Erfahrungen und Lehren (z.B. aus 13 Jahren Afghanistaneinsatz) - meine jüngsten sicherheitspolitischen Veröffentlichungen

Von: Nachtwei amDi, 22 Dezember 2015 23:38:37 +01:00

Links und Leseproben von meinen Lernversuchen.



Erfahrungen und Lehren – meine jüngsten

sicherheitspolitischen Veröffentlichungen

Winfried Nachtwei (12/2015)

(1) Bericht der G36-Kommission: „Untersuchung des Einsatzes des G36-Sturmgewehrs in Gefechtssituationen“, Denkwürdigkeiten Nr. 99, Dezember 2015, Journal der Politisch-Militärischen Gesellschaft (PMG), S.12-15, http://www.pmg-ev.com/deutsch/denk.htm

(2) Selbstkritische Bilanz und dringende Lehren nach 13 Jahren deutschen Afghanistaneinsatzes, in: Robin Schröder, Stefan Hansen (Hrsg.), Stabilisierungseinsätze als gesamtstaatliche Aufgabe – Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen Afghanistaneinsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbekämpfung (COIN)

http://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845249018-401/selbstkritische-bilanz-und-dringende-lehren-nach-13-jahren-deutschen-afghanistaneinsatzes

(3) „Dranbleiben! 13 Jahre in Afghanistan“ in: ADLAS Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik (Publikation für den Bundesverband Sicherheitspolitik an Hochschulen/BSH) 3/2015, S. 52-59, (https://adlasmagazin.files.wordpress.com/2015/12/adlas-2015-03.pdf ):

Vor zwei Jahren verließ die Bundeswehr nach fast zehn Jahren das nordafghanische Kunduz. Mit dem Ende des ISAF-Einsatzes im Dezember 2014 schien das Kapitel Afghanistan für viele abgeschlossen: in den Medien kein Thema mehr, unübersehbare Afghanistanernüchterung und –ermüdung im politischen Berlin, wo die nahen Kriegsbrände und jetzt die Flüchtlingskrise alles andere in den Schatten stellen.

Gegner des Afghanistaneinsatzes hegten die Erwartung, dass mit dem Abzug internationaler Truppen auch der Krieg am Hindukusch verlöschen würde.

Truppenstellende Regierungen konstatierten reichlich selbstzufrieden, nach so langer Aufbauunterstützung könnten nun die afghanischen Sicherheitskräfte selbst ausreichend Sicherheit gewährleisten.

Beide Erwartungen wurden eines Schlechteren belehrt: So hoch wie nie war laut UNAMA im ersten Halbjahr 2015 die Zahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts; die afghanischen Sicherheitskräfte haben pro Woche um 100 Gefallene zu beklagen – dreimal so viele wie auf Seiten der Bundeswehr in 13 Jahren.

Die fast kampflose Einnahme von Kunduz durch die Taliban am 28. September und die sehr mühsame Rückgewinnung der Provinzhauptstadt erst etliche Tage später machte unübersehbar deutlich: Afghanistan droht wegzurutschen! Wie konnte es dazu kommen? Was tun?

13 Jahre

Als wir im Bundestag am 22. Dezember 2001 erstmalig über die deutsche Beteiligung an der Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF abstimmten, war das wenig kontrovers und friedenspolitisch nahezu selbstverständlich: Im UN-Auftrag sollte das kriegszerstörte und von der Taliban-Herrschaft befreite Afghanistan beim Übergang zum Frieden unterstützt werden. Außenminister Fischer sagte damals, es gebe kein dauerhaftes deutsches Interesse an Afghanistan und keine Absicht, wie im Kosovo länger zu bleiben. UN-Experten, die zu Realismus und Konsequenz mahnten, fanden kaum Gehör.

Als 13 Jahre später der komplizierteste, teuerste und opferreichste Großeinsatz der Bundeswehr mit ISAF zu Ende ging, wäre eine systematische Bilanz und Wirkungsanalyse des zivil-polizeilich-militärischen Engagements überfällig gewesen. Das wurde bis heute nicht geleistet. Die Meinungen über die Wirksamkeit des internationalen und deutschen Afghanistan-Engagements gingen weit auseinander: Von Erfolg sprach niemand, viele von verfehlten Zielen und gemischter Bilanz, andere von Scheitern.

Erreichte und verfehlte Ziele

Das erste Hauptziel des Afghanistaneinsatzes (Operation Enduring Freedom) war, dem internationalen Terrornetzwerk Al Qaida sein Hinterland zu nehmen. Das gelang zunächst, allerdings weder gründlich noch nachhaltig. Al Qaidas und der Taliban Hinterland waren schnell die pakistanischen Grenzgebiete. Hier konnten sich die Taliban reorganisieren und schon ab 2003 in den afghanischen Süden einsickern.

Das zweite Hauptziel war, mit Hilfe von ISAF für die Interimsregierung und internationale Hilfe ein sicheres Umfeld zu schaffen. Nach den Fortschritten der ersten Jahre kehrte ab 2006 erkennbar vor allem im Süden Krieg nach Afghanistan zurück. Von da an erhöhten sich auch die Feindkontakte der Bundeswehr im Norden, war der Stabilisierungseinsatz zunehmend mit eine Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert, ab 2009 mit komplexen Angriffen. Das landesweite Vorrücken der Aufstandsbewegung konnte nach Verstärkung vor allem der US-Kräfte durch die große Counterinsurgency-Anstrengung ab 2010 kurzzeitig zurückgedrängt werden. Erstmalig in ihrer Geschichte stand die Bundeswehr in harten Bodenkämpfen. 2010/2011 hatten deutsche Soldaten ca. 160 Feindkontakte, standen in 65 Feuergefechten mit eigenem Schusswaffengebrauch und hatten 15 Gefallene, 114 körperlich Verwundete und wohl noch mehr seelisch Verwundete zu beklagen. Jahrelang vernachlässigt bekam die Aufbauhilfe für die afghanischen Sicherheitskräfte erst ab 2006/8 den nötigen Schub. Die afghanischen Sicherheitskräfte machten bemerkenswerte Fortschritte in der eigenständigen Operationsfähigkeit.

Beim dritten Hauptziel, der Förderung von Aufbau und Entwicklung, gab es unbestreitbar Teilfortschritte, wenn auch mit erheblichen regionalen Unterschieden: deutlich gesunkene Kindersterblichkeit, verbesserte Zugänge zu Trinkwasser, Energie, vor allem Bildung, Kommunikation und Medienvielfalt. Dafür stehen beispielhaft die von der deutschen GIZ initiierten großen Alphabetisierungsprogramme für Polizisten (inzwischen 2.000 einheimische Trainer) oder die Teacher Training Colleges im Norden. Trotzdem: Afghanistan blieb eines der ärmsten Länder der Welt.

Staatliche Institutionen wurden aufgebaut, sind oft aber eher Fassaden und geschwächt durch schlechte Regierungsführung und Korruption.

Strategische Fehler

Wer 2002 nach Kabul kam, sah die krassen Zerstörungen, erlebte viel Hoffnung.

Dass viele Hoffnungen enttäuscht, Ziele nicht erreicht wurden und Krieg zurückkehrte, wurde durch strategische Fehler begünstigt:

- Die internationale Gemeinschaft agierte jahrelang auf der Basis allgemeiner UN-Mandate ohne gemeinsame Strategie, ja mit konträren strategischen Ansätzen. Die USA waren jahrelang auf die militärische Terrorbekämpfung fixiert und nahmen dabei wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Mit dem US-geführten Irakkrieg wurden dem internationalen Afghanistanengagement dringend notwendige Ressourcen entzogen.

- Nationen, die primär den Aufbau unterstützen wollten – so Deutschland -, unterschätzten die Herausforderung von Staatsaufbau unter solchen widrigen Voraussetzungen.

- Eklatant war jahrelang die Kluft zwischen internationalen Militäraufwendungen und Aufbauhilfe.

- Fixiert auf Zentralstaatlichkeit wurde lange die in Afghanistan so wichtige regionale und lokale Ebene vernachlässigt. Bündnisse mit Kriegsherren konterkarierten den Anspruch von Rechtsstaatsförderung.

 -Ausgeblendet blieb viel zu lange die massive Förderung der Aufstandsbewegung von pakistanischer Seite.

- Vorherrschende Neigungen zu Schönrednerei förderten Realitätsverlust, erschwerten eine Politik mit Bodenhaftung und Erfolgsaussichten. Einen Höhepunkt erreichte die vor allem innenpolitisch motivierte Realitätsverweigerung mit dem fixen ISAF-Abzugstermin Ende 2014 – ohne Rücksicht auf die tatsächliche Übernahmefähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte, aber mit dem unausgesprochenen Angebot an die Aufständischen, auf „ihre Zeit“ zu warten.

Leistungen und Fehlleistungen

Hunderten deutschen Soldaten, aber auch Polizisten, Zivilexperten und Diplomaten bin ich in Afghanistan begegnet. Zu vielen Afghanistanrückkehrern habe ich Kontakt. Diese Frauen und Männer habe ich durchweg als sehr professionell, einsatzfreudig und umsichtig erlebt. Sie haben sich um den Aufbau des Landes und Friedenssicherung in einem kriegszerrütteten Land verdient gemacht.

Der Knackpunkt des mit der Zeit abdriftenden Einsatzes war ein kollektives politisches Führungsversagen in den Hauptstädten, auch in Berlin. Als Mitauftraggeber der Einsätze tragen besonders wir Außen- und Verteidigungspolitiker erhebliche Mitverantwortung. Koalitionsmehrheiten verweigerten jahrelang eine ehrliche und systematische Wirkungsbeobachtung des Einsatzes – erste Voraussetzung einer realitätsnahen und wirkungsorientierten Aufbauunterstützung.

Dranbleiben!

Deutschland und die Internationale Gemeinschaft hatten Afghanistan eine verlässliche Aufbaupartnerschaft über das ISAF-Ende hinaus versprochen. Allein im Auftrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit arbeiteten in Afghanistan Anfang 2015 ca. 2.000 Frauen und Männer, davon 230 Entsandte. Den ISAF-Kampftruppen folgte ab Januar 2015 die Beratungsmission Resolute Support. Ihre über 13.000 Soldaten (davon bis zu 850 deutsche) sollten in Kabul  und vier Regionalzentren Beratung und Ausbildung der afghanischen Armee auf der Spitzenebene gewährleisten, in der Nordregion mit 100 Militärberatern. Ohne eine solche Mission würden, so die verbreitete Einschätzung, die afghanischen Sicherheitskräfte schnell zerbröseln. Aber wäre mit diesem Kräfteansatz und dem engen Zeitplan (in 2016 Rückzug auf Kabul, Ende 2016 Vollabzug) der Auftrag überhaupt seriös erfüllbar – oder handelt es sich hier eher um Symbolpolitik?

Der Fall von Kunduz – und die beunruhigende Lage in anderen Landesteilen - hat diese Zweifel leider bestätigt. Er wirkt hoffentlich als Weckruf.

Wo heutzutage der verstärkte Kampf gegen Fluchtursachen gefordert wird, ist Afghanistan ein Brennpunkt: Hier ist internationale und deutsche Politik in besonderer Verantwortung, hier hat Deutschland besondere Wirkungsmöglichkeiten. Vordringlich ist, die Realitäten in Afghanistan endlich ungeschminkt wahrzunehmen und konsequente Schlussfolgerungen ziehen: Dazu gehört die Verlängerung, Überprüfung und Effektivierung  der Beratungsmission.

Aber auch diese Schritte werden auf die Dauer ein Kampf gegen Windmühlenflügel sein, wenn die afghanische Führungsschicht nicht endlich handlungsfähiger und wenn nicht eine Verhandlungslösung mit den Aufständischen gefunden wird.

An Afghanistan „dranzubleiben“, ist nicht zuletzt eine Verpflichtung gegenüber den Zehntausenden Frauen und Männern in Uniform und Zivil, die demokratisch legitimiert nach Afghanistan entsandt wurden und deren Einsatz nicht umsonst gewesen sein darf.