Bundeswehr-"Löschtage": Mehr als ein technischer Datenverlust
Von: Webmaster amDi, 10 Juli 2007 18:57:23 +01:00Über acht Monate wurden der Bundestag und dessen Ausschüsse über die verschwundenen Akten, in denen sich offensichtlich hochsensible Daten befunden haben, im Dunkeln gelassen. Die Bundesregierung muss die zerstörten Dateien wieder beschaffen. Lesen Sie hierzu folgenden Beitrag von Winfried Nachtwei:
Bundeswehr-"Löschtage": Mehr als ein technischer Datenverlust
10. Juli 2007Die Bundeswehr und die politische Führung haben sowohl bei der Datensicherung, der Wiederherstellung und bei der Information gegenüber dem Parlament schlampig und unprofessionell gehandelt. Der Datenverlust wäre vermutlich vermeidbar und die Daten wiederherstellbar gewesen. Der Verdacht, dass dem Parlament über Monate hinweg für die Ausschussarbeit relevante Informationen vorenthalten wurden, hat zu einem erheblichen Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust von Bundeswehr und Bundesregierung geführt.
Der Ansehens- und Vertrauensverlust kann am Ende schwerer wiegen als der Verlust der Daten. Er kann zu einem veritablen Glaubwürdigkeits- und Kompetenzverlust von Bundesregierung und Bundeswehr führen. Deshalb sollte die Bundesregierung alles unternehmen, um den Verdacht, dass Daten manipuliert oder Informationen dem Parlament vorenthalten worden sind, so schnell und so gut wie möglich zu beseitigen. An dieser Aufklärung müssen alle Stellen der Bundesregierung, einschließlich des Kanzleramtes und dessen nachgeordneten Behörden, mitwirken.
Hochbrisanter Datenverlust
Im Dezember 2003 wurden nach Angaben der Bundesregierung zwei Archivdatenträger des Amtes (später: Zentrums) für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ANBW/ZNBW) mechanisch stark beschädigt. Ein Jahr lang hat man offensichtlich eher zaghaft versucht, die Daten zu retten; Ende 2004 hat der Kommandeur entschieden, die Wiederherstellungsversuche einzustellen. Im Juli 2005 wurden die beiden Datenträger vernichtet.
Der genaue Umfang des Datenverlusts ist immer noch unklar. Das öffnet Spekulationen Tür und Tor. Offensichtlich sind hochsensible Daten vernichtet worden. Das Ministerium geht davon aus, dass neben Meldungen des ZNBw v.a. Meldungen des BND, des ISAF Hauptquartiers, des Hauptquartiers der Multinationalen Brigade im Kosovo und der US-Kommandozentrale für den "war on terror", CENTCOM, verschwunden sind. Die Meldungen stammen aus der Zeit von 1999 bis 2003, d.h. sie betreffen den Zeitraum und Vorgänge, die, neben dem Verteidigungsausschuss, zwei Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages intensiv beschäftigen. Die Informationen könnten damit für die parlamentarischen Aufklärungsbemühungen in mehren Fällen von großer Bedeutung sein.
Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben die Bedeutung des Datenverlustes bis heute verharmlost. Es geht nicht, dass das Ministerium oder die Regierungskoalition sich hinstellen und sagen, dass der Untersuchungsausschuss ja schon so viele Aktenordner mit Informationen hätte, dass der Datenverlust für den Kurnaz-Untersuchungsauschuss nicht relevant sei. Da das Ministerium angeblich selbst nicht weiß, was genau fehlt, sind solche Behauptungen völlig fehl am Platz.
Inzwischen räumt Staatssekretär Wichert öffentlich ein, es könne "nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass Daten, die aus heutiger Sicht für die Arbeit des Untersuchungsausschusses relevant wären, durch den technischen Defekt vernichtet wurden." Das heißt nichts anderes, als dass die Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages seit Monaten auf einer womöglich unzureichenden Arbeitsgrundlage Zeuge um Zeuge befragen. Wenn wir den Untersuchungsauftrag Ernst meinen, können wir die Beweisaufnahme nicht eher beenden, bis wir Klarheit darüber haben, dass uns die Bundesregierung alle Fakten auf den Tisch gelegt hat. Deshalb muss die Bundesregierung mit Hochdruck daran arbeiten, den entstandenen Datenverlust zu beseitigen und die Informationen aus anderen Dienststellen zusammenzutragen und zu rekonstruieren. Jetzt ist auch das Kanzleramt gefordert, konstruktiver mit dem Bundestag zusammenzuarbeiten und endlich die Karten auf den Tisch zu legen.
Ansehensverlust der Bundeswehr als Sicherheitsinstitution
Jeder Computerlaie weiß, dass man von wichtigen elektronisch gesicherten Daten mindestens eine Sicherheitskopie haben sollte und dass Daten, die auf den ersten Blick verloren scheinen, von Expertinnen und Experten wieder rekonstruiert werden können. Nicht so die Bundeswehr, d.h. die Institution in unserem Staat, die auf worst case Denken spezialisiert ist. Datensicherung scheint für das ZNBw ein Fremdwort zu sein. Das Risiko wurde als tragbar bewertet. Unprofessionelle Handhabung auch danach: Es gab keine ernsthaften Versuche der Datenrettung und Datenrekonstruktion.
Schlampig und unverantwortlich war auch die Information der Ministeriumsspitze. Vor Ort war man der Auffassung, dass der Datenverlust kein meldewürdiges "besonderes Vorkommnis" sei. Herr Wichert hat die Archivdatenbänder des ZNBw mit einer Magazinbibliothek verglichen. Dazu kann man nur sagen: Wenn in einer Stadtbibliothek oder in einem Stadtarchiv bedeutsame Schriften unwiederbringlich verloren gehen, dann wird dies nach oben gemeldet. Dass eine Institution, die Zentrum für Nachrichtenwesen heißt und sich als zentrale Dienststelle der Bundeswehr mit hochsensiblen Daten beschäftigt, derart schlampig mit hochbrisanten Informationen umgeht, ist äußerst besorgniserregend. Der Vorgang beschädigt das Ansehen und den Ruf der Bundeswehr als professioneller Sicherheitsinstitution.
Vertrauensverlust gegenüber der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat den Bundestag und dessen Ausschüsse acht Monate über die verschwundenen Akten im Dunkeln gelassen. Dies hat - last but not least - zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel und gegenüber dem Bundesverteidigungsministerium unter Verantwortung von Minister Jung geführt.
Erst auf Nachfrage im KSK-Untersuchungsausschuss wurde uns Mitte Juni 2007 lapidar mitgeteilt, dass Informationen aus mehreren Jahren unwiederbringlich vernichtet wurden. Spätestens im Oktober 2006 erhielt das Ministerium über den Datenverlust im ZNBw Kenntnis. Damals ging es um die Befragung eines Ägypters 2001 in Tuzla. Der Führungsstab der Streitkräfte forderte das ZNBw Ende November auf, im Zusammenhang mit dem Fall Kurnaz, zum Datenverlust Stellung zu nehmen. Dies ist am 01.12.2006 in einem, laut StS Wichert "umfassenden Bericht" des ZNBw geschehen. Was in dem Bericht stand ist nicht bekannt. Die Leitung will von dem Vorgang nichts erfahren haben.
Uns erscheint das, gelinde gesagt, sehr dubios. Zusammen mit anderen Ungereimtheiten und Fällen, in denen der Untersuchungsausschuss von einzelnen Zeugen offensichtlich hinters Licht geführt werden soll, verdichtet sich damit der partielle Eindruck, dass die Bundesregierung die Aufklärungsarbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse behindern möchte. Dies kann und darf nicht sein und die Bundesregierung muss alles unternehmen, um diesen Eindruck zu entkräften.
Abgeordnete und Untersuchungsausschüsse müssen darauf Vertrauen können, dass die Regierung die Wahrheit sagt und die Fakten auf den Tisch legt. Nach dem Motto: Vertuschen und verschweigen, soweit und so lange es geht, wurde der Bundestag von der politischen Leitung des Ministeriums über Monate hinweg über den Verlust essenzieller Daten der Bundeswehr im Dunkeln gelassen. Bis heute ist noch nicht geklärt, wer wann was wusste und die Verantwortung für diesen Skandal trägt und wie die Daten wiederbeschafft werden. Deshalb werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weitere Aufklärung einfordern. Die Bundesregierung muss die gelöschten Daten wiederbeschaffen und den Untersuchungsausschüssen des Bundestages zur Verfügung stellen.