begegnung der neuen Art, als ihm bei unserem ersten Besuch im Jahr 2000 eine starke Abgeordnete seinen Redefluss unterbrach und ihm bei den Verhandlungen Paroli bot.
Ein Medizinprofessor spricht mich auf meine „flammende Rede" an: Von vier Brüdern sei nur sein Vater aus dem Krieg zurück gekommen. Seine Tochter sei jetzt mit ihrem Mann, einem Diplomaten in Berlin und habe dort eine Tochter geboren. Sie sei „gut versorgt", sagt er mit deutlicher Bewegung.
Auf der Rückfahrt fahren wir noch kurz durch den 17.000-Einwohner-Ort Potschep, Verwaltungszentrum des gleichnamigen Rajons und 80 km südwestlich der Oblasthauptstadt Brjansk. Potschep wurde am 22. August 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt und am 21. September von der Roten Armee zurückerobert. Potschep liegt in einem sanft welligen Grünland mit Wiesen, Baumgruppen und Wäldern. Die vielen traditionellen Holzhäuser machen einen ordentlichen, keineswegs ärmlichen Eindruck. Etliche sind frisch gestrichen. Im Ortszentrum werden die Gebäude zweistöckig, überragt von einer Kirche und einem kleinen Kaufhaus.
Zurück nach Moskau brauchen wir mit unserem engen Kleinbus fast 8 Stunden. Insgesamt waren wir heute bald 15 Stunden auf (Bus-)Achse.
Politische Gespräche
Am Vortag Gespräch in der Staatsduma mit Juri Aleksandrowitsch Kwizinski, erster stellv. Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, 1978-1980 an der sowjetischen Botschaft in Bonn, Kommunistische Partei. Themen sind die aktuelle Krise um den KSE-Vertrag, eine Anhörung der Duma zu Post-Conflict-Regionen, die deutsche Politik gegenüber dem ehemaligen Jugoslawien, die Politik von USA und NATO generell, das Afghanistan-Engagement des Westens vor dem Hintergrund der sowjetischen Erfahrungen, das enorme Konfliktpotenzial eines NATO-Beitritts der Ukraine.
Der sehr gut Deutsch sprechende langjährige Diplomat hat unverkennbar hohe Sympathie gegenüber Deutschland - und bewegt sich dabei voll im Rahmen sowjetischer Wahrnehmungs- und Politikmuster. Das westliche Afghanistan-Engagement begrüßt er außerordentlich, auch die Genehmigung des militärischen Transits über russisches Gebiet - allerdings aus überraschenden Gründen: So lange die NATO dort sei, bestehe keine Gefahr für andere Länder, dass ihnen von der NATO „geholfen" werde. Die Sowjetunion sei nur aus ideologischen Gründen in Afghanistan gewesen, sie habe dort nichts zu suchen gehabt. In diesem Land gebe es eine Regel: Eine Demokratie nach westlichem Muster gebe es dort nie. Die Völker dort seien in einem Zustand, der das nicht zulassen würde. Dort in die die Tiefe einzudringen, brauche Jahrzehnte, viel Geld und Hartnäckigkeit. Unsinn sei, dort von Aufbauprozess zu sprechen. Afghanistan müsse man in Ruhe lassen.
Zusammenfassung
Nirgendwo auf der Welt gibt es technisch so fortgeschrittene Anlagen zur Chemiewaffenvernichtung wie die in Kambarka und künftig in Potschep. Bisher geschieht in Russland eine vollständige Vernichtung von Chemiekampfstoffen allein in den mit deutscher Abrüstungshilfe errichteten Anlagen. Die Hunderte Mio. Euro aus Deutschland für Gorny, Kambarka, Potschep, den Schutz nuklearer Materialien und die Zerlegung und Zwischenlagerung der Atom-U-Boote sind eine Investition in internationale und gemeinsame Sicherheit und kommen beiden Seiten zugute. Dass hierbei Deutschland offenbar „privilegierter Partner" Russlands ist, liegt nicht einfach an besonderer Freigebigkeit, sondern der besonderen technischen und interkulturellen Kompetenz auf deutscher Seite (einige der inzwischen pensionierten Experten haben als DDR-Bürger in Russland studiert) und einer harten, ergebnisorientierten Verhandlungsmethode. Die zuständigen Beamten von AA und BWB sowie die Mitarbeiter der Firmen erfahre ich auch dieses Mal wieder als ausgesprochen kompetent, ausdauernd, offen und herzlich. Es sind Pioniere praktischer Abrüstung.
Die kontinuierliche Begleitung der Abrüstungszusammenarbeit durch den Bundestags-Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung scheint gerade für den Fortgang der CW-Vernichtung recht hilfreich zu sein.
Bedauerlich ist, wie „verlässlich" die Lichter dieser hoffnungsvollen und vorbildlichen Abrüstungszusammenarbeit unter dem Scheffel bleiben.
Weitere Informationen:
- Green Cross Russia/Green Cross Switzerland/Global Green USA: 9th Russian National Dialogue On Chemical Weapons Nonproliferation And Destruction, 31. October-1- November 2007 Moscow (www.green-cross.rus/CWD-2007-Text-eng.pdf)
- OPCW - THE SAFE DESTRUCTION OF THE CHEMICAL WEAPONS IN THE RUSSIAN FEDERATION, Photo-Exhibition to the Second Special Session of the Conference of the States Parties to Review the Operation of the Chemical Weapon Convention, 7.-18. April 2008 The Hague, ARMS-TASS Moskau 2008
- Paul Walker (Global Green USA): Five Year CWC Review Conference The Hague, The Netherlands, April 9, 2008 (www.cwc2008.files.wordpress.com/2008/04/walker-presentation.pdf)
- Winfried Nachtwei: Deutsch-Russischer Abrüstungserfolg am Ural: Inbetriebnahme der CW-Vernichtungsanlage in Kambarka, Februar 2006 (www.nachtwei.de)
- Winfried Nachtwei: Besuch der Polotanlage für Chemiewaffenvernichtung in Gorny/Gebiet Saratov 4./5. September 2000
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: