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Was tun, wenn in Afghanistan die Zivilopfer immer mehr zunehmen und Fluchtursachen sprießen? Bundestag zu Resolute Support zwischen Ernüchterung, Realismus und Verdrängung

Veröffentlicht von: Nachtwei am 18. Dezember 2015 10:55:04 +02:00 (55813 Aufrufe)

Die verschärfte Sicherheitslage in Afghanistan brachte viele im Bundestag zum Umdenken bei der Debatte um die Verlängerung der Beratungsmission Resolute Support. Manche verdrängen die Frage, wie Zivilbevölkerung konkret besser geschützt werden kann - über Appelle und Wünsche hinaus. Hier mein Brief an die Grüne Fraktion.    

Debatte und Abstimmung im Bundestag zu

Resolute Support/Fluchtursachen in Afghanistan

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (18.12.2015)

Am 17. Dezember beschloss der Bundestag die Verlängerung und Aufstockung der deutschen Beteiligung an der NATO-geführten und UN-mandatierten Ausbildungs- und Beratungsmission „Resolute Support“.

Damit wurde der ursprüngliche Plan, Resolute Support in 2016 auf Kabul zurückzufahren und Ende 2016 ganz einzustellen, revidiert. Hintergrund ist die äußerst beunruhigende Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan: Anstieg der Zivilopfer und Opfer bei den afghanischen Sicherheitskräften auf Maximalwerte, die zeitweilige Eroberung von Kunduz … Die in den letzten Jahren verbreitete Erwartung, mit dem Abzug der ISAF-Kampftruppen würden Anschläge und Kämpfe zurückgehen, wurde enttäuscht. Es geschah das Gegenteil. Damit erodieren zunehmend die Rahmenbedingungen der Aufbauunterstützung und Entwicklungszusammenarbeit. Wem am Schutz der Zivilbevölkerung liegt, muss sich dieser Realität stellen und neu nachdenken.

In den Ausschüssen hatten die Grünen-Abgeordneten die Verlängerung von Resolute Support abgelehnt. Der Entschließungsantrag der Fraktion für die Schlussabstimmung veranlasste mich, wenige Stunden vor der Debatte meiner früheren Fraktion zu schreiben.

Der Entschließungsantrag http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/070/1807084.pdf

Der Antrag der Bundesregierung http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/067/1806743.pdf

Die Debatte http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/vorlaeufig/18146/399764

Ein Kommentar zur Debatte folgt.

Liebe Katrin und lieber Toni, liebe Agnieszka, liebe Claudia, liebe Franziska, lieber Frithjof, lieber Omid, lieber Cem, lieber Jürgen, lieber Tom,

liebe Freundinnen und Freunde,

Ihr hattet in diesem Jahr mit überbordenden Krisen zu tun, die alle Jahre früherer grüner Fraktionen in den Schatten stellen. Da empfinde ich höchsten Respekt und Dank für Euren Einsatz.

Das beschleunigte Krisen-Multitasking bedeutet für die verschiedenen Akteure und teilnehmenden Beobachter eine wachsende Überforderung. Lücken und Fehler sind da nicht zu vermeiden.

Im Hinblick auf Afghanistan sind politische Ermüdung und Resignation verständlich, friedens- und sicherheitspolitisch aber kurzsichtig und menschlich verantwortungslos.

Im Bewusstsein dieser Einschränkungen kann ich aber nicht umhin, mich zum Entschließungsantrag der Fraktion und dem über die Ausschüsse angekündigten Abstimmungsverhalten im Plenum zu Wort zu melden. Da ich weiter an Afghanistan aktiv dran und vernetzt bin mit Hunderten Menschen mit AFG-Hintergrund, ist mir Eure Haltung ganz und gar nicht egal.

(1) Es ist ja so richtig, bei Afghanistan nicht immer nur ums Militärische zu kreisen und die politischen Notwendigkeiten zu benennen. Angesichts des Antrages zur Verlängerung und Aufstockung der deutschen Beteiligung an Resolute Support und der äußerst beunruhigenden Sicherheitslage in AFG argumentativ zu RSM nach Zitierung der VN-SR-Resolution keine Position zu beziehen, ist für mich aber ein Offenbarungseid.

(2) Ihr konstatiert eine Verschlechterung der Sicherheitslage. Zugleich wird das neue Maximum an Zivilopfern in einer Weise relativiert, wie ich es bisher nur immer wieder im ISAF-Hauptquartier gehört hatte. Wer darauf verweist, dass die Zahl der Zivilopfer nicht mehr so dramatisch gestiegen sei wie in den Vorjahren, darf nicht davon schweigen, dass gleichzeitig die Opferzahl bei Frauen um 23%, bei Kindern um 13% gestiegen ist.

(3) Nach nicht nur meiner Einschätzung ist die Art des lageunabhängigen, terminfixierten ISAF-Abzuges mitverantwortlich für die extremen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung und den afg. Sicherheitskräften Es war ein Rückzug mit allerhöchster Rücksicht auf die eigenen Kräfte (erfolgreich), aber ohne jede Rücksicht auf die Afghanen, ihre Bevölkerung und Sicherheitskräfte. Auch so was sind "Begleitschäden" - nur ohne jede Wahrnehmung hierzulande und ohne erkennbare Gewissensrührung. Ohne Resolute Support wäre es in diesem Jahr höchstwahrscheinlich noch blutiger verlaufen.

(4) Euer Antrag erweckt den Eindruck, als könne Aufbau- und Entwicklungsunterstützung unabhängig von der Sicherheitslage so weiterlaufen. Euch müsste bekannt sein, dass die Zukunft der EZ in AFG auf der Kippe steht. Mit wem soll sie noch umgesetzt werden? (Umso mehr halte ich Kontakt zu den tollen Aufbauinseln, die es noch gibt und deren Pioniere wir in Villigst bei der 29. AFG-Tagung dabei hatten.)

(5) "Die deutsche AFG-Politik muss sich endlich von Wunschdenken frei machen und der Realität ins Auge schauen. Aber deutsche Kampftruppen zu schicken wäre falsch. Wir müssen die Beratungsmission wirksamer machen, also wohl ausweiten und qualitativ deutlich verbessern." So meine seit Monaten im Austausch mit vielen AFG-Erfahrenen gewachsene Position. Dazu erkenne ich im Antrag null Antwort. Aus der angekündigten Ablehnung entnehme ich noch keine nachvollziehbaren Argumente.

(6) Rätselhaft ist mir, warum wieder die - spärliche - deutsche Polizeiaufbauhilfe im Norden beschwiegen wird (eigentlich ein Schlüsselprojekt) und nur die äußerst wenig produktive EUPOL Mission unterstützt werden soll.

(7) In AFG ist deutsche Politik so dicht und mit Einfluss dran an Fluchtursachen - ihrer Bekämpfung, aber auch ihrer Förderung - wie in wenigen anderen Konfliktregionen. Schutz der Zivilbevölkerung, die Förderung des zivilen Aufbaus, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Frauenrechtsgruppen fordern, ist so richtig - wird aber bei Ausklammern der Basissicherheit zum bloßen Lippenbekenntnis. Mit Eurem gleichzeitigen Antrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen bekomme ich das nicht zusammen.

(8) Zusammengefasst: Die Glaubwürdigkeit der Fraktion bekommt für mich mit Eurer bisher von außen erkennbaren Position einen Knacks. Gerade weil ich so viel in außer-grünen Kreisen friedens- und sicherheitspolitisch unterwegs bin, referiere, diskutiere und unverändert eine ungebrochene Loyalität zur Fraktion empfinde, wollte ich jetzt meinen Widerspruch nicht runterschlucken. Ich wäre heilfroh, wenn mein Widerspruch mit Argumenten entkräftet werden könnte.

Anbei zwei letzte Beiträge zur Sicherheitslage in AFG: www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1373 (nach der Eroberung von Kunduz) und www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1366 ("6 Monate nach ISAF-Abzug - Höchststand an Zivilopfern vor allem bei Frauen und Kindern. Anstieg komplexer und Suizid-Attacken um 78%", Auszüge anschließend) Einigen hatte ich sie bei früherer Gelegenheit zugesandt.

Ansonsten wünsche ich Euch nach dieser Sitzungswoche ein gutes Verschnaufen, schöne Feiertage nach den jeweiligen Bedürfnissen und einen gestärkten Start in ein neues Jahr.

Mit herzlichen Grüßen

Winni

P.S.: Wenn Ihr die Mail den anderen Fraktionsmitgliedern zur Kenntnis geben würdet, hätte ich nichts dagegen.

Winfried Nachtwei, Beirat Zivile Krisenprävention/Ko-Vors., Beirat Innere Führung/Leiter AG Einsatzrückehrer und -folgen, Vorstand Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Gegen Vergessen - Für Demokratie, AG Gerechter Friede von Justitia et Pax

Die Eroberung von Kunduz – ein Weckruf!?

Interview zu Afghanistan aktuell

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (18.10.2015)

 

Am 28. September eroberten die Taliban Kunduz aus drei Richtungen innerhalb weniger Stunden. Erst nach 15 Tagen konnten die afghanischen Sicherheitskräfte mit US-Unterstützung die Stadt zurückgewinnen. In den umgebenden Distrikten dauern die Kämpfe an. Mehrere hundert Menschen sollen bei den Kämpfen um`s Leben gekommen sein.

Hierzu konnte ich bisher nicht berichten, weil zur selben Zeit die von mir geleitete unabhängige Kommission „Einsatz des G36-Sturmgewehrs in Gefechtssituationen“ ihren Abschlussbericht fertigstellte. Äußerst bedrückend empfanden wir dabei, in den zurückliegenden Wochen über 150 Bundeswehrsoldaten über ihre Einsatz- und Gefechtserfahrungen, ihre enormen Belastungen vor allem im Raum Kunduz gehört zu haben, und jetzt aus der Ferner zu erleben, wie dort alles wegrutscht. Da gibt’s kein Ausweichen vor der schmerzhaften, verstörenden Frage, ob alles umsonst war.

Hier zu „The fall and recapture of Kunduz“ von Obaid Ali/Afghanistan Analysts Network:

https://www.afghanistan-analysts.org/the-2015-insurgency-in-the-north-3-the-fall-and-recapture-of-kunduz/ (16.10.2015). Thomas Ruttig am 4. Oktober ausführlich zum Bombenangriff auf die Klinik von Ärzte ohne Grenzen (MSF) und zur allgemeinen Lage in Kunduz: https://thruttig.wordpress.com/2015/10/04/kunduz-bombenangriff-auf-msf-klinik-und-allgemeine-lage-taz-5-10-15/ .

Zur den vorhergehenden Taliban-Offensiven auf Kunduz:

Ende April 2015: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1353

August 2014: „Umzingelung von Kunduz: Warum die Taliban wieder so erfolgreich sind“, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1311

ZumAbzug aus Kunduz: Meine Kunduz-Berichte ab 2004 bis 2013 (Teil I 2004-2006),

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1239

Interview in der Märkischen Oderzeitung vom 12. Oktober 2015:

„Die Taliban sind stärker als jemals zuvor“

„Andre Bochow: In diesen Tagen erreichen uns aus Afghanistan immer neue,  besorgniserregende Nachrichten. Die Stadt Kundus wurde zeitweise  von den Taliban eingenommen. Hat sie das überrascht?

Nachtwei: Leider nicht. Schon im August vergangenen Jahres hat es heftige Angriffe auf Kundus gegeben. Und auch während der Frühjahrsoffensive der Taliban war das Gebiet ein Schwerpunkt der Angriffe. Hierzulande ist das kaum wahrgenommen worden.

Hätte es denn etwas geändert, wenn das politische Interesse an diesen Ereignissen größer gewesen wäre?

Es wäre möglich und richtig gewesen, sich noch einmal genau zu überlegen, welche Beratungs-und Aufbauhilfe für die afghanischen Streitkräfte wirklich nötig ist. Bislang konnte mir noch keiner der hierzulande Verantwortlichen sagen, ob die Beratungsmission in Afghanistan überhaupt Wirkung zeigt. Das wird besonders deutlich bei der Ausbildung von Polizisten. Darüber wird selten geredet. Aber die Wahrheit ist: Deutschland hatte bei der Polizeihilfe in den ersten Jahren die Führungsrolle übernommen und dabei  gründlich versagt. Es gab schlicht zu wenig deutsche Ausbilder. Als ich im Februar im Norden Afghanistans war, gab es dort 12 deutsche Berater. Das ist dann eher eine symbolische Hilfe.

Die Bundesregierung ging bislang davon aus, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Lage grundsätzlich im Griff haben.

Das ist absurd. Hier wird die  schlechte Tradition der Selbstzufriedenheit und des Schönredens fortgesetzt. Alarmzeichen sind notorisch übersehen worden. Zum Beispiel der Bericht der UN-Mission in Afghanistan über zivile Opfer. Die Zahl ist so hoch wie nie zuvor. Das bedeutet: Nach dem Abzug der ISAF-Soldaten ist Afghanistan noch unsicherer geworden als es schon war.

Ist der ISAF Abzug grundsätzlich richtig, aber so wie er gestaltet wird, falsch?

Genauso ist es. Der auf Ende 2014 terminierte Abzug  erfolgte vor allem aus innenpolitischen Erwägungen. Die Realitäten in Afghanistan wurden dabei ausgeblendet.

Wie stark sind die Taliban? Und muss man mit ihnen verhandeln?

Es sah am Anfang der Amtszeit des neuen Präsidenten Aschraf Ghani recht hoffnungsvoll aus, was Verhandlungen mit den Taliban betrifft. Aber nach ihren militärischen Erfolgen sind die Taliban stärker als je zuvor. Deren Interesse an Verhandlungen ist entsprechend geschrumpft.

Droht die Machtübernahme durch die Taliban?

Das glaube ich nicht. So stark sind sie dann doch nicht. Das zeigt ja auch die Rückeroberung von Kundus durch die afghanische Armee. Die allerdings nicht ohne ausländische Unterstützung auskam. Und vor allem viele  junge Afghanen wollen mit den Taliban nichts zu tun haben. Aber es ist nicht auszuschließen, dass sich ein neuer Bürgerkrieg entwickelt, in dem dann wieder die berüchtigten Warlords mitmischen.

Muss die aktuelle deutsche Afghanistanpolitik grundlegend über dacht werden? Müssen wir wieder Soldaten an den Hindukusch schicken?

Ja, die deutsche Afghanistanpolitik muss sich endlich vom Wunschdenken frei machen und der Realität ins Auge schauen. Aber deutsche Kampftruppen zu schicken wäre falsch. Wir müssen die Beratungsmission wirksamer machen, also wohl ausweiten und qualitativ deutlich verbessern.

Die Bundesregierung spricht in ihrem Afghanistanbericht von Licht und Schatten nach all den Jahren des internationalen Einsatzes. Sehen Sie mehr Licht oder mehr Schatten?

Die Düsternis nimmt eindeutig zu. Aber in der allgemeinen Wahrnehmung werden die Erfolge, die es auch gibt, fast vollständig ausgeblendet. Ich habe in Nordafghanistan Entwicklungsprojekte gesehen, die jedes für sich deutlich mehr sind als der  berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Zum Beispiel gibt es bei Masar-e Sharif ein großes Berufsbildungszentrum, das von der Bundesrepublik aufgebaut wurde. In Masar ist auch die Sicherheitslage verhältnismäßig gut. Die Alphabetisierung der Polizei macht landesweit große Fortschritte. Mit deutscher Hilfe wurden dafür 2000 afghanische Trainer ausgebildet.

Trotzdem  scheint sich unter größeren Teilen der Bevölkerung Hoffnungslosigkeit breitzumachen.

Das stimmt. Und deswegen erleben wir jetzt auch eine wirkliche Flüchtlingswelle aus Afghanistan, die nicht zuletzt Deutschland erreichen wird. Wir werden so oder so weiterhin mit Afghanistan zu tun haben.

Hat die Bundesregierung auch versagt, als sich viele derjenigen, die den Deutschen in Afghanistan geholfen haben, mit der Bitte um Asyl an sie wandten….

….und die ja wirklich um ihr Leben fürchten müssen. Ja, da wurde zunächst bürokratisch und engherzig vorgegangen. Das war sehr beschämend. Mittlerweile gibt es da Besserung. Und von Seiten der Bundeswehr wurde eine Initiative gestartet, die die früheren Ortskräfte hier in der Bundesrepublik unterstützt.

Alles in allem: War der Afghanistaneinsatz, zumindest der militärische, ein Fehler?

Nein. Der ISAF-Einsatz, der ja ein von der UNO legitimierter Einsatz war, einem kriegszerrütteten Land auf die Beine helfen und dies militärisch absichern sollte, war richtig. Aber die Ziele der einzelnen Beteiligten passten nicht zusammen. Es herrschte über viele Jahre strategischer Dissens. Krieg gegen den Terror, ohne Rücksicht auf  die Zivilbevölkerung einerseits und andererseits Unterstützung des Aufbaus. Die zweite Ursünde war die Blauäugigkeit, mit der man sich um Afghanistan gekümmert hat. Es hätte sich sehr gelohnt, rechtzeitig auf Experten zu hören, die wissen, wie kompliziert dieses Land Afghanistan ist. Stattdessen hat man sich von den wunderschönen Einsatzmandaten   besoffen machen lassen.“

Erstes Halbjahr nach ISAF-Abzug aus Afghanistan

Höchststand an Zivilopfern, v.a. unter Frauen und Kindern; Anstieg komplexer und Suizid-Attacken um 78%!

(UNAMA-Bericht 1. Halbjahr 2015)

Winfried Nachtwei (7. August 2015)

Fotos unter www.facebook.com/winfried.nachtwei

(…) Zwei Tage zuvor, am 5. August, veröffentlichte UNAMA ihren Halbjahresbericht  „Schutz von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt“. Seit 2009 dokumentiert UNAMA systematisch die Zivilopfer im bewaffneten Konflikt in Afghanistan. Der Halbjahresbericht unterhttp://unama.unmissions.org/Portals/UNAMA/human%20rights/2015/PoC%20Report%202015/UNAMA%20Protection%20of%20Civilians%20in%20Armed%20Conflict%20Midyear%20Report%202015_FINAL_%205%20August-new.pdf[1]

Da ISAF und die US-Administration in 2013 ihre laufende, detaillierte Berichterstattung zur Sicherheitslage einstellten und die regelmäßigen Berichte des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO, jetzt unter INSO) nicht mehr zugänglich sind, ist der UNAMA-Bericht die einzige öffentlich zugängliche, langjährige  Quelle zur Sicherheitsentwicklung in Afghanistan.

Seit Ende 2014 veröffentlicht die afghanische Nachrichtenagentur TOLOnews monatlich einen Security Report. (http://www.tolonews.com/en/afghanistan/18170-nearly-700-attacks-occurred-in-january-tolonews-security-report )

(1) Zusammenfassung

Das Titelfoto des UNAMA-Reports zeigt einen bärtigen Mann, der ein verletztes Kind fortführt, dahinter Verwundete, Tote, Gliedmaßen, Schlachtfeld eines Selbstmordattentäters, der am 18. April die Kundenschlange vor der New Kabul Bank in Jalalabad/Nangarhar angriff und 32 Tote und 126 Verletzte hinterließ.

Im ersten Halbjahr 2015 erreichte die Gesamtzahl der Zivilopfer im Kontext des bewaffneten Konflikts mit 4.921, davon 1.592 Toten und 3.329 Verletzten, ein neuer Höchstwert – ggb. dem 1. Halbjahr 2014 eine Zunahme um 1%.

Besonders nahm die Zahl der Opfer unter Frauen (+23%) und Kindern (+13%) zu.

Verantwortliche: 70% der Zivilopfer gehen auf das Konto der Aufständischen (-3%), 15% auf das der Afghanischen Sicherheitskräfte/ANDSF (+60%!), 1% auf das internationaler Streitkräfte. Der enorme Anstieg der Zivilopfer durch ANDSF lag primär am vermehrten Einsatz von Mörsern, Raketen und Granaten bei Gefechten. (In 2015 sind die ANDSF erstmalig bei ihren Operationen gegen die Aufständischen fast vollständig auf sich allein gestellt.)

2% der Zivilopfer werden Pro-Regierungs-Milizen (insbesondere im Nordosten) zugeschrieben. Sie nahmen um 118% auf 87, davon 31 Tote, zu.

Kontexte und Taktiken: 32% der Zivilopfer (379 Tote, 1.198 Verletzte) entstanden bei Bodenkämpfen, 22% (385/723) durch IED`s, 21% (183/839) durch komplexe und Suizid-Attacken (+78%!), 14% (440/259) durch Targeted Killings (+57%), die opferreichste Taktik.

Entführungen nahmen um 37% auf 196 zu, mit 62 Todesopfern und 14 Verletzten. (Höchste Zahl an Entführungen und Entführungsopfern seit Beginn der UNAMA-Zählung)

Zivilopfer durch Luftoperationen nahmen um 88% auf 77 zu, davon 32 Tote. Damit verkehrte sich der Trend abnehmender Opferzahlen der letzten Jahre. Für 27 bei Luftangriffen getöteten und 22 verletzten Zivilisten waren die Internationalen Streitkräfte verantwortlich; der Großteil dieser Opfer wurde durch Drohnen verursacht.

Binnenflüchtlinge: Ihre Zahl wuchs im 1. Hj. 2015 um 103.000 (+44%) auf insgesamt 945.600.

Regionen:

- Nordosten (früher besonderer deutscher Verantwortungsbereich) von 35 Zivilopfern 1. Hj. 2009 über 311 1. Hj. 2014 auf 545 1. Hj. 2015.

- Norden: 61, 563, 368;

- Osten: 329, 856, 951;

- Central: 314, 697, 684;

- Zentrales Hochland: 17, 38, 42;

- Südosten: 445, 615, 763;

- Süden: 1.122, 1.392, 1.272;

- Westen: 158, 422, 296.

(2) Weitere Angaben zur Sicherheitsentwicklung

Ca. 16.000 ausländische Soldaten (davon 9.000 aus den USA) stehen im Rahmen von RS und der US-Operation Freedom`s Sentinel noch in Afghanistan.

(Gliederung der Coalition Combat & Advisory Forces in Afghanistan unter http://understandingwar.org/sites/default/files/AfghanistanOrbat_July2015.pdf )

Lt. TOLOnews Security Report sei im Juli 2015 die Zahl der Zivilopfer um 26% gegenüber dem Vormonat angestiegen, seien die Counterinsurgeny-Operationen der ANDSF um 13% zurückgegangen.. (http://www.tolonews.com/en/afghanistan/20743-civilian-casualties-up-as-security-operations-drop-report )

Landesweit habe es im Juli 961 Sicherheitsvorfälle gegeben, ein Rückgang um 10% ggb. Juni. Der Fokus der Aufständischen richte sich auf den Norden. Spitzenreiter sei die Nordwest-Provinz Faryab mit 91 Vorfällen, gefolgt von Uruzgan, Nangarhar, Herat, Helmand, Kandahar.

Ziviltote gab es 201 im Juli, Zivilverletzte 322.

Unter afghanischen Soldaten gab es 307 Gefallene. (Aus gut unterrichteter Quelle erfahre ich die Größenordnung von ca. 100 Gefallenen der ANDSF pro Monat!)

Von den Aufständischen sollen im Monat Juli 2.924 (darunter angeblich 204 „Daesh members“) gefallen und 1.472 verletzt worden sein. (Anm.: Diese Verlustzahlen gebe ich wieder, bezweifle aber ausdrücklich ihre Glaubwürdigkeit.)

Attrition Rate der ANDSF: Am 5. August kritisierte US-General John Campbell, RS-Kommandeur, jeden Monat würden 4.000 ANDSF-Mitglieder von ihren Posten desertieren („are deserting their posts every month“, TOLOnews 5.8.2015). Dem widersprachen afghanischer Verteidigungs- und Innenminister vehement. (Dabei ist zu beachten, dass die „Schwund-Rate“ auch eine Entfernung von der Truppe, wenn es keinen Urlaub gibt, sowie normale Fluktuation nach der Beendigung von Zeitverträgen umfasst sowie Verlustzahlen etc.)

Daesh (IS): Inzwischen soll es im Osten und Süden Elemente von Daesh geben. Am 16. Juni veröffentlichte die Taliban auf ihrer Website einen Brief an den „Kalifen“ des IS mit der Warnung: „Es gibt keinen Platz für eine weitere islamische Armee in Afghanistan.“ Abtrünnige Taliban-Kommandeure sollen sich zum IS bekannt haben. Inzwischen wurden ausmehreren Provinzen Zusammenstöße zwischen Taliban und IS-Anhängern gemeldet.[2]

Bewegungsfreiheit von zivilen Helfern: Eine wichtige, meist nicht beachtete Dimension von Sicherheit sind Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten von internationalen Helfern, z.B. von MitarbeiterInnen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

Anfang August 2015 arbeiten in Afghanistan über 2.000 Frauen und Männer im Auftrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, 230 deutsche + internationale Entsandte, über 1.800 Ortskräfte. Sie arbeiten vor allem in Kabul und in fünf Provinzen im Norden und Nordosten.

Das Risk Management Office der GIZ hat sich bisher ausgesprochen bewährt!

(3) Kommentar

Auch wenn die Informationen über die reale Lage in Afghanistan immer spärlicher werden und das Land zunehmend im Aufmerksamkeits- und Interessenschatten der anderen, näheren Krisen + Kriege verschwindet – sieben Monate nach Ende des ISAF-Großeinsatzes und Beendigung des internationalen Kampfeinsatzes ist ein Abflauen der Kämpfe nicht in Sicht, im Gegenteil.

  • Die Erwartung von Gegnern des Afghanistaneinsatzes, mit dem Abzug der internationalen Truppen würde auch der Hauptkriegsrund schwinden und der Krieg schrumpfen, bestätigte sich ganz und gar nicht.
  • Die (selbst)zufriedenen Stellungnahmen etlicher Regierungen zum Übergang von ISAF zu Resolute Support Mission wurden eines Schlechteren belehrt: Extremwerte an Zivilopfern und Verlusten der ANDSF zeigen, dass der termingerechte Abzug kein sichereres Umfeld (so war der Kernauftrag) hinterließ. Der weitest gehende Wegfall der alliierten Schlüsselfähigkeiten von Aufklärung, Luftnahunterstützung erlaubt den Aufständischen zunehmend auch Angriffe in Großformationen. Der politisch einmütig gewollte und verantwortete, terminfixierte Abzug gelang mit äußerster Rücksicht auf die eigenen Kräfte. Er stellt sich zunehmend als ein Abzug ohne Rücksicht auf Verluste der Afghanen, ihrer Bevölkerung und Sicherheitskräfte, heraus. Ohne Resolute Support – so meine Annahme – wäre es wahrscheinlich aber noch blutiger geworden.
  • Für diese Art von opferreichen, bisher weitestgehend ignorierten „Begleitschäden“ tragen die politischen Auftraggeber die Verantwortung.
  • Vor einem halben Jahr schrieb ich in meinem Kommentar zum UNAMA-Jahresbericht 2014: „Ob mit der Aufbauhilfe für die afghanischen Sicherheitskräfte die Voraussetzungen für verbesserte und nachhaltige Sicherheit geschaffen wurden, wird sich erst in Jahren zeigen.“ Jetzt sehe ich vermehrt die Gefahr, wächst meine Angst, dass Afghanistan wegrutscht.

Bundesregierung und Bundestag werden sich in den nächsten Monaten dieser Realität stellen müssen – auch wenn die Kriegsbrände in der europäischen Nachbarschaft deutsche und europäische Sicherheit direkter und massiver betreffen als das Land am Hindukusch, auch wenn das alles die eigenen Kräfte übersteigt. Aber was vor fast 14 Jahren mit hohem politisch-moralischen Aufwand (und Illusionen) begonnen, dann mit einem nie dagewesenen militärisch-zivilen Einsatz (und strategischen Fehlern) verfolgt wurde, was neben gigantischen finanziellen Kosten enorme menschliche Opfer forderte, das darf und kann nicht einfach abgehakt, abgeschoben und vergessen werden.



[1] vgl. Kate Clark (AAN), Highest Civilian Casualty Figures Ever: UNAMA details deaths by mortar, IED, suicide attack and targeted killing. 5.August 2015, https://www.afghanistan-analysts.org/highest-civilian-casualty-figures-ever-unama-details-deaths-by-mortar-ied-suicide-attack-and-targeted-killing/ ; Winfried Nachtwei, Zusammenfassung und Kommentar UNAMA-Jahresbericht 2014: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1343

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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