So eine Langzeitstudie hat es europaweit noch nicht gegeben - und das zu einem politisch strittigen Thema: zu dem deutschen ISAF-Kontingent, das im besonders gewaltintensiven Jahr 2010 im Einsatz war. Wo es hierzulande wohl viel an Meinung, aber viel weniger Wissen zum AFG-Einsatz gibt, kommen jetzt diejenigen zu Wort, die besonders viel mit afg. Bevölkerung und Sicherheitskräften zu tun hatten und die die harten Seiten dieses faszinierenden Landes erlebt haben. Die repräsentativen Befragungen + Intervies fanden vor, während und nach dem Einsatz (wenige Wochen und drei Jahre) statt. Hier meine kommentierte Zusammenfassung.
Einmalige Langzeitstudie zu deutschen Afghanistan-Rückkehrern: Wie verarbeiten sie ihre Einsatzerfahrungen,
Wie stehen sie drei Jahre danach zum AFG-Einsatz?
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (05.03.2019)
Seit 2001 entsandten Bundesregierung und Bundestag über 90.000 Bundeswehrangehörige in den internationalen und UN-mandatierten ISAF-Einsatz nach Afghanistan, viele von ihnen mehrfach. Im öffentlichen Diskurs um Auslandseinsätze dominieren seit den 1990er Jahren legitimatorische und strategische Fragen des Afghanistaneinsatzes. Weniger thematisiert wurde hingegen, wie die Soldaten selbst die Realität des Einsatzes wahrnehmen, welche Erfahrungen sie machen, wie sie diese verarbeiten und was der Einsatz mit ihnen macht.
Das Zentrum Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) veröffentlichte am 22. Februar 2019 eine sozialwissenschaftliche Langzeitbegleitung zum 22. deutschen ISAF-Kontingent, die in ihrer Art für die Bundeswehr erstmalig und auch europaweit einmalig ist: „Leben nach Afghanistan – Die Soldaten und Veteranen der Generation Einsatz der Bundeswehr“ von Dr. Anja Seiffert und Julius Heß M.A., 340 S.,
Das 22. Kontingent war zwischen März und Oktober 2010 in Afghanistan eingesetzt. 2010 war mit über 120 Feindkontakten (2009 77, 2011 49, insgesamt bis 2014 knapp 400) das gewalt- und gefechtsintensivste Jahr, das Bundeswehrsoldaten je durchgemacht haben. Sie erlebten Krieg. (Ergänzende Informationen zum Einsatzkontext 2010 im Anhang) Sie machten einschneidende, je nach Zeitpunkt, Region und Funktion aber auch sehr verschiedene Erfahrungen.
Die Soldaten wurden wenige Woche vor dem Einsatz, während des Einsatzes, wenige Wochen nach der Rückkehr und nochmals knapp drei Jahre später (2013) befragt. Der Methodenmix bestand aus Fragebogenerhebungen, Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmender Beobachtung. Der Fokus der Studie liegt auf längerfristigen Folgen und Wirkungen des Einsatzes bei den (Einsatz-)Soldaten und Veteranen.
Das Themenspektrum der empirischen Untersuchung umfasst
(1) den Einsatzkontext des Jahres 2010 und der Befragten („Generation Einsatz“), ihre Gewalterfahrungen und interkulturelle Erfahrungen im Einsatz
(2) Individuelle Auswirkungen: Belastungen direkt nach dem Einsatz und drei Jahre später; persönliche Veränderungen nach dem Einsatz; Verletzungsfolgen des Einsatzes, subjektive Gesundheit und persönliches Wohlbefinden drei Jahre danach, Auswirkungen des Einsatzes auf die Lebenszufriedenheit
(3) Soziales und berufliches Umfeld: einsatzbedingte Veränderungen für Familie und Partnerschaft, Liebesbeziehungen und Trennungen, Unterstützung für Rückkehrer und ihre Familien, kommunikativer und persönlicher Umgang mit Einsatzerfahrungen, Integration von Einsatzerfahrungen in den Dienst und Auswirkungen des Einsatzes auf die berufliche Entwicklung
(4) Einstellungen zum Einsatz des 22. Kontingents, zum ISAF-Einsatz insgesamt, zur Anwendung militärischer Gewalt und zur sozialen Anerkennung von Rückkehrern.
Die Befragungs- und Beobachtungsergebnisse sind differenziert und keineswegs uniform, teilweise überraschend positiv und im Gegensatz zu gängigen Wahrnehmungsmustern. Deutlich benannt werden aber auch empfindliche Problemfelder und drängende Herausforderungen. Die Studie ist eine Fundgrube an empirischen Erkenntnissen zu den Einstellungen, Erfahrungen und zur Erfahrungsverarbeitung extrem geforderter Einsatzsoldaten - als Individuen, in ihren privaten Beziehungen, in ihrem Verhältnis zum 22. Kontingent und zur Bundeswehr, zu Sinn und Wirksamkeit des Einsatzes, zum Einsatz militärischer Gewalt, zur Wertschätzung durch Politik und Bevölkerung. Ich empfinde die Studie als sinnvoll irritierend und äußerst hilfreich.
Die Angehörigen des 22. Kontingents waren so dicht am Boden härtester afghanischer Realitäten wie kaum jemand sonst. Sie waren mit dem scharfen Ende des Afghanistaneinsatzes konfrontiert. Ihre Erfahrungen und Schlussfolgerungen verdienen nicht nur besonders sorgfältige Beachtung, sondern vor allem auch entschiedene Konsequenzen.
Die politische und militärische Führung der Bundeswehr hat die Studie ISAF-2009 und die Fortsetzung der Begleitung 2012 in Auftrag und jetzt auch freigegeben. Das ist sehr zu begrüßen.
Die Beauftragung der Studie durch das Verteidigungsministerium mindert nicht ihre Glaubwürdigkeit und macht sie keineswegs zu einem Gefälligkeitsgutachten. Die SozialwissenschaftlerInnen des ehemaligen SOWI und jetzigen ZMSBw sind auch im Rahmen der Ressortforschung auf wissenschaftliche Grundprinzipien und Methodik verpflichtet. Ihr methodisches Vorgehen ist transparent und überprüfbar.
Vor allem beim Doppeleinsatz in Mali (MINUSMA und EUTM Mali) sind Bundeswehrsoldaten mit Einsatzbedingungen konfrontiert, die sich erheblich von den bisherigen Einsätzen im eingespielten NATO-Kontext unterscheiden. Dies gilt besonders für eine UN-Mission wie MINUSMA, wo Bundeswehrsoldaten eine deutlich kompliziertere Multinationalität erfahren. Die neueren Einsatzerfahrungen systematisch mit einer neuen Kontingentbeobachtung zu erfassen und auszuwerten, wäre ausgesprochen sinnvoll – zum Besten der eigenen Soldaten und zur Effektivitätsverbesserung des deutschen Missionsbeitrags. In Zeiten des viel zitierten vernetzten Ansatzes wäre es an der Zeit, wenn auch andere Ressorts die Einsatzerfahrungen ihrer inzwischen nach Tausenden zählenden entsandten Polizisten und Zivilexperten systematisch erfassen würden.
EINZELERGEBNISSE
(Die Untersuchungsergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst, streckenweise paraphrasiert und teilweise kommentiert.)
(1) Einsatzerfahrungen
Vorherige Einsatzerfahrung: 69% waren vorher in mindestens einem Einsatz, davon 19% in vier und mehr (von sämtlichen Bundeswehrsoldaten des Jahres 2012 hatten nur 39% an einem Einsatz teilgenommen). Zu dieser „Generation Einsatz“ gehören überdurchschnittlich viele Berufssoldaten, Männer, Feldwebel.
Einsatzkontext des 22. Kontingents: Es war hochkomplex, v.a. im Raum Kunduz und Baghlan mit jederzeitiger Anschlagsgefahr, mit Hinterhalten, vielen komplexen Angriffen der Aufständischen und asymmetrischen Gefechtssituationen. Erstmalig seit Beginn der Auslandseinsätze wurde ein Gefechtsverband geschlossen und dauerhaft über mehrere Monate außerhalb militärischer Eisatzliegenschaften eingesetzt. Die Aufgaben changierten zwischen Aufstandsbekämpfung, Stabilisierung und Ausbildung. Das 22. Kontingent hatte sieben Gefallene und 28 teilweise schwer Verwundete zu beklagen. 36 Soldaten mussten den Einsatz wegen psychiatrischer Diagnosen vorzeitig abbrechen.
Gewalterfahrungen: Die Kontingentangehörigen waren mit einem Patchwork unterschiedlicher Erfahrungswelten konfrontiert. Die wenigsten verfügten über vorherige Kampferfahrungen: 53% erlebten feindlichen Beschuss, 44% den Tod von Kameraden, 50% die Verwundung von Kameraden; 28% kämpften in Gefechten gegen Aufständische. Gefechtserfahrungen waren am häufigsten in Kunduz und Baghlan und bei der Quick Reaction Force (QRF) und den späteren Task Forces/Ausbildungs- und Schutzbataillonen, am geringsten in Mazar, in Planungs-, Führungs- und Unterstützungsaufgaben. Mannschaften waren zu 50%, Jüngere zu 55%, Stabsoffiziere und über 40-Jährige zu 10% in Gefechte verwickelt.
Interkulturelle Einsatzerfahrungen: Regelmäßigen Kontakt mit Kameraden anderer Nationen hatten 69%, zwei Drittel werteten die multinationale Zusammenarbeit positiv. Regelmäßige Kontakte zur afghanischen Bevölkerung hatten 56%, zu afghanischen Sicherheitskräften 52%. 22% hatten keinerlei Kontakte zur Bevölkerung. 48% machten positive Erfahrungen im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung, 18% negative.
Anmerkung: Im Vergleich zu früheren und späteren Kontingenten ist der Anteil der außerhalb der Feldlager agierenden Soldaten bemerkenswert hoch. Im Vergleich zu etlichen anderen ISAF-Streitkräften soll die interkulturelle Kompetenz der Bundeswehrsoldaten relativ gut gewesen sein. Eine offene Frage ist, wie die Einsatzsoldaten mit der asymmetrischen Konfliktsituation umgegangen sind, wo Kommunikation und Vertrauensbildung für einen Stabilisierungseinsatz essentiell sind, wo die Nichtunterscheidbarkeit von Zivilpersonen und Aufständischen schnell in einen Generalverdacht gegen alle männlichen Afghanen münden konnte.
(2) Individuelle Auswirkungen
Belastungen direkt nach Rückkehr + drei Jahre später: Die allgemeinen Rahmenbedingungen und Anforderungen des Dienstes in Deutschland hatten für die Mehrzahl der Befragten direkt nach der Rückkehr wie auch drei Jahre später ein wesentlich höheres Belastungspotenzial (alltägliche Bürokratie im Dienst, hohes Arbeitsaufkommen) als mit dem Einsatz verbundene Beanspruchungen. Im Vergleich dazu spielten familiäre Probleme (22%) und psychische und physische Probleme (15 bzw. 8%) eine geringere Rolle.
Gefechtserfahrene berichten auffällig häufiger von bleibenden psychischen oder physischen Verletzungen (8%) als die Vergleichsgruppe (3%). Fremdheitsgefühle im Alltag benennen direkt nach der Rückkehr 26%, drei Jahre später noch 9%. 7% der aktiven Soldaten und der Veteranen berichtet von bleibenden psychischen und physischen Einsatzfolgen und Fremdheitsgefühlen im Alltag.
Sehr zu denken gibt, dass die Mehrzahl der Einsatzrückkehrer die dienstlichen Rahmenbedingungen nach Rückkehr, insbesondere die alltägliche Bürokratie, als belastender empfinden als die streckenweise kriegerische und lebensbedrohliche Einsatzrealität!
Persönliche Veränderungen nach dem Einsatz (S. 119 ff.): „So ein Einsatz prägt und verändert“ – so ein Einsatzsoldat. Wesentliche Faktoren dabei waren Alterseffekte, Gewalterfahrungen, interkulturelle Erfahrungen im Umgang mit der afghanischen Bevölkerung und Sicherheitskräften und insbesondere die erlebte Kameradschaft und der besondere Zusammenhalt im Einsatz[1] – aber auch Einschätzungen zur Wirksamkeit des Einsatzes mit dem 22. Kontingent. Es wird bei Weitem mehr von positiven als von negativen persönlichen Veränderungen berichtet. Positive Veränderungen stellen für Soldaten und Veteranen drei Jahre nach dem Einsatz nicht eine Ausnahme, sondern die Regel dar. 67% der Soldaten, 78% der Veteranen berichten, der Einsatz habe sie selbstbewusster gemacht. 55/62% wissen das Leben mehr zu schätzen. 40/51% meinen, psychisch belastbarer zu sein. 65/55% fanden nach der Rückkehr schnell wieder in das private Leben zu Hause zurück.
13/15% berichten demgegenüber, aggressiver geworden zu sein und sich vom privaten Umfeld zurückgezogen zu haben (10/12%) oder sich noch immer fremd im eigenen Leben zu fühlen (4/8%).
Ein Soldat des Kontingents resümierte seine Erfahrungen mit den Worten: „Es war meine beschissenste und gleichzeitig meine beste Zeit.“ (S. 126)
Dass die Mehrheit der Einsatzrückkehrer von positiven Veränderungen der eigenen Persönlichkeit (persönliches Wachstum) durch den Einsatz berichtet, ist z.B. für Abgeordnete, die häufiger Einsatzsoldaten begegneten, keine Überraschung. Für die breitere Öffentlichkeit dürfte diese Erkenntnis ziemlich neu sein. Widerlegt wird hiermit das in Fernsehspielfilmen dominierende und stigmatisierende Zerrbild, wonach Einsatzrückkehrer generell geschädigt, hoch gefährlich und brutal sind.
Verletzungsfolgen des Einsatzes: 2% musste den Einsatz wegen körperlicher oder seelischer Verwundung vorzeitig abbrechen. Jeder Fünfte gibt an, sich direkt nach der Rückkehr in ärztliche oder psychologische Behandlung begeben zu haben. Drei Jahre später gingen die Behandlungskontakte auf 13/10% zurück, bei Task Force-Angehörigen von 26 auf 12%.
Für 13% der Soldaten und 10% der Veteranen, die sich durch andauernde gesundheitliche Probleme im Alltag eingeschränkt fühlen, hat der Einsatz auch langfristig negative Folgen gezeitigt. Ein wesentlicher Faktor für gesundheitliche Probleme direkt nach Rückkehr und drei Jahre danach war die tatsächlich erlebte Gewalt. Gefechtserfahrene begaben sich nach Rückkehr häufiger in Behandlung (28%). Fast ein Fünftel von ihnen fühlten sich auch drei Jahre danach durch einsatzbedingte Schädigungen gesundheitlich eingeschränkt. Von den überwiegend in Außenposten und in der Fläche operierenden Soldaten der Task Forces fühlen sich auch drei Jahre danach noch 27% durch einsatzbedingte gesundheitliche Probleme bzw. bleibende Verwundungen im Alltag eingeschränkt. (S. 136 ff.)
Auch wenn der Anteil der seelisch Verwundeten an den Einsatzrückkehrern deutlich geringer ist als gemeinhin erwartet, besteht keinerlei Grund zur Entwarnung. Viel zu lange wurden psychische Verwundungen negiert und kleingeredet. Erst seit rund zehn Jahren wurde in der Bundeswehr und in der Politik erkannt, wie heimtückisch, hoch belastend und langwierig solche Einsatzschädigungen, insbesondere PTBS, sind, dass es jeden im Einsatz treffen kann, und das oft erst etliche Jahre nach dem Einsatz. Hier geht es um eine vierstellige Zahl an schweren Einzelschicksalen, wo Partner und Familien erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Für das befragte 22. Kontingent sind das allein etwa 500 Soldaten, die zum Teil auch längerfristig erheblich kämpfen, um in den Alltag zurückzukommen.
Gesundheitsrisiko nach dem Einsatz: Drei Jahre nach dem Einsatz gelten alltäglicher Stress und Hektik im gegenwärtigen Alltag für 75/71% als größter Risikofaktor. Deutlich angestiegen ist das Stressempfinden bei denen, die von bleibenden psychischen oder physischen Beeinträchtigungen berichten.
73/84% schätzen die eigene Gesundheit drei Jahre nach Rückkehr als gut ein. 8/4% attestieren sich eine schlechte Gesundheit.
Persönliches Wohlbefinden: Drei Viertel der Befragten erleben sich im Alltag als mental überwiegend ausgeglichen. Ein Viertel berichtet von einem schlechten oder sehr schlechten persönlichem Wohlbefinden.
Auswirkungen des Einsatzes auf die Lebenszufriedenheit: Mehr als zwei Drittel der Kontingentsangehörigen äußern sich im Großen und Ganzen zufrieden mit dem eigenen Leben. Ein Viertel berichtet von einer gemischten Lebenszufriedenheit, 7/8% sind persönlich unzufrieden. (S. 175 ff.)
(3) Soziales und berufliches Umfeld
Veränderungen für Familie und Partnerschaft (S. 194 ff.): Dreiviertel der Befragten leben in festen Partnerschaften, fast die Hälfte hat eigene Kinder. 21/25% berichten von positiven, fast ähnlich viele von negativen Veränderungen ihrer Partnerschaften. 39/43% berichten, dass ihre Partnerschaft aus der Einsatzzeit gestärkt hervorgegangen sei. Für 72/63% ist die Familie wichtiger geworden.
Die lange einsatzbedingte Trennung ist für 59% der Soldaten der wichtigste Grund, der gegen einen erneuten Einsatz spricht. Die Höhe der Einsatzbereitschaft von Alleinstehenden und partnerschaftlich Gebundenen unterscheidet sich kaum. Einen wesentlichen Unterschied macht aber die Einstellung der Partner/Familien zu einem Einsatz: Wo sie positiv ist, liegt die Bereitschaft zu einem erneuten Einsatz bei 84%, bei kritischer Haltung bei 54%.
Unterstützung für Einsatzrückkehrer und ihre Familien (S. 214 ff.): Fast jeder der Soldaten (91/93%) nahm nach der Rückkehr in der einen oder anderen Art und Weise Hilfe in Anspruch, vier Fünftel bei Verwandten + Freunden, Kameraden, Vorgesetzten oder der eigenen Teileinheit.
Gesprächsangebote des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr werden unter Gefechtserfahrenen besonders häufig in Anspruch genommen (61%). Von diesen haben sogar 90% im Kameradenkreis Hilfe nachgefragt. Bei der Bewertung psychosozialer professioneller Unterstützung liegt die Militärseelsorge mit 65/61% vorne (S. 221). Neben mehr Verständnis und Unterstützung von Vorgesetzten/Teileinheit werden vor allem mehr Hilfen für Partner und Familien gewünscht, insbesondere eine gemeinsame Auszeit mit der Familie nach der Rückkehr. Ausgeschiedene Kontingentangehörige vermissen am meisten den Austausch mit Kameraden aus dem Einsatz und wünschen sich mehr Unterstützung durch die Bundeswehr etwa in Form regelmäßiger Veteranentreffen.
Langfristige Strategien im Umgang mit Einsatzerfahrungen (S. 229): Der Kameradenkreis ist der zentrale Ort, an dem das im Einsatz Erlebte besprochen und verarbeitet wird. Etwa ein Drittel redet ausschließlich im Kameradenkreis über im Einsatz erlebte Risiken und Bedrohungen, über ein Viertel redet darüber auch mit Partnern und Familie. Fast jeder Zweite hat auch drei Jahre später nicht mit Partnern/Familie über das Erlebte gesprochen.
Die zentrale Rolle des Kameradenkreises zeigt sich auch in der Intensität der Kontakte (mindestens alle zwei Wochen), die viele Soldaten und Veteranen noch drei Jahre danach pflegen: bei Soldaten 48%, bei Veteranen 27%, bei Gefechtserfahrenen sind es 68/40%.
Dass fast jeder Zweite auch drei Jahre danach nicht mit Partner/Familie über das im Einsatz Erlebte gesprochen hat, ist nachvollziehbar, wenn das Berichten von ständiger Gefahr, von Verwundungen, Tod und Angst Angehörige hineinzieht und unabsehbar belastet - und das ohne den Stabilitätsanker Kameradschaft. Auf der anderen Seite kann die Abkapselung riskant sein. Hier könnten diejenigen Rückkehrer hilfreich sein, die Gespräche über die Einsatzerfahrungen mit ihren Partner und Angehörigen geschafft haben. Welche Faktoren haben das erleichtert? Brachte es Erleichterung?
Integration von Einsatzrückkehrern in das dienstliche Umfeld: „Das ist eine ganz andere Welt“ – so ein Rückkehrer. In der eigenen Teileinheit fühlen sich mehr als vier Fünftel respektiert, 6% nicht.
Identifikation mit dem Soldatenberuf und Bindung an die Bundeswehr (S. 247): 74% der Soldaten und 65% der Veteranen fühlen sich drei Jahre nach dem Einsatz eng mit der Bundeswehr verbunden. 8% bekennen, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen.
Auswirkungen des Einsatzes auf das berufliche Fortkommen: Fast die Hälfte der Befragten (44/56%) meint, der Einsatz habe sie beruflich nicht weitergebracht. Nur 27/18%
meinen, die Einsatzteilnahme habe ihre Karriereaussichten verbessert.
(4) Einstellungen zum Einsatz des Kontingents und ISAF insgesamt, zu militärischer Gewaltanwendung, zur Anerkennung durch Politik und Gesellschaft
Soldatische Motivation und Identifikation mit dem Einsatz (S. 251 ff.): 78% der Soldaten und 86% der Veteranen sind stolz, Soldaten des 22. Kontingents gewesen zu sein. 9/7% hätten lieber auf den Einsatz verzichtet. Über 90% beurteilen die Leistung ihrer Teileinheit als gut. Die Verdienste des Gesamtkontingents werden zurückhaltender, aber immer noch mehrheitlich positiv wahrgenommen: 54/57% beurteilen das Gesamtkontingent als erfolgreich. Der Stolz auf die Zugehörigkeit zum 22. Kontingent nimmt von 66% im Einsatz über 76% sechs Wochen nach dem Einsatz auf 81% drei Jahre später zu (S. 259). Parallel wächst auch die Bereitschaft zu einem weiteren Auslandseinsatz: von 59% im Einsatz über 66% sechs Wochen nach dem Einsatz bis 68% drei Jahre später. Allerdings kann nur ein Drittel im Kameradenkreis die Einsatzteilnahme empfehlen.
Einstellungen zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan drei Jahre später (S. 265):„Das darf nicht umsonst gewesen sein“ – so ein Einsatzrückkehrer.
- Mehr als die Hälfte (55%) steht 2013 weiterhin hinter der politischen Entscheidung, die Bundeswehr nach Afghanistan zu entsenden. 58% meinen, die Bundeswehr solle sich über 2014 hinaus in Afghanistan engagieren.
- Über die anhaltende politische Akzeptanz des Einsatzes hinaus berührt aber die Wirksamkeit des eigenen Handelns den „Motivations- und Identitätskern“. 52% meint, der Einsatz habe positive Effekte für die Entwicklung Afghanistans gehabt. Ein Viertel (27%) bewertet den Bundeswehreinsatz als letztendlich nutzlos und dass er zu keiner grundlegenden Besserung beigetragen habe. Weitere 26% stimmen dieser Aussage teilweise zu. 54% der gefechtsunerfahrenen, 46% der gefechtserfahrenen Soldaten meint, der Einsatz helfe Menschen in Afghanistan, 13/20% stimmen dem nicht zu.
- Allerdings befürworten nur 17% einen umgehenden Abzug. 64% lehnen ihn ab. 85% meinen, dass die Gewalt bei Abzug wieder eskalieren würde.
- Die politische Unterstützung des Bundeswehreinsatzes hierzulande wird allerdings sehr skeptisch gesehen: Nur 17% meinen, dass die deutsche Politik hinter dem Einsatz der Bundeswehr steht.
- Die Gefechtserfahrenen sind in ihren Bewertungen durchweg skeptischer als die Gefechtsunerfahrenen: 33% beurteilen den Einsatz als letztendlich nutzlos; nur 12% meinen, dass die deutsche Politik hinter dem Einsatz steht.
- Ein weiteres Engagement mit verstärkten Aufbauanstrengungen ziviler Organisationen und zusätzlichen Ausbildungs- und Beratungsaufgaben der Bundeswehr befürwortet rund die Hälfte der Befragten, 37% halten das nur teilweise für sinnvoll, 16% lehnen das explizit ab. Letztere sind häufig der Auffassung, dass die Gewalt mit ISAF-Abzug eskalieren würde und dass die Bundeswehr weiterhin robust in Afghanistan vorgehen solle. 40% meinen, dass die Bundeswehr ihren Auftrag in Afghanistan auch künftig durch aktive Kampfhandlungen durchsetzen solle. Fast genauso viele lehnen diese Position ab.
Die Soldaten, die am dichtesten an der harten Realität des Afghanistaneinsatzes und der afghanischen Bevölkerung waren, die die Wirksamkeit und Grenzen des Einsatzes vor Ort erlebten, haben ein erheblich positiveres Bild des Einsatzes als die deutsche Bevölkerung, die den Einsatz aus der Ferndistanz überwiegend ablehnt. 55% halten den Einsatz für grundsätzlich sinnvoll und sehen Wirkung (52%). Dass jeder Vierte den Einsatz als letztendlich nutzlos ansieht, von den Gefechtserfahrenen sogar 33%, ist keine abwegige Position. Der „Heimvorteil“ der Aufständischen, ihr „sicherer Hafen“ in Pakistan, ein Übermaß an schlechter Regierungsführung etc. konnten trotz aller taktischer Überlegenheit von ISAF begründet Zweifel an der Wirksamkeit des Einsatzes schüren. Die gemischte Bilanz und das gespaltene Meinungsbild zum Afghanistaneinsatz insgesamt belegen die Realitätsnähe wie auch die Bereitschaft und Fähigkeit der Soldaten zu eigenständigem, differenzierten Urteil.
Wenn 85% der Soldaten meinen, dass bei ISAF-Abzug die Gewalt eskalieren würde, und deshalb zwei Drittel diesen ablehnen, ist das ein vorausschauender Realismus, der ab 2014 opferreich bestätigt wurde (Anstieg der Zivilopfer um 20%, Extremverluste der afghanischen Sicherheitskräfte), eklatant bei der Besetzung von Kunduz durch die Taliban im Herbst 2015.
Mehr als vier Fünftel der Befragten meinen, die deutsche Politik stehe nicht hinter dem Einsatz. Das ist nach meiner Erfahrung pauschal geurteilt, lässt sich aber auch nicht als bloßes Vorurteil abtun. Wo es der deutschen Afghanistanpolitik immer wieder an Wirksamkeitsorientierung mangelte, liegen Zweifel nahe, wie ernst es „die“ Politik überhaupt mit der Unterstützung des Einsatzes meint.
Folgen des Einsatzes für die Einstellung zur Anwendung militärischer Gewalt:
Die Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt ist im Einsatz und angesichts der alltäglichen Konfrontation mit Gefechten, Tod und Verwundung am größten. Schon wenige Wochen nach Rückkehr nimmt die Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt bei den Gefechtsunerfahrenen ab, nach drei Jahren auch bei den Gefechtserfahrenen – bis zu dem niedrigeren Niveau wenige Wochen vor Einsatzbeginn. Bei den Gefechtserfahrenen liegt die Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt zur Auftragsdurchsetzung 2013 sogar 9% unter dem 74%-Zustimmungswert vor dem Einsatz. Die allgemeine Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt ist wesentlich abhängig von der Eskalationsstufe von Szenarien: 80% Zustimmung für gezielte Schüsse auf potenzielle Angreifer, 17% Zustimmung, wenn mit dem Waffeneinsatz Gefährdungen für Zivilisten verbunden sind.
Die Gewalterfahrung der Einsatzsoldaten mündete auf der Zeitschiene offenbar nicht in größerer Gewaltbereitschaft. Die Annahme einer „Enthemmung und Brutalisierung“ durch den Einsatz, wie sie auch in Krimis immer wieder transportiert wird, trifft nicht zu. Eine militaristische Erwartung, den Gewaltkonflikt durch Sieg über die Aufständischen lösen zu können, ist nicht erkennbar.
Soziale Anerkennung von (Einsatz-)Soldaten und Veteranen der Bundeswehr:
92% der Kontingentangehörigen meinen, der Rückhalt in der deutschen Bevölkerung sei wichtig für den Einsatz in Afghanistan.
Etwa 70% der Kontingentangehörigen sehen sich als Einsatzsoldaten durch Kameraden wertgeschätzt und anerkannt, 69/68% von Familie und Partner, 49% von Freunden und Bekannten, 55/40% von unmittelbaren und höheren Vorgesetzten. Durch deutsche Politik, konkret Bundesregierung und Bundestag, sehen sich nur 10/12% anerkannt, durch die Bevölkerung nur 8/7%. Nicht anerkannt durch die Politik fühlen sich 61%, durch die Bevölkerung 65%. Gefechtserfahrene fühlen sich noch weniger von Politik (7%) und Bevölkerung (8%) anerkannt. (S. 287) Die erfahrene Anerkennung und Wertschätzung sowohl im persönlichen Nahumfeld als auch durch Politik und Bevölkerung ist dabei keine Nebensache, sondern eng mit der sozialen Integration von (Einsatz-)Soldaten verbunden – mit Folgen für das persönliche Wohlbefinden wie auch die soldatische Motivation und Bindung an die Bundeswehr.
Die erfahrene Anerkennung durch die deutsche Politik und Bevölkerung spielt wohl eine geringere Rolle für das emotionale Alltagserleben von Soldaten und Veteranen, wirkt sich aber deutlich auf die soldatische Motivation aus.
Eine Veteranenpolitik für mehr öffentliche Wertschätzung und praktische Unterstützung wird nicht nur von weiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch von einer großen Mehrzahl der (Einsatz-)Soldaten und Veteranen befürwortet. 99% der Soldaten, 93% der Bevölkerung votieren für verbesserte medizinische Versorgung, für soziale Maßnahmen zur Betreuung und Versorgung von Familienangehörigen votieren 82/67% (S. 293). Symbolische Maßnahmen der Anerkennung, z.B. die Einladung von Einsatzrückkehrern zu öffentlichen Veranstaltungen, wird von 66% der Befragten in der deutschen Bevölkerung und von 50% der Einsatzrückkehrer befürwortet.
„Viele wollen offenbar weder als Opfer noch als Helden stilisiert werden; weitaus wichtiger scheint den meisten neben der öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung des im Einsatz Geleisteten die Unterstützung ihrer Familien und Angehörigen sowie der politische und gesellschaftliche Rückhalt für die Einsätze zu sein.“ (S.295)
Die Bundeswehrsoldaten brauchen und wollen nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch seitens der Politik und Bevölkerung insgesamt Anerkennung und Wertschätzung. Das ist ein ausgesprochen gutes Zeichen. Denn sie verstehen sich offenbar nicht als Söldner, sondern als Soldaten in der deutschen Gesellschaft und für den demokratischen Rechtsstaat Deutschland.
Wenn die Einsatzsoldaten im Einsatz des Jahres 2010 monatelang größte Strapazen auf sich nahmen, ihr Leben und ihre Gesundheit riskierten und dann nur jeder Zehnte, von den Gefechtserfahrenen noch weniger, zu der Auffassung kommt, sie würden von der deutschen Politik anerkannt und der Afghanistaneinsatz von ihr unterstützt, dann ist das ein dramatisches Zeichen. Ein solches Maß an empfundener Nichtanerkennung im Gegensatz zum erbrachten Höchsteinsatz ist mit dem Anspruch von Parlamentsarmee nicht vereinbar und besorgniserregend. Es kann ein Einfallstor für solche sein, die Anerkennung versprechen und einfache Antworten geben.
Schlussbemerkung zum Kontext des 22. Kontingents 2010
Die Realität des deutschen Afghanistaneinsatzes war je nach Zeitpunkt, Einsatzort und Funktion sehr unterschiedlich.
Troops in Contact: In den ersten vier Jahren bis 2005 gab es zwei, drei, fünf, drei gegnerische Angriffe auf deutsche ISAF-Kräfte überwiegend mit Sprengfallen, die acht Gefallene und über 40 Verwundete forderten. Für diesen Zeitraum wurde bei der Bundeswehr nur ein Schusswechsel gemeldet. Es ist üblich, aber falsch, für diese Phase von „Bundeswehr im Krieg“, gar „Kriegseinsatz der Bundeswehr“ (Stereotyp der LINKEN) zu sprechen.
Ab 2006 verschärfte sich die Sicherheitslage mit 15, 2007 mit 18, 2008 mit 46 Feindkontakten. 18 Mal reagierten Bundeswehrsoldaten in diesen Jahren mit Schusswaffeneinsatz.
Mit komplexen, auf die Vernichtung ganzer Teileinheiten zielenden Angriffen der Aufständischen ab 2009 war ISAF im Raum Kunduz, dann Baghlan zunehmend mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert: 2009 mit 77 Feindkontakten, mit 31 Mal eigenem Waffeneinsatz und eigenen Gefallenen und Verwundeten bei 12 Gefechten. 2010 wurde das gewaltintensivste Jahr mit rund 130 Feindkontakten, dabei über 50 Mal eigener Waffeneinsatz und acht eigene Gefallenen und über 60 Verwundete bei 25 Gefechten. Mit knapp 50 Feindkontakten, knapp 20 eigenen Waffeneinsätzen und 15 Gefechten mit eigenen Verlusten in 2011 wurde die seit Jahren steigende Gewalteskalation erstmalig gestoppt.
Begegnungen mit Einsatzsoldaten des 22. Kontingents bei mehreren Gelegenheiten: Bei einem Afghanistanbesuch im August 2010 berichteten uns in zwei intensiven Gesprächsrunden Soldaten der QRF 5. Im Rahmen der von mir geleiteten Unabhängigen Kommission „G36 im Einsatz“ sprachen wir 2015 mit über 150 gefechtserfahrenen Soldaten, davon viele Angehörige des 22. Kontingents, etliche hatten 15-20 Gefechte durchgemacht. Bei der Internationalen Tagung für Militärgeschichte des ZMSBw im Juni 2017 in Potsdam sprachen bei einem Zeitzeugengespräch der ehemalige Kommandeur der QRF 5 und weitere Soldaten der QRF 4 und 5 über ihre Einsatzerfahrungen. (Textauszüge im Anhang)
Bei allen Begegnungen war auffällig, wie offen, professionell und besonnen die Soldaten berichteten, wie differenziert und ernsthaft sie sich äußerten.
„Den Kommissionsmitgliedern wurde erneut eindringlich deutlich, wie extrem die Anforderungen an Einsatzsoldaten in Bodenkämpfen sind. Unsere persönliche Begegnung mit der kriegerischen Einsatzrealität der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan bekräftigte unsere Grundhaltung, dass Bundesregierung und Bundestag höchst verantwortlich mit dem Einsatz von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr umgehen müssen: bei der Einsatzentscheidung, bei der Einsatzausstattung und –führung, bei der Wirkungskontrolle und insbesondere auch gegenüber den Einsatzrückkehrern und ihren Familien. Von diesen tragen etliche oft noch lange an den Einsatzfolgen, während ihre Auftraggeber längst mit anderen Aufgaben befasst sind.“ (Schlusssätze des Berichts der G36-Kommission)
Aktuelle Beiträge zur Studie
- Julia Krittin, „Langzeitstudie zu Afghanistaneinsatz: So haben die Soldaten den Einsatz erlebt und verarbeitet“, ARD-Tagesthemen 02.03.2019, https://blog.ard-hauptstadtstudio.de/video-510985/
- Klaus Wiegrefe, „Leben nach dem Krieg. Mehr als 90 000 Bundeswehrangehörige haben in Afghanistan gedient. Eine Studie zeigt, was das mit ihnen gemacht hat“, SPIEGEL 02.03.2019
Thoralf Cleven, Was Afghanistan-Soldaten bei Politik und Bevölkerung vermissen“, Hannoversche Allgemeine 02.03.2019, http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Bundeswehr-Was-Afghanistan-Soldaten-von-Politik-und-Bevoelkerung-vermissen
- Michael Schmidt, „Generation Einsatz“, Tagessspiegel 04.03.2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/bundeswehr-selbstbewusst-aus-dem-afghanistan-einsatz/24060814.html
- W. Nachtwei, Erster Bericht zur Langzeitstudie AFG-Rückkehrer, 12.08.2014, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1305
ANHANG I
(1) Zeitzeugengespräch mit gefechtserfahrenen Soldaten und Führern der QRF 5 (Highway Triangel/Baghlan 2010) bei der Internationalen Tagung Militärgeschichte Juni 2017 in Potsdam: Auf dem Podium neben dem ehemaligen Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant a.D. Rainer Glatz, und der Moderatorin Dr. Anja Seiffert/ZMSBw mehrere Soldaten mit Gefechtserfahrung (QRF 4 und vor allem QRF 5, ab 4/2010). Der ehemalige Kommandeur der QRF 5, Oberst Jared Sembritzki (damals Kdr GebJBtl 231 Bad Reichenhall): Mit der QRF 5 erhielt erstmals ein Gefechtsverband der Bundeswehr den Auftrag, „geschlossen über mehrere Monate und durchgehend außerhalb eines Feldlagers einen Kampfeinsatz durchzuführen.“[2] Auftrag in der südlich an Kunduz angrenzenden Provinz Baghlan war, den Raum Baghlan – Pol-e Khomri mit den zentralen Flussübergängen und den beherrschenden Lines of Communication (LOC) zu halten sowie weitere Geländeabschnitte zu nehmen und zu halten. Das geplante Einsatzgebiet erstreckte sich über fast 500 Quadratkilometer und war weitgehend unter Aufständischen-Kontrolle.
OTL Sembritzki wurde als erster Offizier der Bundeswehr mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet.
(2) 2010, Karte Einsatzraum QRF 5 in Baghlan, Highway-Triangel, Kompaniechef der 2. Kompanie QRF 5, Hauptmann Michael A.
Im August 2010 hatte ich in Camp Marmal zwei Gesprächsrunden mit Soldaten der QRF 5[3]
„Die jungen Soldaten vom Gebirgsjäger-Bataillon 231 aus Bad Reichenhall machen einen sehr ernsten und überlegten, zugleich recht selbstbewussten Eindruck. Ihre Chefs sind wenig älter. Beim Delegationsgespräch ist Hauptmann M. A., Chef der 2. Kompanie, dabei: ein bodenständiger, besonnen-zupackender, herzlicher Mann mit auffällig positiver Einstellung.
(…) Diese QRF mit ihren drei Kompanien je ca. 140 Mann ist seit der zweiten Aprilhälfte im Land. Im Rahmen der Operation TAOHID I-III ist Einsatzgebiet das Tal „Highway-Triangel“ im Dreieck der Hauptstraßen „Pluto“ (von Kunduz) und „Uranus“ (A 76 von Mazar) im nördlichen Baghlan, Distrikt Baghlan-e Jadid. 15 km Nord-Süd, 7-8 km Ost-West, feucht-heißes Gebiet, das grüne Band des Baghlan-River mit Reisfeldern, westlich davon Wüste. Ca. zehn namentlich bekannte Ortschaften. ISAF war in dieser Gegend lange nicht zu sehen. Hier war der Rückzugsraum Nr. 1 der Aufständischen.
Aufgabe der QRF als der einzigen frei verfügbaren Einheit der Bundeswehr im Norden war, zusammen mit ANSF und US-Kräften den Raum frei zu kämpfen und an die Sicherheitskräfte zu übergeben, Nachhaltigkeit zu schaffen. (Solche Operationen zur Rückgewinnung von Gebieten unter Aufständischen-Kontrolle sollte im Norden eigentlich erst ab November, mit dem vollen Aufwuchs der „Ausbildungs- und Schutzbataillone“ stattfinden.) Das sei die einzige Möglichkeit, verantwortlich aus dem Land rauszukommen.
Ganz am Anfang, am 15. April, fielen hier vier deutsche Soldaten.
Die erste Phase war Bau und Absicherung von Feldposten. Es entstand der Observation Post North, der entlegendste und gefährlichste Außenposten der Bundeswehr. Dann kam Gesprächsaufklärung: Ein Zug fährt vor eine Ortschaft als Selbstschutz (force protection) für das CIMIC-Team. Das führt Gesprächsaufklärung über ein bis drei Stunden. Erste Kontakte entstehen über Kinder. Diese wirken als Brücke. Wo keine Kinder auftauchen, ist ISAF nicht gern gesehen. Das Gastrecht gelte grundsätzlich auch für ISAF. Die Leute geben aber zu verstehen, wenn es nicht geht. Die Leute wollen nicht von den Taliban benutzt werden. Aber auch denen gegenüber gilt das Gastrecht.
„Wir erklären als erstes, dass wir Deutsche sind, und dass wir wollen, dass nach 30 Jahren der Krieg zu Ende geht.“ Man wolle beim Aufbau helfen. Der setze aber Sicherheit voraus.
Die Afghanen wüssten sehr viel von Deutschland. Bei Kontakten mit der örtlichen Bevölkerung erinnert der Kompaniechef an den Zweiten Weltkrieg, als Deutschland und USA gegeneinander gekämpft hätten; an die Hilfe für Deutschland nach dem Krieg. Und jetzt arbeite man hier zusammen. „Als wir reingingen, führten wir viele Gespräche. Es waren auch vier Taliban dabei, man sah`s, sie wollten keine Hand geben. Andere sprachen nach Handschlag lange mit uns. 42 Dorfälteste kamen, um mit dem Kompaniechef das weitere Vorgehen abzuklären. Wir blieben elf Tage dort. Ein schwerverbranntes Kind wurde ausgeflogen. Als die ANA nach elf Tagen abzog, wollten einige Bundeswehrsoldaten am liebsten da bleiben.“
Clear-Operationen laufen alle mit ANA gemeinsam: manche Ortschaften wurden durchsucht, Hausdurchsuchungen macht die ANP.
Es gab Gefechte. „Wenn wir zum Stehen gezwungen wurden, gab es einige heftige Tage. Dann war das vorbei.“ Hier ging man nicht mit angezogener Handbremse vor. Die 3. Kompanie hätte die heftigsten Sachen erlebt.
Die Aufständischen verließen den Raum. Einige tauchten ab. „Wir haben Triangle freigekämpft. Seit dreieinhalb Wochen ist Ruhe.“ ANA besetzte drei wichtige Brücken, errichtete Hesko-Boxen von 100 x 100 Meter. Jetzt befände man sich in der Hold-Phase. Dankbar sei man für die bereitgestellten US-Fähigkeiten: Der IED-Räumer schaffe zwei km/Stunde, wo Bundeswehr nur 500 Meter am Tag schaffe. Bei Operationen standen Kampfflugzeuge über dem Einsatzraum. Meist reichte zur Abschreckung schon der Ausstoß von Flares im Tiefflug. Das signalisierte den Kämpfern, dass ihre Positionen erkannt waren.
Dort praktiziert Bundeswehr seitdem Partnering mit ANSF, auch mit NDS und umgedrehten ehemaligen HIG-Kämpfern. Dabei ist ein US-Zug zum Minenräumen.
Mit dem 3. Kandak des 209. ANA Corps gemeinsame Patrouillen und Operationen. Das Partnering geht bis zur Zugführerebene. Hier kennen sich die Chefs.
Partnering sei keine Frage von offensiv oder defensiv. Bundeswehr unterstütze die ANSF.
Seit vier Monaten ist die QRF draußen in der Foward Operation Base (FOB) auf einer Hügelkette. Die einzelnen Züge liegen auf verschiedenen Hügeln. Die FOB hat keinen Zaun, muss ständig rundum gesichert werden. Man habe dort mit nichts angefangen. Inzwischen habe man Zelte mit Klimaanlagen. Ernährt wird sich fast nur von EPa (Einmannpackungen), vereinzelt gebe es Zusatzverpflegung. Für vier bis fünf Wochen ist ein Zug draußen, dann 10-14 Tage im Camp Marmal. Das Camp sei eine andere Welt. „Bad Mez“. Nach drei, vier Tagen klinge die Spannung ab. Die drinnen wissen gar nicht, was draußen läuft. Man erlebe im Camp viel Bürokratiescheiß. Der Stab RC North habe 500 Dienstposten! Ein anständiger Hauptgefreiter habe die Feindlage besser drauf als der Stab.
Die ANA habe recht guten Ausbildungsstand und gutes Ansehen. Für die ANP gelte das Gegenteil. Sie sei schlecht, liege nur herum. Polizisten plündern auch.
Im internationalen Vergleich könne sich die QRF sehen lassen. Sie sei vergleichsweise gut ausgestattet. 70-75° C im Marder seien aber kaum auszuhalten. Bei Fahrzeugen fehle zum Teil der Minenschutz. Ein Problem seien Schutzwesten, die keinen seitlichen Schutz haben. Oder die nicht feuerfeste Funktionsunterwäsche. Oder Schuhwerk, das Stinkefüße fördere. Truppe draußen brauche bestmögliches Material - und das schnell. Schon beim „Sofortbedarf“ dauere es oft sechs bis zwölf Monate. Dank guter Ausbildung sei man den Aufständischen überlegen. Allerdings gebe es bei den Mannschaften wegen der kurzen Dienstzeiten einen enormen Erfahrungsverlust. In der Kompanie gebe es nur acht Mannschaftsdienstgrade Z-8.
Die US-Soldaten seien weniger gut ausgebildet. Ihre ziemlich hoch gebauten Fahrzeuge würden dauernd umkippen und müssten dann von Bundeswehr freigeschleppt werden. US-Soldaten können weder fahren (Ausbildung oft erst hier) noch bergen. Unglaublich sei, wie lange bei der US-Army noch die „Humvees“ (High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle HMMWV) zum Einsatz kämen. Die seien verwundbar wie nichts. Schon deshalb seien relativ viele US-Soldaten gefallen.
Was motiviert? Wenn die Menschen winken, wenn wir aus dem Gefecht kommen, wenn Schulmädchen winken und tanzen, wenn sie uns sehen. (Chef der 2. Kompanie) Anfangs hätten sich die Leute in Triangle distanziert verhalten, wurden die Frauen reingeholt.(…)“
Mein Eindruck: Im Rahmen ihres Auftrages agieren die Soldaten der QRF sehr professionell, entschlossen, klug, wirksam und in dem Bemühen, die Bevölkerung zu gewinnen. Praktiziert wurden Führen mit Auftrag, von vorne und durch Vorbild.
ANHANG II:Sicherheitsvorfälle AFG-Nord März bis Oktober 2010, dem Einsatzzeitraum des 22. Deutschen ISAF-Kontingents, zusammengestellt von W.N. Anfang 2011, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1574
[1] Hierzu ein Soldat: „Wie heißt es so schön, man geht nicht für sich selbst, sondern für den Kameraden links und rechts von sich. Und wenn das jeder sagt, dann geht jeder für jeden. Das kann man gar nicht in Worte fassen. Das sind bestimmte Gefühle der Verbundenheit, und wenn man weiß, man hat das zusammen durchgestanden, ohne meine Jungs wäre ich, wären wir da so nicht rausgekommen. Das weiß ich, das wissen wir alle, die dabei waren. Ja, das verbindet, auch heute noch.“ (S. 125 Dazu die Schlagwortwolke der freien Antworten auf die Frage „Was verbinden Sie spontan mit dem Einsatz im 22. Kontingent ISAF?“ Bei weitem am häufigsten genannt werden Kameradschaft, auffällig häufig Tod, Hitze, Karfreitag, Kameraden, dann Zusammenhalt, Arbeit, Trennung, Erfahrung, Verwundung (…), am wenigsten Sinnlosigkeit, Anerkennung. Abbildung 31
[2] Jared Sembritzki, Kampfmoral und Führen mit Auftrag – Entscheidende Voraussetzungen für das Bestehen im Gefecht? In: Alois Bach/Walter Sauer (Hrsg.), Schützen – Retten – Kämpfen. Dienen für Deutschland, Berlin 2016, S. 207 ff.; vgl. Thomas Wiegold, Die unerzählten Geschichten aus Baghlan, 4. September 2010, http://augengeradeaus.net/2010/09/die-unerzahlten-geschichten-aus-baghlan/
[3] W. Nachtwei, Aufbau im Schatten von Guerillakrieg und Aufstandsbekämpfung, Reisebericht Kabul, Mazar-e Sharif, Kunduz August 2010, http://nachtwei.de/downloads/bericht/AFG-RBericht-8-10.pdf , S. 30-32
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: