28 Jahre nach Ende des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges wurden die beiden deutschen Staaten am 18. September 1973 in die Vereinten Nationen aufgenommen. DIE Gelegenheit für Blicke zurück und nach vorn. Ein Gegenakzent zu einem Wahlkampf fast ohne Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik.
„ Die UNO - die einzige Alternative zum Krieg": Aufnahme der
DDR und der BRD in die Vereinten Nationen vor 40 Jahren-
Festakt und DGVN-Fachtagung in Berlin
Winfried Nachtwei, MdB a.D. (Vorstandsmitglied der DGVN)
Am 18. September 1973, 28 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands wurden die beiden deutschen Staaten als 133. und 134. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. Zur Feier des Tages hatte das Auswärtige Amt zum Festakt in seinen „Weltsaal" eingeladen, drei Tage vor dem Internationalen Friedenstag (Motto 2013 „Education for Peace") und vier Tage vor den Bundestagswahlen. Anschließen folgte im Europasaal des AA die Fachtagung „Vom Feindstaat zum Musterknaben - Deutschland und die Vereinten Nationen" von Deutscher Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) und  Auswärtigem Amt.
Interviews, Berichte und Pressespiegel unter www.dgvn.de/themenschwerpunkte/40-jahre-deutsche-un-mitgliedschaft/
Zum Festakt und zur Fachtagung kamen mehrere Hundert Gäste zusammen - eine bunte Mischung von Veteranen der VN-Politik, Wissenschaftlern und auffällig vielen jüngeren VN-Engagierten. Mit dabei ist auch ein Bundespolizist auf seinem ersten Heimaturlaub aus Darfur, seinem inzwischen vierten Auslandseinsatz nach Balkan und Afghanistan. Obwohl um die 150 Referate in der Bundesregierung mit den VN und ihren Sonderorganisationen zu tun haben, waren bekannte Gesichter anderer Ressorts nicht erkennbar, auch nicht vom Bundestag. Dagmar Dehmer berichtete am 20.9. im Tagesspiegel spannend vom Festakt und vor allem von der Fachtagung. (www.tagesspiegel.de/politik/40-jahre-deutschland-in-den-un-zwischen-anspruch-und-wirklichkeit/8824070.html )
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Vor 40 Jahren - Blick zurück
Der historische Schritt in die Staatengemeinschaft wurde ermöglicht durch die Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung Brandt-Scheel. Die VN-Aufnahme war ein großer Vertrauensvorschuss. Die Reden von Außenminister Walter Scheel und Bundeskanzler Willy Brandt vor der VN-Generalversammlung zeugen vom hohen friedenspolitischen Anspruch des Neumitglieds Bundesrepublik Deutschland.
(Die Reden zusammen mit der von DDR-Außenminister Otto Winzer in der DGVN-Zeitschrift „Vereinte Nationen" 5/1973, www.dgvn.de/publikationen/zeitschrift-vereinte-nationen/ )
Am 19. September hielt Außenminister Scheel vor der Generalversammlung seine Dank- und Begrüßungsansprache: Er erinnerte daran, dass Deutschland fast auf den Tag genau vor 47 Jahren dem Völkerbund beigetreten war, acht Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges. Jetzt seien 28 Jahre seit Kriegsende verstrichen.
„Völkerbund und Vereinte Nationen sind beide geboren aus dem Leid zweier Weltkatastrophen mit Millionen unschuldiger Opfer. „Nie wieder Krieg!" war der Aufschrei nach dem Ersten Weltkrieg. (...) Krieg als Mittel der Politik - darauf verzichteten mehr als 50 Staaten im Briand-Kellog-Pakt von 1928. Und dennoch kam es 11 Jahre später zum Zweiten Weltkrieg. Waren deshalb alle Bemühungen zur Ausrottung des Krieges überflüssig?
Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen setzt uns als Ziel, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten." (...) Wir müssen die Saat der Gewalt im Keim ersticken. Mit der Charta haben wir gemeinsam der Gewalt abgeschworen, bei aller Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung. Wir müssen diesen Schwur ernst nehmen. Wir müssen klar sagen, was mit Gewaltverzicht gemeint ist. Und wir sollten den Mut und die Kraft haben, alle unsere Probleme ohne Gewalt zu lösen.
(...) Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur im eigenen Interesse, sondern aus internationaler Verantwortung auf Gewalt verzichtet, gerade auch zur Lösung ihrer nationalen Frage. Kein politisches Ziel rechtfertigt die Gewalt: kein Nationalismus, kein Klassenkampf, keine koloniale oder Rassenauseinandersetzung, weder Utopien noch Ideologien. (...)
Der Friede kommt an erster Stelle. Die Zeit ist vorbei, in der die Völkergemeinschaft sich damit abfand, wenn ein Staat, eine politische Gruppe durch Gewaltanwendung das Zusammenleben aller störte. Unsere Zeit gibt keinen Raum mehr für das Faustrecht mit der Waffe in der Hand. (...)
Nur die Vereinten Nationen können der Ort sein, wo der jetzt gesteigert um sich greifenden Gewalt Einhalt geboten wird. (...) Ich kann nur wiederholen, was Präsident Kennedy vor 12 Jahren an dieser Stelle sagte: „In der Entwicklung dieser Organisation liegt die einzige Alternative zum Krieg." (...)
Sie werden uns immer dort finden, wo es um die internationale Zusammenarbeit geht, um die Bewahrung des Friedens und um die Rechte der Menschen."
Bundeskanzler Willy Brandt hielt seine programmatische erste Rede vor der VN-Generalversammlung am 26. September:
„(...) Wir sind nicht hierhergekommen, um die Vereinten Nationen als Klagemauer für die deutschen Probleme zu betrachten oder um Forderungen zu stellen, die hier ohnehin sowieso nicht erfüllt werden können. Wir sind vielmehr gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen. (...)
In einer Welt, in der zunehmend jeder auf jeden angewiesen ist und jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen. (...)
Vermittlung und Ausgleich in Streitfällen messen wir besondere Bedeutung zu. (...)
Das Stichwort von der „vorbeugenden Konfliktforschung"- die Voraussetzung der „präventiven Diplomatie" ist von der Einsicht geprägt, dass es nicht mehr genügt, die sogenannten klassischen Motivierungen von Streitigkeiten zu untersuchen: (...) Hier gibt es neue und tiefere Aufgaben der Konfliktforschung. Lassen Sie es mich in der gebotenen Klarheit sagen: Not ist Konflikt. Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede. Wo bittere Armut herrscht, ist kein Recht. Wo die Existenz in ihren einfachsten Bedürfnissen täglich bedroht bleibt, ist es nicht erlaubt, von Sicherheit zu reden. Gegenüber der Not darf es keine Resignation geben.
Der Erwecker einer großen Mitgliedsnation dieser Versammlung verdanken wir das Wort vom „gewaltlosen Widerstand", es hat seine Kraft nicht verloren. Aber die Wirklichkeit fordert die Ergänzung durch ein Gegenwort, nämlich die Feststellung: Es gibt Gewalttätigkeit durch Duldung, Einschüchterung durch Indolenz, Bedrohung durch Passivität - Totschlag durch Bewegungslosigkeit. (...)
Der Kampf um den Frieden, der Kampf gegen die Not fordern das Bewusstsein, dass wir in der „einen Welt" zuletzt einem gemeinsamen Schicksal unterliegen.
Die Fähigkeit der Menschen zur Vernunft hat die Vereinten Nationen möglich gemacht. Der Hang der Menschen zur Unvernunft macht sie notwendig. (...)"
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Den Festakt „40 Jahre Deutschland in den Vereinten Nationen"
am 18. September 2013 krönten nach der Rede des Außenministers die Sondergesandte des VN-Generalsekretärs für die Region der Großen Seen und frühere VN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, die ehemaligen Minister Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr, Klaus Töpfer und Heidrun Fritze, Jugenddelegierte zu den VN 2011, moderiert vom DGVN-Vorsitzenden Detlef Dzembritzki.
Das Ensemble der Musikhochschule Heidelberg sang die von dem weltberühmten katalanischen Cellisten Pablo Casals komponierte „Hymne an den Frieden" (Hymne der Vereinten Nationen).
Mary Robinson forderte Deutschland auf, seine „vorausschauende multilaterale Führung" und sein Engagement in den VN zu intensivieren und zu verstärken.
Hans-Dietrich Genscher betonte, der VN-Beitritt habe der deutschen Außenpolitik ein großes Tor geöffnet.
Egon Bahr und Klaus Töpfer riefen dazu auf, statt einer Fixierung auf den Sicherheitsrat die Repräsentativität und Zeitgemäßheit der VN auf anderen Ebenen zu befördern.
Heidrun Fritze sprach als einzige die unzureichende Verankerung der VN in Deutschland an: die erheblichen Bildungslücken zur VN - aber auch die Möglichkeit, Begeisterung für die VN zu wecken, ihre mangelnde Präsenz in den Medien, die relative Unbekanntheit des VN-Standorts Bonn. (Bericht von Hannah Birkenkötter und Gerrit Kurtz über den DGVN-Themenschwerpunkt 40 Jahre; AA-Bericht mit Redeauszügen:  www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/VereinteNationen/Aktuell/130918_Festakt-40-Jahre-DEU-in-VN.html
Die anschließende Fachtagung „Vom Feindstaat zum Musterknaben? Deutschland und die Vereinten Nationen" zog ca. 250 Gäste an.
Spannende Rückblicke auf die Mitgliedschaften und BRD und DDR bis 1990 boten Prof. Manfred Knapp, Prof. Hans-Joachim Vorgau, ehem. stv. VN-Botschafter New York, Manfred Nötzel, langjähriger VN-Bediensteter aus der DDR, Ulrich Eisele, Bernhard Neugenbauer, ehem. stv. VN-Botschafter New York und DDR-Vizeaußenminister, moderiert von Dr. Norman Weiß, Koordinator des DGVN-Forschungsrats. Zur gesamtdeutschen Mitgliedschaft 1990 bis heute nahmen Kerstin Leitner, langjährige VN-Bedienstete beim UNDP und der WHO, Prof. Johannes Varwick, Miguel Berger, bis Juli 2013 stv. VN-Botschafter New York, moderiert von Dr. Andrea Liese. Prof. Georg Nolte sprach über Deutschlands Rolle bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts.
Der Blick nach vorn auf die künftigen Herausforderungen fokussierte sich auf Panels zu Umwelt, Entwicklung und Nachhaltigkeit (mit Dr. Silke Weinlich, Dr. Steffen Bauer, Jürgen Maier, Dr. Uschi Eid, Dagmar Dehmer), zu Menschenrechten (Prof. Heiner Bielefeldt, Prof. Jochen von Bernstorff, Dr. Dominik Steiger, Andreas Zumach) und zu Friedenssicherung Tobias Pietz, Oberstleutnant Manfred Ertl/AA, Friederike Bauer).
Zum Abschluss diskutierten Generalmajor Manfred Eisele, Prof. Klaus Hüfner, Prof. Rita Süssmuth und Prof. Manuel Fröhlich. (Im Folgenden einige Notizen zum Thema Friedenssicherung)
Prof. Knapp erinnerte daran, dass die Bundesrepublik schon seit 1952 eine Beobachtermission in New York unterhielt. 1977/78 und 1987/88 wurde die Bundesrepublik, 180/81 die DDR als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt.
Botschafter Vergau war ab 1977 maßgeblich am Namibia-Verhandlungsprozess zwischen SWAPO, Deutsch-Südwestlern, Südafrika, Anrainern und VN beteiligt. Die Unabhängigkeit Namibias 1990 sei einer der größten VN-Erfolge gewesen - mit Ausstrahlung auf die Überwindung der Apartheid in Südafrika. (1976 war mein Buch „Namibia - Von der antikolonialen Revolte zum nationalen Befreiungskampf" erschienen. Der antiimperialistische Tenor des Buches erschwerte später meine Verbeamtung als Lehrer.)
Prof. Varwick konstatierte einen erheblichen Widerspruch zwischen VN-freundlicher und konsensualer Rhetorik der Bundesregierungen, auch den umfangreichen Beitragszahlungen einerseits - und einer zunehmenden Orientierung auf nationale Interessen andererseits. Die Paradigmen „Kultur der militärischen Zurückhaltung" (Westerwelle) und „Internationale Verantwortung" (de Maizière) seien nicht richtig justiert. Deutschland könne durchaus mehr, so eine substanzielle deutsche Beteiligung an VN-geführten Missionen.
Manuel Berger wies darauf hin, dass die drei gesamtdeutschen Mitgliedschaften im Sicherheitsrat jeweils von großen Krisen geprägt gewesen seien: 1995/96 Balkan, 2003/04 Irak, 2011/12 Arabischer Frühling. Deutschland habe Verantwortung übernommen mit dem Vorsitz von Sanktionsausschüssen und anderen Ausschüssen. Man habe sich für eine präventive Rolle des Sicherheitsrates eingesetzt, z.B. durch Etablierung etlicher Regionalbüros und VN-Sonderbeauftragter, durch Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (z.B. Klima und Sicherheit). Dass Mitgliedsländer des Südens 90% der VN-Peacekeeping-Kräfte stellen, werde sehr kritisch gesehen. Die Erwartungen seien klar: Deutschland müsse sich stärker an VN-Missionen beteiligen.
Thorsten Benner betonte, die VN hätten in den letzten 15 Jahren erhebliche Lehren aus ihren Missionen gezogen. Defizite gebe es heute vor allem bei Transportfähigkeiten, Aufklärungskapazitäten, im Personalwesen, bezüglich der politischen Aufmerksamkeit - und im Hinblick auf die Schieflage bei den Truppenstellern.
Tobias Pietz: Deutschland stelle bei VN-Missionen 0,1% der Polizisten, 0,3% der Soldaten und 0,7% der Zivilexperten. USA, Kanada, EU und Japan bestreiten 80% des Peacekeeping-Etats, stellen aber weniger als 8% des Personals. Damit würden den VN wichtige Fähigkeiten entzogen. Dem stehe gegenüber, dass die Mandate zunehmend die Aufgabe der Sicherheitssektorreform betonen. Der große Vorteil der VN sei, dass hier alle an einem Tisch wären, dass es kein westlicher Club sei. Auch hier gebe es Wandel durch Annäherung.
OTL Manfred Ertl: Im Hinblick auf VN-Missionen komme es nicht nur auf Zahlen an (Infanteriebataillone seien weltweit leicht zu bekommen), sondern auch auf Qualität. Oft fehle es an hochspezialisierten Fähigkeiten, z.B. Experten für Container-Umschlagplatz, für Flugplatzbetrieb.
Manfred Eisele erinnert an den „Fall" Ost-Timor: Ein Tag nach dem Thema Kosovo sei Ost-Timor bei den VN diskutiert worden. Spontan habe der deutsche Außenminister Joschka Fischer 50 Sanitätssoldaten zugesagt - ohne Rücksprache, sein Verteidigungsminister-Kollege schäumte. In Südostasien hatte die deutsche Zusage aber eine erhebliche Signalwirkung auf andere Truppensteller. Heute sei Deutschland eine post-post-heroische Gesellschaft. Kein Land in Europa reagiere so auf militärische Anfragen wie Deutschland. Es gelte inzwischen als unsicherer Kantonist.
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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: