Gespaltene, traumatische Erinnerungen, Rückkehr der Vergangenheit, von Kaltem Krieg? Erinnerungs- und sicherheitspolitische Beobachtungen in Riga

Von: Nachtwei amSo, 19 Juli 2015 16:15:14 +01:00

Spuren von 51 Jahren sowjetischer und deutscher Okkupation sind in der lettischen Hauptstadt reichlich zu finden. Hier ein Bericht über meinen Rundgang zu zentralen Orten einer traumatisierenden nationalen Geschichte, ergänzt um aktuelle sicherheitspolitische Beobachtungen. Nachdem die meisten von der Ukraine-Eskalation überrascht wurden, ist im Baltikum wirksame Krisenprävention + Stabilisierung gefragt. Nicht noch ein Brandherd! 



Gespaltene, traumatische Erinnerungen,

Rückkehr von Abschreckung – und Kaltem Krieg?

Erinnerungs- und sicherheitspolitische Beobachtungen in Riga

Winfried Nachtwei, MdB a.D.[1] (Juni 2015)

Am 9.-14. April 2015 besuchte ich die lettische Hauptstadt Riga. Im Vorfeld des 2. Symposiums des Deutschen Riga Komitees[2] am 17. April in Münster wollte ich dort den aktuellen Stand der Erinnerung(sarbeit) an die deutsche und sowjetische Besatzungszeit eruieren und mir einen Überblick zur aktuellen sicherheitspolitischen Lage verschaffen. Gesprächspartner waren vor allem

- die Holocaust-Überlebenden Margers Vestermanis (Gründer und langjähriger Direktor des Museums „Juden in Lettland“) und Alexander Bergmann (Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettands seit 1993), beide 89 Jahre alt, mir seit 1989 bzw. 1993 vertraut,

- Gita Umanovska, Geschäftsführerin des Rates der Jüdischen Gemeinden Lettlands,

- die deutsche Botschafterin Andrea Wiktorin und Kulturreferent Christoph Klarmann und – als Bekannte von früheren Riga-Reisen ein Sozialwissenschaftler und ein Kameramann.

Ich besuchte die Moskauer Vorstadt (ehemaliges Ghetto), die Massengräber und die Gedenkstätte im Wald von Bikernieki, das Museum „Juden in Lettland“ in der Skolas iela und das „Ghetto-Museum“, das Zanis Lipke Memorial auf Kipsala, die ehemalige KGB-Zentrale („Eckhaus“) an der Brivibas iela/Stabu iela, den Bahnhof Tornakalns, das Okkupationsmuseum, das Latvias Tautas Fronte Museum (Lettische Volksfront) in der Altstadt.

An den Bericht schließt ab S. 11 ein Kommentar zur aktuellen sicherheits- und friedenspolitischen Lage im Baltikum, insbesondere zu den Destabilisierungsrisiken, zu NATO-Aktivitäten und Krisenprävention, an. (Nachträgliche Anmerkungen kursiv)

Fotos zu Riga-Besuch + 2. Symposium des Riga Komitees www.facebook.com/winfried.nachtwei .

Massengräber und Gedenkstätte Bikerniek

Zuletzt war ich hier im Sommer 2012 zusammen mit deutschen, lettischen und österreichischen Jugendlichen eines Workcamps des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Die Jugendlichen reinigten die Gedenkstätte, auf der seit 2001 5.000 individuelle Granitsteine an die mindestens 35.000 Menschen erinnern, die hier von den Nazis und ihren einheimischen Helfern zwischen 1941 und 1944 ermordet worden sind, darunter Tausende jüdische Menschen aus Deutschland. In Interviews für das Filmprojekt „´Wir haben es doch erlebt` – Das Ghetto von Riga“ von Jürgen Hobrecht sprachen die Jugendlichen beeindruckend offen, lebhaft und überzeugend über ihre Beweggründe und Eindrücke.

Im Unterschied zu früheren Zeiten, als Bikernieki ein verlorener und vergessener Ort war, sind heute Gedenkstätte und Massengräber in einem gepflegten Zustand. So viele Erinnerungssteinchen wie nie zuvor sind von Besuchern an den Gedenktafeln der einzelnen Herkunftsort  niedergelegt: bei Magdeburg mit verschiedenen Aufschriften („work for peace“) und Namen (Sascha, Jonas …), bei Dülmen runde Steine mit den Namen der Deportierten Karl + Selma Frankenberg, Margaretha, Berta + Julie Wolff, Josef Salomon, Sara Pins. Der zentrale Gedenkstein ist übersät mit oft beschrifteten Steinen. (Nicht besuche ich das kleinere Gräberfeld im Wald auf der anderen Straßenseite, von der Bikernieku iela ca. 600 m stadteinwärts nach 700 m erreichbar; diese Gräber werden nicht gepflegt.)

Erreichbarkeit: An der Bikernieku iela befindet sich kein Hinweisschild auf die Gedenkstätte, deren Eingang erst mit den Informationssteinen erkennbar wird. 100 m vorher die Bushaltestelle „Kapi“ der Buslinien 15, 16, 31 (20-Minuten-Takt bis stündlich. Mit der 15 braucht es eine Viertelstunde bis zum „Eckhaus“. Die Taxifahrt vom Hotel Avalon am Rand der Altstadt dauert über die Brivibas und Bikernieku iela 20 Minuten und kostet 10 Euro.

Im April 2015 erschien die Dokumentation „Gedenken in Riga-Bikernieki“, hg. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Bezirksverband Münster, anlässlich einer Erinnerungsreise und Gedenkveranstaltung mit Städtedelegationen aus Ahlen, Drensteinfurt, Dülmen und Gescher. http://www.volksbund.de/nordrhein-westfalen/nrw-gliederungen/nrw-ms/nrw-ms-news.html

Ehemaliges Ghetto

Beginn des Rundgangs am Alten Jüdischen Friedhof und dem ersten Gedenkstein, dann Vilanu iela („Bielefelder Str.“), Ludzas iela („Leipziger“), Maza Kalnu iela (Kleine Bergstr., „Berliner/Wiener“)bis Ecke Virsaisu iela („Düsseldorfer“ und „Kölner“), wo sich früher der „Blechplatz“ befand. Hier fanden die Appelle statt, hier stand der Galgen, hier starteten die „Dünamünde-Aktionen“ (getarnte Erschießungsaktionen im Frühjahr 1942). Dann weiter Ludzas iela bis Daugavpils iela.

Relativ viele Wohnhäuser (überwiegend aus Holz, vereinzelt Steinbauten) sind völlig runtergekommen, unbewohnt, Fenster mit Brettern vernagelt. Freiflächen mehren sich, z.T. mit Sichtblenden abgeschirmt, vereinzelt Neubauten. Ausnahme ist die Totalrenovierung der Nr. 56 in der Ludzas iela: Der frühere Sitz der Ghetto-Kommandantur war in den 90er Jahren völlig heruntergekommen. Etliche Großwohnhäuser aus der Nachkriegszeit. Erstmalig fallen mir einige Kinderspielplätze auf. Trotz der z.T. verheerenden Bausubstanz macht das Viertel insgesamt einen aufgeräumten Eindruck. In zehn Jahren könnte es hier sehr anders aussehen.

Bis auf den steinernen Davidsstern am Rand des Viertels mit Informationen zur Geschichte des Alten Jüdischen Friedhofs erinnert nichts an die düstere Vergangenheit dieses Ortes – keine Informationstafel, kein Wort, dass hier von Dezember 1941 bis Herbst 1943 das am längsten existierende „Reichsjudenghetto“ bestand.

(Riga besuchte ich erstmalig im Sommer 1989 noch zur sowjetischen Zeit. Ich stieß damals auf die Spuren der 1941/42 aus Westfalen und dem ganzen „Großdeutschen Reich“ ins Ghetto Riga verschleppten Juden. Seitdem war ich ca. 15 Mal vor Ort.)

Museum „Juden in Lettland“

im Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Skolas iela 6 (ehemaliges Jüdisches Theater):1989 gegründet, zur rechtlichen Lage, wirtschaftlichen Tätigkeit, zu Bildung, Religion, politischem und intellektuellen Leben der Juden in Lettland von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis 1945. Von den drei Räumen behandelt der ohne Tageslicht den Holocaust. „Ereignismeldungen UdSSR“ des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom Juli 1941 und Januar 1942 dokumentieren bürokratisch-nüchtern die Mordbilanz des Einsatzkommandos 2. Deutlich gewürdigt werden die Judenretter. 732 jüdische Menschen wurden in Lettland versteckt, 576 von ihnen überlebten. Neu ist die Station zu den aus Deutschland, Österreich und Theresienstadt hierher deportierten Juden.

Zur Zarenzeit lebten in Lettland 130.000 Juden, vor dem Krieg 93.000, heute 7.000 (überwiegend älter und aus der früheren Sowjetunion zugewandert).

In seiner Vielfalt und historischen Sorgfalt ist das Museum einmalig in Lettland. (http://www.jewishmuseum.lv/ )

M. Vestermanis konnte bis 1991 keinen einzigen Beitrag über den Holocaust in Lettland veröffentlichen. Die neue, aus Kanada nach Lettland zurückgekehrte  Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga (1999 bis 2007) setzte sich für die Aufarbeitung der Geschichte ein. Er wurde in die seit 1992 bestehende Historikerkommission beim Staatspräsidenten berufen. Zum Judenmord auf dem Land erschienen mit Unterstützung der Kommission sechs Bände auf Lettisch. Sie wurden an Bibliotheken und Schulen verschickt. Wichtigste Ergebnisse blieben aber in den Büchern, kamen nicht in der Gesellschaft an.  In der lettischen Gesellschaft gebe es eine offene Abneigung, sich mit der Frage zu befassen. Gegenwärtig schreibt er an einem Wegweiser zu den Stellen des Holocaust in Riga und an einem Buch über die fast 600 Judenretter („Das große Rätsel der Opferbereitschaft“)

Projekt „Digitalisierung“ der über 4.500 Karteikarten von nach Riga verschleppten jüdischen Menschen: Von den knapp 25.000 nach Riga Deportierten waren ca. 11.000 im Ghetto, knapp 9.000 im KZ Kaiserwald. Erfasst und zugänglich werden sollen bisher in der Literatur verstreute Informationen, wer wo zwischen 1941-1944 war. Hintergrund sind die immer wieder eintreffenden Anfragen von Angehörigen, die etwas über ihre verschleppten Verwandten erfahren wollen.

Didaktische Anwendung durch Lehrer in Deutschland, Österreich, Lettland.

Unterstützt wird das Projekt von der deutschen und österreichischen Botschaft.

 

Riga Ghetto and Holocaust Museum

Maskavas iela 14a, Speicherviertel in Nähe der Markthallen: Gestaltet überwiegend als „Freilichtmuseum“ mit nachgebautem Stacheldrahtzaun und Pflasterweg als Längsachse, gesäumt von einer 40-50 m langen und ca. 4 m hohen Info-Wand. Auf der Speicherseite das Namenmeer der ermordeten Rigaer Juden, auf der anderen Seite nach Fotos von Synagogen, jüdischen Familien, Verfolgung, die Namen der aus Deutschland, Wien und Theresienstadt nach Riga Deportierten nach Transporten, z.B. „Münster – Osnabrück – Bielefeld – Riga 13.12.1941“. Ein Holzhaus ist einem Ghettohaus nachgebaut. Darin Modelle verschiedener Synagogen, darunter der Choral Synagoge an der Gogolstr., und eine „typische Wohnung“.

Zanis Lipke Memorial

auf der Daugava-Insel Kipsala (Lieblingsort von Johann Gottfried Herder), Mazais Balasta dambis 8. Das kleine Museum schließt unmittelbar an das Grundstück der Familie Lipke an. (http://www.lipke.lv/en ) Es erinnert an den früheren Hafenarbeiter Zanis (Janis) Lipke (1900-1987) und seine Frau Johanna, die während der deutschen Besatzung fast 60 lettisch-jüdischen Ghetto-Gefangenen das Leben retteten. Die erste Station der Rettungskette war ein Bunker unterhalb einer Holzscheune auf seinem Grundstück. Anfang der 90er Jahre konnte ich den Ort besuchen.

Das fensterlose Gebäude aus dunkelgrauem Holz erscheint wie ein umgedrehtes Boot an Land, wie eine Fähre oder die Arche Noahs nach erfüllter Mission. Die drei Ebenen des Gebäudes werden in der Mitte von einem Schacht durchbrochen, der den Blick von oben in den betonierten Bunker am Boden erlaubt. Auf 3x3 m waren hier acht bis zwölf Menschen oft über längere Zeitversteckt, an den Schachtwänden neun Kojen. Das Versteck wurde nie von den Nazis entdeckt, keiner von den Beteiligten erwischt.

Initiiert u.a. von dem ehemaligen Staatspräsidenten Maris Gailis, konzipiert von seiner Frau, der Architektin Zaiga Gaile wurde das Memorial am 30. Juli 2013 in Anwesenheit des israelischen und lettischen Präsidenten feierlich eröffnet.

Das Lipke-Memorial soll zunehmend auch eine Begegnungsstätte werden:

Zusammen mit anderen Einrichtungen wie der (neuen) Lettischen Nationalbibliothek erarbeitet man Angebote für schulische Projektwochen („Leben eines Kindes im 2. Weltkrieg“ – eines lettischen, eines jüdischen). Es entsteht eine Vorlesungsreihe über „Gefährliche Verbindungen von Geschichte und Phobien“. Geplant ist für Frühsommer 2016 ein Festival „Common Memories“ zusammenmit jungen, multiethnischen Schauspielern für SchülerInnen und junge GeschichtslehrerInnen.

 

KGB-Haus („Eckhaus“)

Das 1912 errichtete Appartement- und Geschäftsgebäude beherbergte 1920-1940 Abteilungen des lettischen Innenministeriums, von August 1940 bis Juli 1941 und Oktober 1944 bis August 1941 das Volkskommissariat für Staatssicherheit (Tscheka), bzw. KGB. Seit 2007 steht das Gebäude leer, seit 2014 ist es teilweise für Ausstellungen und Führungen zugänglich.

Hier wurden die Deportationen vom 14. Juni 1941 (15.500 Menschen, 0,8% der Bevölkerung, nach Sibirien) und 25.3.1949 (über 42.000 Menschen, 2,4 %) organisiert. Hier wurden Verhaftete verhört, unter Druck gesetzt und – vor allem bis 1953 – gefoltert. Im Hof wurden bis 1941 ca. 100 Menschen hingerichtet.

Die Dauerausstellung im Erdgeschoss schildert den unbewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft bis in die 80er Jahre wie auch den bewaffneten antisowjetischen Widerstand der Jahre 1944 bis 1957 vor allem in den weiten Wäldern Lettlands. In der Hoffnung auf eine Intervention des Westens hatte er seinen Höhepunkt 1945 bis 1947. Laut Okkupationsmuseum sollen 20.000 Menschen am Guerillakampf beteiligt gewesen sein, unterstützt von etwa 80.000 Helfern aus der Zivilbevölkerung. Laut Tscheka sollen 12.250 Personen zum Widerstand gehört haben, seien bis 1956 2.407 Partisanen getötet und 5.489 gefangen worden. 498 seien zum Tode verurteilt und exekutiert worden. Auf sowjetischer Seite seien 111 KGB-Offiziere, 259 Soldaten und 735 lokale Kräfte getötet worden. Partisanen hätten auch 1.070 Zivilisten (angebliche Repräsentanten des Sowjetregimes, KP-Aktivisten, „Spione“) getötet.

Eine Gruppenführung geht durch den Zellentrakt, einen Verhörraum bis zum Erschießungshof.  (virtuelle Tour durch`s „Eckhaus“: http://skatskat.lv/virtuala-ture/stura-maja/lv/stura-maja.html )

Bahnhof Tornakalns (Tornakalna Stacija)

erste Station nach dem Hauptbahnhof auf der anderen Seite der Düna: Von hier wurden am 14. Juni 1941 an die 16.000 „staatsfeindliche Elemente“ in Viehwaggons nach Sibirien verschleppt. An den Gleisen steht einer dieser Waggons. Vor dem Bahnhofsgebäude erinnern ein Denkmal, Gedenksteine mit den Zielorten der Züge (Amurr, Omska, Novosibirska, Tomska, Workuta) und Informationstafeln an die Massendeportation. Dass ich nach 26 Jahren Spurensuche in Riga erstmalig hierher komme, gibt mir zu denken.

Okkupationsmuseum über die drei Okkupationen Lettlands 1940-1991

am Rathausplatz, während der Umbauarbeiten in der ehemaligen US-Botschaft. Raina Bulvaris (eröffnet 1993, http://okupacijasmuzejs.lv/en )

Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 bestimmte in seinem Geheimen Zusatzprotokoll die Grenzen der deutschen und sowjetischen Interessensphären. Lettland, Estland und Finnland gehörten demnach zur sowjetischen Interessensphäre.  Nach dem deutschen Überfall auf Polen besetzte die Sowjetunion am 17. September das östliche Polen. Am 22. September 1939 fand in Brest-Litowsk eine gemeinsame deutsch-sowjetische Militärparade mit General Guderian und General Kriwoschein statt. (Fotos in The Baltic Times Mai 2015) Die Rote Armee konzentrierte Truppen an der estnischen Grenze und blockierte die estnischen Häfen. Am 27. September musste der estnische Außenminister in Moskau einen Vertrag über „gegenseitigen Beistand“ unterzeichnen, der sowjetische Militärstützpunkte in Estland vorsah. Einen ähnlichen Vertrag unterzeichnete Lettland am 5. Oktober. Er erlaubte die Stationierung von 25.000 Sowjetsoldaten im westlichen Lettland - mehr als die gesamte lettische Armee. Litauen unterzeichnete einen ähnlichen Vertrag am 10. Oktober. Finnland hingegen weigerte sich, woraufhin die Rote Armee Finnland am 30. November angriff. Der erbitterte finnische Widerstand verhinderte einen Sieg der Roten Armee und erhielt die Unabhängigkeit des Landes. Im Waffenstillstand vom 13. März 1940 musste Finnland aber ein Zehntel seines Staatsgebiets an die UdSSR abtreten.

Im November 2014 bezeichnete der russische Präsident Putin den Hitler-Stalin-Pakt als „friedenssichernde Maßnahme“. Kulturminister Medinskij wertete den Pakt kürzlich als „kolossalen Erfolg der Stalinschen Diplomatie“. (FAZ 12.5.2015)

Die erste sowjetische Okkupation begann am 15. Juni 1940 mit einem Angriff von Tscheka-Truppen auf drei lettische Grenzposten an der Ostgrenze, wobei drei Grenzschützer, eine Frau und ein Kind getötet wurden. Zehn Grenzschützer und 27 Zivilisten wurden entführt. Am 16. Juni, einem Sonntag, beschuldigte die Sowjetunion Lettland, den Beistandspakt verletzt zu haben, und forderte ultimativ binnen sechs Stunden die Bildung einer neuen Regierung sowie die Zulassung einer unbegrenzten Zahl sowjetischer Truppen. Die lettische Regierung gab nach. Am nächsten Tag besetzten Sowjettruppen Lettland. Inszenierte Massendemonstrationen, Parlamentswahlen am 14./15. Juli mit einer Einheitsliste und einem 97,6%-„Ergebnis“ waren die Zwischenstationen zum einstimmigen Beschluss des Schein-Parlaments, um Aufnahme in die Sowjetunion zu ersuchen. Ähnlich „freiwillig“ verliefen die Anschlüsse von Litauen und Estland. Die lettischen Streitkräfte wurden in die Rote Armee eingegliedert. Ihr Generale wurden zu Spezialkursen nach Moskau beordert und dort erschossen oder deportiert.

Mit Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und dem Rückzug der Roten Armee fielen Hunderte politische Gefangene in lettischen Gefängnissen dem Tscheka-Terror zum Opfer.

(Die Vertreter des russischen Staates bestreiten bis heute die historische Tatsache der Besetzung Lettlands am 17. Juni 1940.)

Die zweite - deutsche - Okkupation begann mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Riga am 1. Juli. Große Teile der lettischen Bevölkerung begrüßten die Wehrmacht als „Befreier“. Gestützt auf einheimische Kollaborateure wie das Kommando Arajs begann das Einsatzkommando 2 von Sicherheitspolizei und SD sofort mit der Verfolgung von Juden und mutmaßlichen Kommunisten. Schon am 4. Juli wurden alle Synagogen Rigas bis auf die in der engen Altstadt niedergebrannt. Hunderte Menschen verbrannten dabei. Den „Sommerexekutionen“ fielen ca. 6.000 Menschen zum Opfer. Die 30.000 Rigaer Juden wurden im Oktober im Ghetto in der Moskauer Vorstadt zusammengepfercht. Am 30. November und 8. Dezember wurden über 25.000 Rigaer Juden im Wald von Rumbula von Angehörigen des Einsatzkommandos 2 erschossen – um „Platz zu schaffen“ für die angekündigten Deportationszüge aus Deutschland, Wien und Theresienstadt. Dass Riga dann zum „Auschwitz der westfälischen Juden“ wurde, ist bis heute wenig bekannt.

Von den 73.000 lettischen Juden vor dem deutschen Überfall  überlebten insgesamt etwa 1.700, davon 1.200 in deutschen Lagern.

Nach Stalingrad wurden zwei lettische, der Waffen-SS unterstellte Divisionen aufgestellt, zum großen Teil aus Zwangsrekrutierten, zu rund 15% aus Freiwilligen. Viele Angehörige von Erschießungskommandos wurden Soldaten der Lettischen Legion. Knapp 20.000 Letten wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt.

Die dritte, sowjetische Okkupationerwuchs aus dem Vormarsch der Roten Armee, in die nun ca. 60.000 lettische Männer eingezogen wurden. (Etwa 200.000 wurden schätzungsweise insgesamt von deutscher und sowjetischer Seite in das jeweilige Militär eingezogen. Etwa die Hälfte fiel dabei.) Viele Letten flohen vor der anrückenden Roten Armee nach Westen. Rund 130.000 blieben für Jahrzehnte im westlichen Exil. Münster mit dem Lettischen Gymnasium und Zentrum galt lange als Hauptstadt der Exilletten im Westen.

Lettland wurde ein regelrechtes Militärlager. Weite Teile des Landes wurden für militärische Zwecke umgewidmet: als Truppenlager, Übungsgelände für Artillerie und Bombenabwürfe, Munitionslager, Atomraketenbasen,, Flugplätze, Marineeinrichtungen. Große Teile der Ostseeküste wurden Sperrgebiet. (Eine Karte im Volksfront-Museum zeigt die enorme Dichte an sowjetischen militärischen Einrichtungen in Lettland.) Die sowjetische Armee war auch an der inneren Repression und den Massendeportationen beteiligt. Offiziere konnten nach Ausscheiden aus dem Dienst in Lettland verbleiben. Bei Abzug der russischen Streitkräfte 1994 blieben rund 20.000 ehemalige sowjetische Armeeangehörige im Land.

Über Einwanderung und Ansiedlung veränderte sich massiv die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, die durch Krieg, Deportation und Flucht ein Drittel der vormals zwei Millionen Einwohner verloren hatte. 1935 lebten in Lettland 1, 47 Mio. Letten (75%), 207.000 Russen und 271.000 andere; 1989 1,298 Mio. Letten (52%), 910.000 Russen und 373.000 andere.  In den größten Städten wurden die Letten zur Minderheit. Die zweite sowjetische Okkupation war eine Kolonisierung – Sowjetisierung und Russifizierung.

Ort gemeinsamer Erinnerung: Früher lag der Fokus des Museums auf den sowjetischen Okkupationen, wurden Nazi-Besatzung und Holocaust nur am Rande erwähnt. Das hat sich jetzt deutlich geändert: Der erste Raum behandelt bis Tafel 17 die erste Okkupation, der zweite und größte Raum (Tafel 18-32) die deutsche Besatzung, der dritte, kleinere Raum (Tafel 34-48) die dritte, sowjetische Okkupation und das „nationale Erwachen“. Im kleinen Buchladen gibt es vielfältige Veröffentlichungen zum Thema, so den Museumskatalog „1940-1991 Museum of the Occupation of Latvia“, Riga 2012; „The Case for Latvia – Desinformation Campaigns against a small nation“ des finnischen Journalisten Jukka Rislakki, Amsterdam 2014; Stefan Karner u.a. (Hg.) „Österreichische Juden in Lettland, Innsbruck 2010;

„Map of GULAG“ hg. Von Riga Memorial Society 1973; Meyer Meler, JEWISH LATVIA: Sites to remember- Latvia Jewish Communities Destroyeed in the Holocaust, Tel Aviv 2013

Ich erlebe an einem Sonntagnachmittag einen regen Besucherandrang überwiegend jüngerer Leute.

Das Okkupationsmuseum scheint mir der einzige Ort zu sein, wo die verschiedenen, konträren Leidens-, Opfer-, aber auch Tätergeschichten dieses kleinen Landes und Volkes zusammentreffen, wo gemeinsames Erinnern mit Empathie für die Leiden der anderen möglich wird.

Von 1920 bis 1940 erlebten die Letten erstmalig in ihrer Geschichte eine Phase nationaler Unabhängigkeit. Sie wurde zertrümmert von 51 Jahren totalitärer Okkupation, die sich jeweils auf eine gewisse soziale Basis und Kollaborateure im Land stützen konnten und mit massiver Propaganda einhergingen.

Es ist eine Bevölkerung, hin- und hergeworfen durch Weltkrieg und Kalten Krieg, erschüttert durch enorme Bevölkerungsverluste und –umwälzungen, gespalten durch traumatische kollektive Erinnerungen und unterschiedliche Loyalitäten.

Frappierend sind die Ähnlichkeiten zwischen der ersten Okkupation und heutiger „hybrider Kriegführung“ auf der Krim und in der Ostukraine!

Museum der lettischen Volksfront

Anfang der 90er Jahre besuchten wir das Zentrum der Volksfront in der Altstadt: ein emsiges Gewusel. Jetzt bin ich an einem Montag der einzige Besucher in dem über alle Etagen gehenden Museum.

Erste Proteste entzünden sich in der Sowjetunion 1986 nicht an politischen Themen im engeren Sinne, sondern an Umwelt- und Kulturstreitfragen: z.B. um das Projekt eines Wasserkraftwerk in Daugavpils. Wälder sollten gerodet, Bevölkerung umgesiedelt werden, nach dem Nutzen hatte niemand gefragt. Ein Artikel „Nachdenken über das Schicksal der Düna“ in der Zeitschrift „Literatur und Kunst“ brachte den Stein ins Rollen. Erstmals kam es in der Sowjetunion zu öffentlichen Protesten. 1987 wurden die Arbeiten gestoppt. Das wirkte ermutigend. Oder die Konflikte um eine künftige U-Bahn in Riga oder den Betrieb veralteter Papierfabriken und ihrer Abwässer. In Libau entstand die Menschenrechtsgruppe Helsinki-86. Anfang 1987 gründete sich der „Klub zur Verteidigung der Umwelt“ (VAK). Im November 1988  findet in der Skolas iela der erste Kongress der Gesellschaft für jüdische Kultur statt. Die Nr. 48 von „Literatur und Kunst“ handelte über Juden in Lettland. Ende der 80er Jahre gründete sich auch der „Verein der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands“ (LEGU).

Am historischen Datum des 23. August 1987 organisierte Helsinki-86 eine erste Großdemonstration zum Gedenken an die Deportationen vom 14. Juni 1941 am Freiheitsdenkmal. Am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes bildeten 1989 – also noch zur sowjetischen Zeit – über zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 670 km von Talinn über Riga nach Vilnius.  Am 71. Jahrestag der lettischen Unabhängigkeitserklärung am 18. November 1988 demonstrierten in Riga rund 500.000 Menschen.  Bei erstmals freien Wahlen zum Obersten Rat der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik erreichten Kandidaten der Volksfront die absolute Mehrheit.

Am 4. Mai 1990, vor genau 25 Jahren,  erklärte der Oberste Rat der LSSR die Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit. Die UdSSR versuchte den Unabhängigkeitsprozess durch Drohungen, Boykottmaßnahmen, schließlich auch durch die Besetzung wichtiger Gebäude zu stoppen – erfolglos. In Riga bewachten rund 100.000 Menschen die an wichtigen Punkten errichteten Barrikaden. In Sichtweite des jetzigen Okkupationsmuseums erinnern fünf Gedenksteine an die damals Erschossenen.

Mavrik Vulfson, führender Journalist, war zur sowjetischen Zeit der erste,  der von der ersten Okkupation 1940 sprach. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung des Originals des Hitler-Stalin-Paktes Der früher „lettischer Bärentöter“ Genannte, ist heute weitestgehend vergessen.

Der Unabhängigkeitsprozess der baltischen Staaten war ein historischer Sieg des gewaltfreien Widerstandes einer ganzen Gesellschaft – trotz sowjetischer Wirtschaftsblockade, Drohung mit Militärintervention und gewaltsamem Vorgehen der OMON-Spezialeinheiten. Begünstigt wurde dieser Sieg durch die strategische Schwäche der Sowjetunion und den Reformkurs von Michael Gorbatschow. Ab 1993 bis Ende 2001 unterstützten OSZE-Missionen Estland und Lettland bei der Integration ihrer starken russischsprachigen Minderheiten. (Dazu Sabine Machl im OSZE-Jahrbuch 2002, hg. vom IFSH, http://ifsh.de/file-CORE/documents/jahrbuch/02/Machl.pdf ) Der Unabhängigkeitsprozess im Baltikum hätte auch ganz anders verlaufen und in einen Gewaltkonflikt münden können.

Am 30. Juni wurde bekannt, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft auf Antrag von zwei Duma-Abgeordneten die Rechtmäßigkeit der Anerkennung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten durch den Staatsrat der UdSSR in 1991 prüft. (http://baltische-rundschau.eu/politik/russland-prueft-legalitaet-der-unabhaengigkeit-der-baltischen-staaten/ )

Ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge zur aktuellen Lage

Beide sind 89 Jahre, viersprachig, haben unter beiden Besatzungsmächten gelitten, sind geistig sehr wach, politisch umfassend informiert (eine wichtige Quelle die unabhängigen russischen Sender „Doschd/Regen“/TV und „Echo“/Radio) und in ihrem Urteil seit Jahrzehnten unabhängig.

- Mit der Einnahme der Krim habe man nicht gerechnet. Es kam aber doch. Krim sei nur ein Schritt in der Politik Putins. Von ihm könne man alles erwarten.

Georgien, Krim, Donbass - da habe man an die Vorkriegszeit der späten 30er Jahre gedacht.

- In russischen Radios heiße es, ´wir haben das Recht, das geknechtete russische Volk zu erlösen` - wie Sudetenland, Memelland. Putin äußere sich demgegenüber ganz ruhig.  Im Radio äußern Hörer Begeisterung über die neue russische Größe. Putin wolle ein Russland in den Grenzen des Zarenreiches, also mit Ukraine, Baltikum.

- Im Internet kursieren Aufrufe für ein unabhängiges Lettgallen (südöstlicher Landesteil, nur 17% Letten, früher hoher jüdischer Bevölkerungsanteil in Städten; in der estnischen Grenzstadt Narva sind 90% der Einwohner Russen).

- Heute kreuze die russische Marine demonstrativ an der Seegrenze. Russische Jets fliegen dicht an die Grenze – wechseln in Tiefflug, verschwinden vom Radar. „Fast-Luftraumverletzungen“, demonstrative Nadelstiche.

(Alexander Bergmann besuche ich genau 70 Jahre nach seiner Befreiung und überbringe ihm dazu den großen Artikel von Lorenz Hemicker in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/politik/70-jahre-kriegsende/kz-haeftling-alexander-bergmann-das-ende-einer-hoellenfahrt-13527570.html ; im April 2015 erschien „Dem Judenmord entkommen – Bericht über zwei Jahrzehnte unseres intensiven Austausches mit den Überlebenden des Holocaust im Baltikum“ von Hanna und Wolf Middelmann, http://www.gegen-vergessen.de/startseite/news-detailseite/article/dem-judenmord-entkommen-bericht-ueber-zwei-jahrzehnte-austausch-mit-den-ueberlebenden-des-hol.html )

Andere Gesprächspartner

- äußern sich genauso zu den „Beinahe-Grenzverletzungen“. Russische Militärflugzeuge hatten 2014 über der Ostsee 150 Mal weder Flugpläne eingereicht noch den Transponder (zur Übertragung der Flugdaten an zivile Fluglotsen) eingeschaltet, eine Verdreifachung ggb. 2013. (SZ 22.5.2015)

- Nahe der lettischen Grenze befindet sich der russische Militärstützpunkt Ostrow. Die dort stationierte 15. Heeresfliegerbrigade verfüge über modernste Hubschrauber.

Demgegenüber verfügen die lettischen Streitkräfte mit ihren rund 5.300 Mann über 70 Geschütze, keine Kampfflugzeuge und drei T-55-Panzer (aus den 50er Jahren). Der Nationalgarde sind 11.000 Reservisten zugeordnet. Die Grenze sei nicht befestigt. (Estland: 5.750 Soldaten, 334 Geschütze, 0 Panzer und Kampfflugzeuge; Litauen: 11.800, 48, 0, 0; Russland: 885.000, 5.436, 2.550, 1.390. Das Gebiet um Kaliningrad, der russischen Exklave südwestlich der baltischen Staaten, gilt als die am stärksten militarisierte Region Europas. Estland erwarb inzwischen von den Niederlanden 44 Exemplare des schwedischen Panzers CV90; das litauische Parlament beschloss im März die Wiedereinführung der 2008 abgeschafften Wehrpflicht auf zunächst fünf Jahre bei nur zwei Gegenstimmen.)

- Eine hybride Operationsführung sei vor allem in den Medien zu spüren. Russische Fernsehsender seien wegen ihrer Unterhaltungsprogramme sehr attraktiv. Dazwischen geschaltet sei Propaganda mit deutlichen Fehlinformationen. Das lettische TV sende demgegenüber nur zwei Stunden auf Russisch und sei wenig attraktiv.

- Auch unter etlichen russischsprachigen Juden verfange die russische Propaganda. Jemand habe erzählt, dass Juden in der Ukraine vergraben würden. Man habe gute Kontakte zu Jüdischen Gemeinden in der Ukraine. Es gebe dort für Juden keine neuen Bedrohungen. Es gebe sogar nationale Gruppen, die Synagogen gegen mögliche Provokateure schützen würden.

- Sehr verbreitet sei inzwischen das braun-schwarze Sankt-Georgs-Band. Seit 2008 seien mehr als 50 Millionen Schleifen verteilt worden – als demonstratives Zeichen gegen die „Farben-Revolutionen“ und für russische Größe. Bei der Krimkrise trugen prorussische Demonstranten die Schleife. Junge Leute verteilen sie. (http://www.nzz.ch/wer-hat-angst-vor-dem-georgs-band-1.18307333 ; www.9maya.ru/9may ; hier auch Videos von der gigantischen Militärparade zum 9. Mai in Moskau)

- Angst herrsche vor Cyberattacken. (2007 erlebte Estland einen massiven Cyberangriff auf die Seiten von Regierung, Parlament, Banken und Medien im Kontext eines wochenlangen Streits um die Verlegung eines sowjetischen Denkmals für den „unbekannten Soldaten“.)

- In Litauen habe inzwischen das Verteidigungsministerium das Handbuch „Was wir zur Vorbereitung extremer Situationen und Krieg wissen müssen“ herausgegeben. Es enthält konkrete Empfehlungen zum Verhalten unter Besatzung und zu unbewaffnetem Widerstand.[3] Das lettische Parlament bereite eine solche vor.

- Ein Filmemacher: Von lettischer Seite werde auch bewusst Panik geschürt. Viele Familien seien „gemischt“, er erlebe sich zwischen allen Stühlen. Es herrsche ein Atmosphäre, als gebe es morgen Krieg. Viele seien „verrückt geworden“, „krass national“.

Die Gegenwart der Vergangenheit

- Musical über Herbert Cukurs: zwei ausverkaufte Aufführungen im Dezember 2014 und Februar 2015 in der Akademie der Wissenschaften (unweit des früheren Ghettos), es gab riesigen Beifall. Cukurs gilt als Fliegerheld des ersten unabhängigen Lettland. In der Zeit der deutschen Besatzung war er im Stab des Kommando Arajs an Massenerschießungen beteiligt. Veröffentlichte Dokumente belegen das. Zu seiner Reinwaschung werde behauptet, er habe verschiedene Juden gerettet. Margers Vestermanis bestreitet das. Er weist darauf hin, dass Cukurs sich im August 1940 freiwillig gemeldet habe, um in Moskau bei der Iljuschin-Entwicklung mitzumachen. Nach Rückzug der Roten Armee 1941 galt er als sowjetischer Kollaborateur. Das wollte er wohl durch seine freiwillige Meldung zum Kommando Arajs „heilen“.  Die deutsche Botschafterin intervenierte daraufhin beim Akademiepräsidenten.

- Oper „Valentina“ von Arturs Maskats über die Geschichte der lettisch-jüdischen Film- und Theaterwissenschaftlerin Valentina Freimane (geb. 1922). Sie überlebte den Holocaust in verschiedenen Verstecken. In der Sowjetzeit hatte sie Schwierigkeiten wegen ihrer Herkunft, machte aber dennoch Karriere. Zur Uraufführung erschienen Präsident, Abgeordnete, das „lettische Establishment“. Ihre Erinnerungen sind inzwischen auch in Deutschland erschienen („Adieu, Atlantis“, Wallstein-Verlag) , übersetzt von Matthias Knoll.  Am 19. Mai führte die Lettischen Nationaloper die Oper in der Deutschen Oper in Berlin auf. (http://www.tagesspiegel.de/kultur/oper-ueber-eine-holocaust-ueberlebende-einmal-riga-und-zurueck/11785306.html )

Das Gastspiel stand unter der Schirmherrschaft der Außenminister von Deutschland und Lettland. Die Oper entstand im Rahmen des Programms Riga als Europäische Kulturhauptstadt und war ein Höhepunkt der lettischen EU-Ratspräsidentschaft.

- Aufgeladene Gedenktage: Am 16. März nahmen etwa 1.500 Veteranen der zwei lettischen Divisionen der Waffen-SS (s.o.) und ihre Anhänger an dem alljährlichen Gedenkmarsch zum „Tag der Legionäre“ teil, unter massivem Polizeischutz und heftiger Kritik seitens der Jüdischen Gemeinde und der russischen Minderheit. Am 9. Mai feierte die lettische Regierung den Beitritt Lettlands zur EU, begleitet von einem Tag der offenen Tür der estnischen, finnischen, französischen, deutschen, litauischen und schwedischen Botschaft. Am Siegesdenkmal im Stadtteil Pardaugava kamen 100.000 (Polizeiangaben) bzw. 150.000 (Veranstalterangaben) Menschen vor allem der russischsprachigen Minderheit zum „Tag des Sieges“ der Sowjetunion über Nazi-Deutschland zusammen. Mitte der 90er Jahre nahmen nur wenige tausend Veteranen an der Siegesfeier teil. Das änderte sich ab 2001 mit 100.000 und 2005 mit 260.000 Teilnehmern. Damals sorgte der Protest gegen die Zurückdrängung von Russisch als Unterrichtssprache für besonderen Zulauf. (http://www.infobalt.de und http://lettland.blogspot.de/ ; http://www.lettische-presseschau.de/politik/lettland/539-8-mai-und-9-mai-unterschiedliches-gedenken-an-das-kriegsende-spaltet-lettland-und-europa )

- Ausstellung im Jüdischen Zentrum in der Skolas iela über Juden, die den „Drei-Sterne-Orden“ des lettischen Staates (höchster lettischer Orden) erhielten: Unter ihnen Mavrik Vulfsons, Margers Vestermanis, Alexander Bergmann, Valentina Freimane, Steven Springfield.

Gespaltene Erinnerung – Beobachtungen eines Sozialwissenschaftlers

Vorherrschend sei das Reden von den eigenen traumatischen Erfahrungen. Die eingekapselten Traumata der eigenen Gemeinschaft seien beherrschend. Wie könne es gelingen, die Erfahrungen der anderen wahrzunehmen und damit zu leben? Wie das eigene Trauma gegenüber anderen öffnen, wie die anderen ansprechen?

Notwendig sei eine gemeinsame Erinnerung, ein Pluralismus der Erinnerung, eine Europäisierung der Erinnerungskultur.  (vgl. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – eine Intervention, München 2013)

Offene Fragen der Vergangenheit seien die offenen Türen für Putins Propaganda.

Am 18. Februar 2012 fand ein Referendum zu Russisch als zweite Staatssprache statt. 75% votierten dagegen, 25% dafür. Sprache sei für viele osteuropäische Gesellschaften  d e r  Identifikationskern. Das Referendum wurde als Angriff wahrgenommen. Zugleich: Ein Viertel der Stimmberechtigten wurde abgewiesen, z.T. als „illoyal“ abgestempelt.  Das Minderheitenvotum wurde ignoriert.  Das Referendum war ein „letzter Schrei“.  Seit 2013 gebe es ein von Nichtbürgern gewähltes „Nichtbürger-Parlament“. Lettische Offizielle ignorierten es, Regierung und Parlament reagierten nicht.

Die Regierung führte eine Umfrage zur Loyalität von Minderheiten durch. Offiziell hieß es, die Mehrheit der Minderheiten sei loyal. Im Fernsehen wurde von geheim gehaltenen entgegengesetzten Ergebnissen berichtet, wonach sich 62% nur über russische Medien informieren und 56% gegen die EU-Mitgliedschaft, aber für die Eurasische Union seien.

In Lettland seien die Parteien ethnisch orientiert und werde ethnisch gewählt. Es gebe Gerüchte, dass zwei Parteien im Parlament aus Russland finanziert würden. Auch die Zivilgesellschaft sei ethnisch geprägt. Gemischte NGO`s gebe es kaum.

Vor den Parlamentswahlen Anfang Oktober 2014 berichtete Konrad Schuller in der FAZ über Radikalisierungsprozesse in der russophonen Minderheit wie auch in der lettischen Mehrheit. (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/lettlands-angst-vor-dem-gespenst-des-russischen-reiches-13184715.html )

Man gewöhne sich an das Leben in parallelen Räumen. Einiges werde dadurch einfacher. Politik pflege zugleich Ängste, werde neurotischer. In der lettischen Gesellschaft gelte „Hauptsache national“. Skepsis bestehe gegenüber Minderheiten- und Menschenrechten, sie seien durch Putin diskreditiert. Wer Minderheitenfragen thematisiere, fördere „nationale Unzuverlässigkeit“. Menschenrechte würden als Risiko und Nachteil  wahrgenommen.

Heute sei eine neue Europäisierung zu Menschen- und Minderheitenrechten notwendig wie Ende der 80er Jahre.

Angesagt sei die Förderung von Dialogforen und –prozessen, einer Debattenkultur über die Grenzen der gesellschaftlichen Parallelwelten hinweg. Auch russische Intellektuelle müssten mit an Bord. Kompetente Interessenten dafür gebe es. Aber die Rahmenbedingungen dafür seien schlecht und es mangele an Ressourcen dafür. Schon mit relativ geringen Summen ließe sich aber einiges in Gang setzen.

Beim 2. Symposium des Deutschen Riga-Komitees am 17. April in Münster beschrieb die junge lettische Professorin Ilva Skulte die unterschiedlichen Diskurse in Deutschland und Lettland. „Wir fühlen uns nicht eingeschrieben in die europäische Geschichte.“ Man wolle einen gemeinsamen Diskurs, nicht einen bloßen Import von Holocaust-Gedenken.[4]

Aktuelle Sicherheitspolitische Lage: Rückkehr von Bündnisverteidigung, Abschreckung – und Kaltem Krieg?

In den Tagen meines Riga-Besuches Mitte April endete die erste Übung der neuen „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF) der NATO, besuchten erst die deutsche Verteidigungsministerin, dann der deutsche Außenminister die baltischen Staaten. Nach der Alarmierungsübung vom April übten inzwischen im Juni 2.100 Soldaten der vom I. Deutsch-Niederländischen Korps[5] in Münster geführten VJTF auf einem polnischen Truppenübungsplatz ein Szenario à la Ostukraine. („Noble Jump“)

Ein Münsteraner LINKEN-MdB kritisierte am 15. Juni das Manöver als „Säbelrasseln gegenüber Russland“. Es verschärfe die Spannungen und erhöhe die Kriegsgefahr. Die NATO setzte ihre Eskalationsstrategie gegenüber Russland fort. Das sei ein Rückfall in Zeiten des Kalten Krieges. (vgl. Antrag der Fraktion DIE LINKE „Demilitarisierung statt Eskalation – Keine NATO-Eingreiftruppe im Osten Europas, Drs. 18/3913 vom 3.2.2015) Ludger Volmer, früherer Parteivorsitzender Grünen und AA-Staatsminister, äußerte am 25. Juni im Deutschlandfunk die Befürchtung, die NATO-Aufrüstung für Osteuropa könne auf russischer Seite eine weitere Aufrüstung provozieren und zu einer Konflikteskalation führen.

Kommentar[6]

(1) Die Bedrohungsängste in Lettland (und den anderen baltischen Staaten) gegenüber der gegenwärtigen russischen Politik sind kein Hirngespinst und dürften nicht mit dem in Russland verbreiteten postsowjetischen Verlustschmerz gleich gesetzt werden. Sie sind angesichts der traumatischen Erfahrungen mit fast 50 Jahren sowjetischer Besatzung und fehlender Vertrauensbildung in der nachsowjetischen Zeit überaus verständlich. Sie sind angesichts der hybriden russischen Kriegführung in der Ukraine, des regelrechten Propagandakrieges gegen die baltischen Staaten und der eigenen Schutzlosigkeit auch begründet. Umstritten ist, was von Seiten des russischen Staates an Druck und Bedrohung gegenüber den baltischen Staaten möglich, wahrscheinlich oder (nicht) auszuschließen ist. Keineswegs auszuschließen und teilweise Realität ist ein Destabilisierungsszenario mit militärischer Drohkulisse. Für abwegig halte ich eine offene militärische Aggression. (vgl. zwei konträre Kommentare in The Baltic Times Mai 2015: „Why the idea of Russian invasion in the Baltics is absurdity“ und „The Russians are coming to occupy the Baltic States“) Zum Baltikum kenne ich aber zugestandenermaßen bisher keine sorgfältige Risiko- und Bedrohungsanalyse, die zwischen Bedrohungsgefühl und Bedrohungspotenzialen und –absichten unterscheidet.

(2) Höchste Normen des Völkerrechts sind laut UN-Charta das internationale Gewaltverbot, das Recht auf nationale Selbstbestimmung und die Achtung der nationalen Souveränität, die friedliche Streitbeilegung, das „naturgegebene Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“. (Wer bisher Auslandseinsätze der Bundeswehr generell ablehnte, zog meist nicht das Selbstverteidigungsrecht der Nationalstaaten infrage.)

Die kleinen baltischen Staaten sind gegenüber Russland aus eigener Kraft nicht verteidigungsfähig. Als Mitglied von NATO, EU und UN haben sie ein selbstverständliches Recht auf Unterstützung ihrer nationalen Verteidigungsfähigkeit im Rahmen kollektiver Sicherheit. Das soll dazu beitragen, Krieg zu verhüten und nicht, ihn führbarer und wahrscheinlicher zu machen.

(3) Schlüsselfragen: Wie kann die Souveränität der baltischen Staaten gewahrt, eine Destabilisierung und Gewalteskalation verhütet werden, ohne dabei eine Spirale der wechselseitige Schuldzuweisungen, Propaganda, Aufrüstung und Konfliktverschärfung zu befördern? Wie können dabei die historischen Errungenschaften der europäischen Friedensordnung und der Rüstungskontrolle im OSZE-Raum genutzt, bewahrt und ihre weitere Zersetzung verhindert werden? Nüchtern ist dabei zu bedenken, dass es in solchen Konflikten neben legitimen Interessen, Missverständnissen und Fehlwahrnehmungen auch starke Interessen an Aufrüstung und Konfliktverschärfung gibt sowie Akteure, die vor lauter Selbstgerechtigkeit und Schwarz-Weiß-Denken blind sind für eigene kontraproduktive Wirkungen.

(4) Bündnissolidarität: Die NATO- und EU-Verbündeten sind gegenüber ihren besonders beunruhigten östlichen Mitgliedern zu glaubwürdiger Bündnissolidarität verpflichtet. Diese zu verweigern, würde in (Mittel-)Osteuropa eine Renationalisierung und Privatisierung der Landesverteidigung befördern (Milizen sollen in Polen und einzelnen baltischen Staaten Zulauf haben)[7] – und/oder eine verstärkte Hinwendung zu den USA. Verweigerte oder nur symbolische Bündnissolidarität könnte die Schwelle für Destabilisierungsoperationen bzw. –dynamiken senken. Es würde das Vertrauen in das kollektive Sicherheitsversprechen vor allem der NATO, aber auch der EU ins Mark treffen.

(5) Militärische Maßnahmen der NATO sind erwägenswert nur im Rahmen des Völkerrechts und der NATO-Russland-Akte von 1997 - auch wenn letztere inzwischen vielfach infrage gestellt und gebrochen wurde, massiv von Russland in der Ukraine. Sie sollen für die baltische Seite vertrauensbildend und beruhigend, für die russische Führung abhaltend (ggfs. abschreckend), aber nicht provozierend, insgesamt kriegsverhütend + friedenssichernd wirken. Spätestens nach den Empfehlungen der Rühe-Kommission müsste eine frühzeitige Einbeziehung des Bundestages dabei selbstverständlich sein

Die Reassurance-Maßnahmen der NATO:

- Gesteigerte Patrouillen- und Überwachungstätigkeit in der Luft (Air Policing, AWACS) und auf See sind völlig legal, konfliktpräventiv und ohne Eskalationsrisiko. Ihre Abhaltewirkung ist aber kaum mehr als symbolisch.

- Gemeinsame militärische Übungen demonstrieren Verteidigungsfähigkeit und –bereitschaft. Ihre Glaubwürdigkeit – und damit ihre Abhaltewirkung – hängt entscheidend von der sehr schnellen Verfügbarkeit der dafür vorgesehenen Kräfte ab. Die ist angesichts schneller Konfliktdynamiken heutzutage unabdingbar.

- Der NATO-Gipfel in Wales im September 2014 vereinbarte einen Readiness Action Plan (RAP), von dem die Verteidigungsminister im Februar 2015 einige Vorschläge beschlossen. Bis zum NATO-Gipfel in Polen 2016 sollen die Wales-Vereinbarungen im Wesentlichen umgesetzt werden. Neben den o.g. Maßnahmen (Überwachung, Übungen) geht es vor allem um erhöhte Einsatzbereitschaft und Reaktionsfähigkeit: Aufstockung der – bisher nie eingesetzten - NATO Response Force (NRF) von 13.000 auf 40.000 (einsatzfähig binnen 30 Tage) und die Aufstellung der NATO-„Speerspitze“: 5.000 Soldaten im stand-by der Schnellsteinsatzbereitschaft von zwei bis sieben Tagen, je 5.000 Soldaten im stand-up der Vorbereitungsphase und stand-down der Nachbereitungsphase mit Einsatzbereitschaft von jeweils 30 Tagen (jede Phase ein Jahr). Aufgebaut werden wollen regionale Aufnahmestäbe (NATO Force Integration Units) mit je ca. 40 Soldaten in den baltischen Staaten, aber auch Polen, Rumänien und Bulgarien.

Eine reale Schnellsteinsatzfähigkeit ist gegenwärtig nicht leistbar – schon wegen mangelnder Transportkapazitäten, nationaler Vorschriften für Schwertransporte etc. (Eine von östlichen Verbündeten geforderte dauerhafte Stationierung westlicher NATO-Truppen wurde ausdrücklich nicht beschlossen. Die von den USA angekündigte Vorabstationierung von schweren Kampfpanzern, Kampf- und Transportflugzeugen, Kriegsschiffen, Soldaten aus US-Spezialeinheiten in Osteuropa würde nach Einschätzung von Andreas Zumach[8] zumindest gegen den Geist der Grundakte verstoßen.)

Auszug NATO-Russland-Akte:

„Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtige und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert. Das Bündnis wird sich dementsprechend auf eine angemessene, den genannten Aufgaben gerecht werdende Infrastruktur stützen müssen. In diesem Zusammenhang können, falls erforderlich, Verstärkungen erfolgen für den Fall einer Verteidigung gegen eine Aggressionsdrohung und für Missionen zur Stützung des Friedens im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen (...).“ http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de )

Mögliches Dilemma: Die schnellen Eingreifverbände der NATO sind als Verstärkungskräfte mit der NATO-Russland-Akte vereinbar und schon wegen ihres Umfangs gegenüber Russland nicht angriffsfähig. Gegenüber einer russischen Führung, die in Kategorien von militärischer Stärke und ihrer Version von Kosten-Nutzen denkt, können solche Verstärkungskräfte abschreckend und kriegsverhütend wirken. Sie können aber auch Wasser auf die Mühlen der nicht nur in Russland verbreiteten und geschürten Wahrnehmung sein, vom „Westen“ bedrängt und gedemütigt zu werden.

Die Beteuerungen der politischen NATO-Spitzen, sich nicht in einen Rüstungswettlauf mit Russland  hineinziehen zu lassen und den Dialog führen zu wollen, klingen vernünftig, können sich aber angesichts des Sichtbarkeitsvorsprungs militärischer Maßnahmen schnell als frommer Wunsch erweisen.

(6) Primärrisiko Destabilisierung und hybride Operationsweisen: Der Einsatz nicht-militärischer Maßnahmen gegen zivile Ziele (kritische Infrastruktur, gesellschaftlicher Zusammenhalt) hat hierbei eine zentrale ggfs. dominierende Bedeutung.[9] Von daher könnte eine nur militärische oder militärlastige Bündnissolidarität schnell unterlaufen werden. Die Grundlehre der internationalen Kriseneinsätze – es geht nur multidimensional und kohärent – gilt jetzt mindestens genauso, ja noch mehr!  (Hier unterscheidet sich die heutige Art der Bündnisverteidigung auch elementar von der zurzeit des Kalten Krieges, die vom Primat des Militärischen geprägt war und wo die Zivile Verteidigung eine Funktion der militärischen war.)

Dass die EU bis Jahresende eine Strategie zu nicht-militärischen Bedrohungen vorlegen will, ist grundsätzlich richtig, macht aber zugleich einen sehr gemächlichen Eindruck im Vergleich zum bilder-starken Aufbau der NATO-„Speerspitze“.

 

Destabilisierungsstrategien setzen an Verwundbarkeiten an. Stabilisierungsstrategien sollen Resilienz und Widerstandskraft fördern:

- Konflikte mit Minderheiten: Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten sind eine Hauptursache innerstaatlicher Gewaltkonflikte. Das beste Mittel gegen das Schüren von Minderheitenkonflikten sind eine integrative Minderheitenpolitik, Förderung von gesellschaftlichem Dialog und Stärkung multiethnischer Kräfte in der Zivilgesellschaft. (vgl. die OSZE-Missionen 1993 bis 2001) Hier gibt es offenbar erheblichen Handlungsbedarf.  (Beim Auswärtigen Amt wären Förderansätze beim Programm „zivik“ und der „Östlichen Partnerschaft“ der AA-Kulturabteilung)

- Informationskrieg: Vgl. die Dokumentation der Tagung „Russische Desinformation im 21. Jahrhundert“ in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, von der Johannes Voswinkel, langjähriger Moskau-Korrespondent der ZEIT, berichtet (https://www.boell.de/de/2015/07/08/russische-propaganda-und-deutsches-schwanken ).[10]

Beim letzten Besuch von Außenminister Steinmeier im Baltikum war die deutsche Hilfe beim Aufbau öffentlich-rechtlicher, russischsprachiger Sender und die Förderung pluralistischer Gegenöffentlichkeit ein zentrales Thema. (http://www.spiegel.de/politik/ausland/baltikum-fernsehsender-kaempfen-gegen-russische-propaganda-a-1035009.html  ) In Riga gründete die NATO Anfang 2015 ein “Strategic Communication Centre of Excellence“.

- Cybersicherheit:  Seit 2008 besteht in der estnischen Hauptstadt Talinn das „NATO Cooperative Cyber Defence Center of Excellence“ mit 50 Offizieren und zivilen Mitarbeitern. Seit mehr als fünf Jahren läuft hier die jährliche Übung Closed Shields“. Hierbei wird der inzwischen größte simulierte Angriff auf Internet-Netzwerke weltweit geübt. 2015 beteiligten sich Teams aus 18 Ländern. Der NATO-Gipfel in Wales setzte Cyberangriffe ausdrücklich mit konventionellen Angriffen gleich.

- Energiesicherheit: Bisher sind die baltischen Staaten mit ihrer Erdgasversorgung zu 100% von Russland abhängig. Mit der neuen schwimmenden Umladestation für Flüssiggas in Kleipeda (Memel) machen sie einen Riesenschritt Richtung Energieunabhängigkeit.

Neue Herausforderungen für zivile Krisenprävention und Stabilisierung angesichts hybrider Operationen und Kriegführung: Im Mittelpunkt des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention“ der Bundesregierung (2004) und der inzwischen vier Umsetzungsberichte steht der Umgang mit Konflikten und Fragilität. Strategische Ansatzpunkte sind in diesem Kontext die Herstellung verlässlicher staatlicher Strukturen, die Förderung gesellschaftlicher Friedenspotenziale und die Schaffung von Lebensgrundlagen. (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/032/1803213.pdf )

Bei hybrider Kriegführung geht es demgegenüber um die gezielte Schwächung von Staatlichkeit durch multidimensionale, mehr oder weniger verdeckte Angriffe eines autoritär-starken Staates. Ihre Operationen halten sich nicht an Recht und Gesetz, schließen Gewalt und vor allem Gewaltdrohung ein, sind konfrontativ, konzertiert, wirkmächtig und schnell. Dialog, Vermittlung, Vertrauensbildung und Maßnahmen der zivilen Krisenprävention wirken eher auf lange Sicht, selten kurzfristig. Ihre Akteure haben es gegenüber einer solchen aggressiven Herausforderung und Eskalationsdominanz besonders schwer. Aktuell wird jetzt nichtsdestoweniger der Ansatz der „Soziale Verteidigung“ und ihrer reichen historischen Erfahrungen.[11]

(7) Besondere deutsche Verantwortung

Beim Gang durch die Altstadt der früheren Hansestadt Riga ist unübersehbar, wieviel es an gemeinsamer, auch konstruktiver Geschichte zwischen Deutschland und dem Baltikum gibt. Die Große Gilde mit der Münsterstube, die Kleine Gilde mit der Stube von Soest stehen beispielhaft dafür.

Nazi-Deutschland war zusammen mit der (stalinistischen) Sowjetunion verantwortlich für die Okkupation der baltischen Staaten, für die Verschleppung und Ermordung Hunderttausender ihrer Bürger.

Heute hat das demokratische Deutschland dank seines wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Gewichts bei aller Integration eine Führungsrolle in Europa.

Angesichts der Destabilisierungsgefahr in den baltischen Staaten steht Deutschland in besonderer Verantwortung, gemeinsam mit Verbündeten in Mittelosteuropa für Friedenssicherung, Krisenprävention und Stabilisierung zu wirken.

Außenminister Steinmeier besuchte in seiner zweiten Amtszeit schon fünf Mal das Baltikum. Botschafter Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, leitet eine 15-köpfige Hochrangige Expertengruppe der amtierenden OSZE-Troika (Schweiz, Serbien, Deutschland), die am 17. Juni einen Zwischenbericht zum bisherigen OSZE-Konfliktmanagement in der Ukraine und fünf Empfehlungen zur Stärkung der OSZE vorlegte.[12] Offenbar ist die besondere Verantwortung erkannt.

In der außenpolitischen Debatte und erst Recht in der Medienöffentlichkeit hierzulande scheint aber die kritische Entwicklung im Baltikum bisher kaum eine Rolle zu spielen. Das ist kurzsichtig und sollte sich ändern. Die Krisen- und Gewalteskalation in der Ukraine wurde auch dadurch befördert, dass man sich vorher in Westeuropa politisch kaum für die Ukraine, Osteuropa insgesamt interessierte. Die viel beschworene Krisenfrüherkennung  und –vorbeugung darf nicht wieder verpasst werden.

(8) Zusammenfassung zur „Besonders Schnellen Eingreiftruppe“ der NATO“:

Im Hinblick auf die begründeten Bedrohungsängste und das erhebliche Destabilisierungsrisiko im Baltikum ist die VJTF ein völkerrechtlich legales und sicherheitspolitisch notwendiges, aber auch zwiespältiges Instrument.

Ob es stabilisierend oder spannungsverschärfend wirkt, hängt davon ab,

- wie militärisch glaubwürdig die VJTF ist und wie eindeutig die NATO-Russland-Akte dabei eingehalten wird;

- wie sehr die verschiedenen Konfliktparteien mit ihren Interessen, Rezeptionen, Absichten und Wirkungen verstanden werden (einschließlich der eigenen möglicherweise kontraproduktiven Wirkungen);

- wie kohärent und energisch die nicht-militärische Stabilisierung angegangen wird;

- wie beharrlich Gesprächskontakte wiederbelebt (NATO-Russland—Rat), wie glaubwürdig der viel beschworene Dialog mit der russischen Seite trotz aller Gegenwinde (z.B. verschärfter Druck auf kritische Zivilgesellschaft und freie Medien in Russland) praktiziert und das Chancenpotenzial gemeinsamer strategischer Interessen (Atomvertrag mit Iran, Bekämpfung von IS und Verbündeten) genutzt werden.

 



[1] Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt, im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN)

[2] Zum 2. Symposium des Riga Komitees z.B. http://www.duelmen.de/1020.html?&tx_ttnews[tt_news]=2449&cHash=151e1dc99ac641dde6ac55845350c1f2 , http: