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"Die neue Bundeswehr: Freiwillig und kriegerisch?"

Veröffentlicht von: Webmaster am 8. Februar 2011 00:49:16 +02:00 (110404 Aufrufe)

In der Januarausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" kommentiert W. Nachtwei die aktuelle Bundeswehrreform und kritisiert ihre fundamentalen Lücken.

Die neue Bundeswehr: Freiwillig und kriegerisch?

Von Winfried Nachtwei

In der Tat, man muss dem Bundesverteidigungsminister ein Kompliment machen: Die Aussetzung der (Rest-)Wehrpflicht und der Übergang zur Freiwilligenarmee - und eben nicht zu einer von der Gesellschaft abgeschotteten Berufsarmee - waren schon lange überfällig. Wo jetzt insgesamt mehr auf Freiwilligkeit gesetzt wird, ist dies ein Fortschritt an Demokratie und eine große Chance. Aber es ist schon ein erstaunliches Phänomen, wie Grüne, Linke und FDP mit ihren Argumenten gegen die Wehrpflicht und für eine Freiwilligenarmee über viele Jahre gegen Mauern der Wehrpflichtgläubigen redeten - und wie jetzt unter einem neuen Burgherrn die Mauern fallen, die allermeisten Wehrpflichtverteidiger kampflos beigeben oder umschwenken, unsere Argumente zum großen Teil übernommen werden.

Grund also nicht nur zur Genugtuung: Es ist ein Beispiel, wie dicht immer wieder Dogmatismus und Opportunismus beieinander liegen. Welchen Aufstand hätte es gegeben, wenn sich Rot-Grün so etwas erlaubt hätte!

Fest steht jedoch: Mit der reinen Freiwilligkeit wird sich das Bewerberpotential der Bundeswehr verschieben. Umso mehr kommt es zukünftig auf sorgfältige Personalauswahl, politische und ethische Bildung und vor allem eine sorgfältige Ausbildung des Führungspersonals an.

Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform

Die Innere Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform muss, ungeachtet der Abschaffung der Wehrpflicht, unangetastet bleiben. Sie gilt zu Recht als Markenzeichen der Bundeswehr. Bundeswehrsoldaten sollen nicht bloße Gewaltspezialisten und Instrumente von Politik sein. Soldaten sollen denken. Sie müssen davon überzeugt sein (können), dass „ihr Auftrag politisch notwendig, militärisch sinnvoll und moralisch gerechtfertigt" ist. (Weisung des Generalinspekteurs zur Politischen Bildung)

Aber es steht nicht gut um die Innere Führung, wenn über Jahre die Überzeugungskraft der politischen Führung erodierte, sich Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Einsätzen ausbreiteten und viele einen eklatanten Mangel offener Diskussionskultur in der Bundeswehr erleben.

Immer mehr Soldaten und auch höhere Offiziere zweifeln, ob ein Einsatzerfolg in Afghanistan unter den gegebenen Voraussetzungen überhaupt erreichbar ist. Immer weniger können noch aus Überzeugung gehorchen. Viele sind zurückgeworfen auf ihre professionelle Berufseinstellung, ja auf die Kameradschaft als letzte Motivation und allerletzten Halt.

In der Bundeswehr entsteht eine Kluft zwischen jungen Soldaten mit massenhafter Gewalterfahrung und den Älteren und höheren Dienstgraden, denen so was erspart blieb. Die Kluft zwischen Einsatzwelt und Heimat vertieft sich, kann für manche unüberbrückbar werden.

Zusätzlich verschwindet Bundeswehr seit Jahren zunehmend aus der Fläche und damit aus der öffentlichen Wahrnehmung. Während die Soldaten insgesamt kaum weniger Teil der zivilen Gesellschaft sind als andere Berufsgruppen, wächst die Distanz der Gesellschaft zu den Streitkräften. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wird das seit Jahren sinkende Interesse in der Gesellschaft an den Streitkräften noch mehr zurückgehen. Die Frage „gehe ich zum Bund oder mache ich Zivildienst" wird künftig keine ganzen Jahrgänge mehr beschäftigen, sondern nur noch Einzelne.

Die Integration der Bundeswehr geht alle an

Das alles ist natürlich kein Argument pro Wehrpflicht. Zugleich sind Proteste gegen Auftritte von Bundeswehr im öffentlichen Raum zwiespältig: Als politische Meinungsäußerung sind sie völlig legitim. Wo eine Überhöhung, ja Verklärung des Militärischen stattfindet, sind sie berechtigt und notwendig. Fragwürdig wird es da, wo die Bundeswehr aus dem öffentlichen Raum hinter die Kasernenmauern verdrängt werden soll. Sie „aus den Augen, aus dem Sinn" zu schaffen, läuft dem Anspruch von Parlamentsarmee und Staatsbürger in Uniform zuwider und ist friedens- wie demokratiepolitisch kontraproduktiv. Egal wie man zu einzelnen Einsätzen und Militär insgesamt steht: An der Integration der Streitkräfte in der Gesellschaft müssen alle ein Interesse haben - schon damit, gerade nach Abschaffung der Wehrpflicht, keine abgeschirmte Armee im Staate entsteht.

Die Frage der Inneren Führung und der Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft ist nicht einfach nur eine Aufgabe der Bundeswehrführung und -angehörigen. Es ist inzwischen immer mehr auch eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft. Hier muss man sich einiges Neues einfallen lassen, jenseits der alten Rituale und Bekenntnisse. Innere Führung fängt oben an, bei der strategischen Kompetenz, bei der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der politischen Führung. Für Soldaten gilt, nach Paragraph 7 Soldatengesetz, die Grundpflicht zum treuen Dienen. Die Auftraggeber Bundesregierung und Bundestag stehen dagegen in der Grundpflicht zum klaren, erfüllbaren und verantwortbaren Auftrag.

Wo es - wie derzeit - um eine zentrale Weichenstellung der deutschen Sicherheitspolitik geht, muss daher die Chance einer breiteren friedens- und sicherheitspolitischen Debatte und Verständigung in Politik und Gesellschaft genutzt werden. Bisher wurden solche Chancen regelmäßig verspielt bzw. verhindert. Im Jahr 2000 legte die Weizsäcker-Kommission einen sehr fundierten Bericht zur Reform der Bundeswehr vor. Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) wischte ihn beiseite und bestimmte seine „Eckpfeiler". Im Jahr 2003 erließ sein Nachfolger, Peter Struck (SPD), die vertraulich erarbeiteten Verteidigungspolitischen Richtlinien, im Jahr 2006 Minister Franz Josef Jung (CDU) das Weißbuch. Jedes Mal wurde auf diese Weise eine breite sicherheitspolitische Debatte verhindert. Sie war offenkundig nicht gewollt. Die Folge war ein vager und oberflächlicher sicherheitspolitischer Konsens, der mit der Verschärfung des Afghanistaneinsatzes zunehmend bröckelte und inzwischen zu einer tiefen Kluft zwischen Regierungspolitik und Bevölkerungsmeinung beitrug.

Doch dieses Mal besteht eine bessere Chance für die lange geforderte, breitere sicherheitspolitische Debatte. Tatsächlich sind mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) bessere Voraussetzungen gegeben als mit seinen Vorgängern. Sein ausdrücklicher Wunsch einer offenen und breiten Debatte muss sich aber in der Praxis erst noch beweisen.

Die bessere Chance wäre schnell wieder vertan, wenn die Debatte beschränkt bliebe auf die - inzwischen ohnehin entschiedene - Frage der Wehrform und das Stationierungskonzept, wenn gleichzeitig durch Planungen einer neuen Struktur Fakten geschaffen würden. Laut Kabinettsbeschluss vom 7. Juni 2010 stand bisher das Spardiktat an erster Stelle. Das widersprach der „reinen Lehre", wonach der sicherheitspolitische Bedarf Ausgangspunkt sein müsse, war aber taktisch nicht unklug. Denn nur harte Haushaltsvorgaben haben das Gewicht, eingefahrene Denkweisen und Interessen aufzubrechen.

„Kleiner, flexibler, effizienter"

Grundtenor der Reform ist: Die Bundeswehr soll stringenter auf den Einsatz ausgerichtet werden, sie soll kleiner, flexibler und effizienter werden. Tatsächlich ist von außen nicht nachvollziehbar, warum eine Truppe von 250 000 Soldaten mit der Entsendung von rund 7000 die Grenze der Belastbarkeit erreicht hat. Die bisherige nationale Zielvorgabe von 14 000 Soldaten für bis zu fünf parallele Stabilisierungseinsätze erwies sich als unerreichbar.  Von innen sind die vielen, die Einsatzfähigkeiten behindernden Strukturen (Wasserköpfe, Doppelstrukturen), Abläufe und Denkweisen nicht nachvollziehbar. Sie beeinträchtigen zugleich die Einsatzmotivation. Eine Effizienzsteigerung der Bundeswehr ist in der Tat dringend notwendig.

Die Strukturkommission der Bundeswehr unter Frank-Jürgen Weise legte im Oktober ihren Bericht „Vom Einsatz her denken - Konzentration, Flexibilität, Effizienz" vor.  Ausgehend von einer ungeschminkten Lageanalyse empfiehlt sie eine Reduzierung der Bundeswehr von 250.000 auf ca. 180.000 Soldatinnen und Soldaten, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Straffung von Führung, Strukturen und Verfahren. Erstmalig bei einer Bundeswehrreform soll das Abspecken an der Spitze, beim Ministerium beginnen. Die Empfehlungen laufen auf eine regelrechte Umwälzung der Streitkräfte hinaus und sind ein mutiges Unterfangen. Allerdings greift ein ausschließlich bundeswehrimmanenter Modernisierungsansatz zu kurz. Der Frage nach dem besseren „Wie" muss die Frage nach dem „Wofür" vorausgehen. Eine bloß fixere und schlagkräftigere Interventionsarmee kann nicht das Ziel sein.  Um das Wofür der künftigen Bundeswehr zu präzisieren und ihre friedens- und sicherheitspolitische Wirksamkeit zu verbessern, ist es unabdingbar, die Erfahrungen der bisherigen Auslandseinsätze und UN-Friedensmissionen auszuwerten und alle im Kontext des Comprehensive Approach relevanten Ressorts und Akteure einzubeziehen. Dass dies unterbleibt, ist Ausdruck einer sicherheitspolitischen Selbstzufriedenheit und ein schwerer strategischer Fehler. Für ihn trägt der politische Auftraggeber mit seinem beschränkten Kabinettsbeschluss die Verantwortung. Damit setzt sich die Strategieschwäche des bundesdeutschen sicherheitspolitischen Diskurses fort, der bisher vor allem um die Wie-Fragen Ausrüstung, Einsatzregeln, Wehrform - und inzwischen auch Stationierung - kreist und die Fragen des klaren und erfüllbaren Auftrages, der aussichtsreichen Strategie und ausgewogenen politisch-zivil-militärischen Fähigkeiten und Anstrengungen weitgehend ausspart.[1]

Was aber bedeutet es heute, die Sicherheit Deutschlands zu schützen?

Sicherheits- und Friedenspolitik gehören untrennbar zusammen. Ihre fundamentalen Ziele sind Kriegs- und Krisenverhütung sowie Schutz vor illegaler Gewalt und Friedensförderung.

Mit dem Kosovokrieg und dem eskalierten Afghanistaneinsatz verbreitete sich der Eindruck, als sei Krieg wieder ein Mittel deutscher Außenpolitik. Dieser Eindruck wurde auch nicht dadurch gemindert, dass seit 1998 alle Koalitionsvereinbarungen betonen, deutsche Außenpolitik sei Friedenspolitik.

Dennoch bleibt der Friedensauftrag ein spezifischer Kern des Grundgesetzes: Deutschland soll „als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen" (Präambel); der Bund kann sich „zur Wahrung des Friedens [...] einem System kollektiver Sicherheit einordnen" (Art. 24 GG); friedensstörende Handlungen und Angriffskriege sind verfassungswidrig (Art. 26). Das Völkerrecht ist zudem in Deutschland unmittelbar gültiges Recht. Und auch die UN-Charta erklärt die Überwindung der „Geißel des Krieges" und die Friedenssicherung zur zentralen Aufgabe. Sie erlaubt vom internationalen Gewaltverbot nur zwei Ausnahmen: den Fall der nationalen bzw. kollektiven Selbstverteidigung und bei Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens. Mit der responsibility to protect ist seit 2005 die Schutzverpflichtung der Staatengemeinschaft im Fall schwerster Menschenrechtsverbrechen hinzugekommen.

Sicherheitspolitische Kernaufgabe des deutschen Staates ist es, die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, ihre offene Gesellschaft und ihre Lebensgrundlagen vor illegitimer Gewalt zu schützen.[2] Als Mitglied der Staaten- und Völkergemeinschaft auf den Ebenen UN, EU, NATO und OSZE steht Deutschland, über die Wahrung der unmittelbaren eigenen Sicherheitsinteressen hinaus, in Mitverantwortung für internationale kollektive Sicherheit. Diese Mitverantwortung und politisch vereinbarten Verpflichtungen wahrzunehmen, liegt zugleich im eigenen Sicherheitsinteresse.

Als Bedrohung der internationalen Sicherheit gilt „jedes Ereignis und jeder Prozess, der zum Tod vieler Menschen oder zur Verringerung von Lebenschancen führt und der die Staaten als das tragende Element des internationalen Systems untergräbt".[3] Es geht um Bedrohungen für menschliche Sicherheit und die Sicherheit von Staaten. Wie aber ist es um die Sicherheit Deutschlands konkret bestellt?

Die Unversehrtheit und Existenz der Bundesrepublik wird auf mittlere Frist von keiner Macht bedroht. Die Fähigkeit zu einer raumgreifenden Offensive gegen das Gebiet der Bundesrepublik hat sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verflüchtigt. Sie würde im schlimmsten Fall sehr viele Jahre zur „Rekonstitution" brauchen. Der Fall der Landesverteidigung kann damit auf absehbare Zeit ausgeschlossen werden. Anders sieht dies für Randbereiche der EU und NATO aus.

Unterhalb großer militärischer Bedrohungen sind aber viele Risiken und Bedrohungen denkbar, die die Sicherheit der Bundesrepublik und ihrer Bürger beinträchtigen können - mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und Schadenswirkung.  Internationaler Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Gewaltbrutstätten in scheiternden Staaten gelten schon länger als vorrangige Bedrohungen. Deutlicher wird, in welch hohem Maße heutige Gesellschaften auf eine ungestörte Energieversorgung und freie Handelswege angewiesen sind. Das gilt insbesondere für eine Handelsnation wie die Bundesrepublik. Das ist eine Frage nationaler und internationaler kollektiver Sicherheit zugleich. Zunehmend risikobehaftet sind kritische Infrastruktur und Informationsraum, national wie global. Hier wächst ein für die Sicherheit und Stabilität von Staaten und Gesellschaften erhebliches Bedrohungspotential heran. Dazu gehören Cyber-Attacken wie auch über globalisierte Medien vermittelte Eskalationen von Feindbildern und Konfrontationen. Neu aufgenommen werden sollte in den Katalog von Risiken und Bedrohungen friedensstörendes Agieren und kontraproduktives Wirken der „eigenen Seite". Beispiele dafür sind der Antiterrorkrieg, der Terrorismus nicht eindämmte, sondern eher als Brandbeschleuniger wirkte, Aufrüstung, bedenkenlose Rüstungsexporte, unzureichend mandatierte und ausgestattete Friedensmissionen.

Um Krisen wirksam vorbeugen und Frieden fördern zu können, sind Chancenanalysen, die Identifizierung und Unterstützung von Friedenspotenzialen und -akteuren überfällig.

Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr

Seit Ende des Ost-West-Konfliktes erleben wir daher, infolge der neuen Lage, die Umstellung von Verteidigung auf Sicherheit. Den heutigen Risiken und Bedrohungen kann wirksam nur mit einem Ansatz von gemeinsamer, umfassender und Gewalt vorbeugender Sicherheit begegnet werden. Der Primat der politischen Konfliktlösung und zivilen Krisenprävention darf nicht nur Rhetorik sein, er muss auch die politische Praxis bestimmen.

Nüchterne Identifizierung von Risiken und Bedrohungen ist jedoch das eine. Das andere ist, wie und mit welchen Mitteln diesen Risiken und Bedrohungen vorgebeugt, wie sie minimiert und abgewehrt werden sollen und wer dazu beauftragt und befugt ist. Eine Formulierung im Weißbuch von 2006 ließ Interpretationen zu, wonach Ressourcen- und Seewegsicherung Bundeswehreinsätze legitimieren könne. Bundespräsident Horst Köhler stolperte über eine ähnliche Formulierung. Aus der Breite heutiger Risiken und potentieller Bedrohungen erwächst jedoch keineswegs eine Allzuständigkeit des Militärs. Militär (genauer: militärische Gewalt) darf außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung nur eingesetzt werden, wenn der UN-Sicherheitsrat eine Bedrohung von internationaler Sicherheit und Weltfrieden feststellt, wenn kollektive Sicherheit betroffen ist (wie im Fall der Piratenbedrohung am Horn von Afrika).

Diese klare Grenzziehung wird unterlaufen, wo der (nationale) Verteidigungsbegriff entgrenzt wird, weg vom Territorium hin zur Verteidigung partikularer (Sicherheits-)Interessen und tendenziell globaler Vorwärtsverteidigung. Unter Minister Struck hatte die Ausweitung des Verteidigungsbegriffs begonnen, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien und mit seinem geflügelten Wort von der „Verteidigung deutscher Sicherheit am Hindukusch". Sie wurde im Weißbuch der großen Koalition und im Bericht des Generalinspekteurs zur Bundeswehrreform fortgesetzt: „Verteidigung unseres Landes ist heute und in Zukunft vor allem Bündnisverteidigung an und jenseits der äußeren Grenzen des Bündnisgebietes". Auch wenn es nicht so gemeint sein mag: Wo die „erweitere Landes- und Bündnisverteidigung" den Begriff der kollektiven Sicherheit beiseite drängt, ist das ein Türöffner für die Selbstermächtigung von Militäreinsätzen und eine Rückkehr zum „Recht" des Stärkeren.

Was also bedeutet der Friedensauftrag der Bundeswehr konkret?

Es gibt wohl keinen Bereich staatlichen Handelns in Deutschland, der gesetzlich so vage fixiert ist wie der Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr. Dabei geht es hier um eine besonders teure, riskante und gegebenenfalls opferreiche Option staatlichen Handelns. Das Grundgesetz bestimmt nur den Rahmen: Friedensauftrag, Verbot der Vorbereitung von Angriffskriegen, unmittelbare Geltung des Völkerrechts, Streitkräfte zur Verteidigung, Kann-Beitrag zu kollektiver Sicherheit. Der neuere Realauftrag der Bundeswehr - Beitrag zu internationaler Krisenbewältigung im UN-Auftrag jenseits der Landesverteidigung - ist im Wortlaut des Grundgesetzes nicht klar erkennbar, sondern nur mit Hilfe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1994 aus dem Art. 24, Abs. 2 ableitbar - und somit viel zu vage.

Hinzu kommt: Es fehlt das Fundament einer systematischen und öffentlich zugänglichen Auswertung von 20 Jahren deutscher Beteiligung an multilateraler Friedenssicherung. Eine solche Auswertung ist umso dringlicher, weil überzogene Erwartungen an militärische Krisenbewältigung vor allem in der Öffentlichkeit, auch in der Politik - am wenigsten unter Militärs - unterschwellig noch recht verbreitet sind. Eine notorische Verweigerung von Wirksamkeitsevaluierungen leistete dem Vorschub. Besonders hilfreich wären die bisher viel zu wenig zur Kenntnis genommen Erfahrungen der UN-Friedenssicherung.[4] Eine Grunderfahrung ist doch, dass militärische Friedenseinsätze bestenfalls große Gewalt eindämmen und Zeit kaufen können für die politische Konfliktlösung und Förderung von selbsttragender Sicherheit, dass eindimensionale Militäreinsätze aussichtslos sind und nur multidimensionale, diplomatisch-zivil-polizeilich-militärische Friedenssicherung Aussicht auf Wirkung hat. Eine andauernde Erfahrung ist, dass unklare Mandate und unzureichende personelle und materielle Ausstattung Missionserfolge verhindern.

Vor diesem reichhaltigen Erfahrungshintergrund müssten die komplementären Aufgaben von Diplomatie, Bundeswehr, Polizei und Rechtsstaatshilfe, Entwicklungszusammenarbeit, die Strukturen einer verbesserten Ressortzusammenarbeit genauer bestimmt und abgegrenzt werden. Auf eine systematische Auswertung der Auslandseinsätze und eine genauere Aufgabendefinition der zivilen und militärischen Säulen zu verzichten, ist dagegen ein fundamentaler Mangel der gegenwärtigen Bundeswehrreformdebatte.

Die Präzisierung des Grundgesetzes ist geboten

Meiner Meinung nach sind für eine klarere Auftrags- und Aufgabenbestimmung der Bundeswehr eine Grundgesetzpräzisierung und/oder ein Bundeswehraufgabengesetz unverzichtbar.

Militäreinsätze sollten jenseits der territorialen Landes- und Bündnisverteidigung ausschließlich zulässig sein zur Gewalt- und Kriegsverhütung/-eindämmung sowie zur internationalen Rechtsdurchsetzung im Dienste kollektiver Sicherheit im Rahmen des UN-Systems, also mit UN-Mandat. In diesem Sinne müsste das Grundgesetz endlich präzisiert und UN-kompatibel gemacht werden. Damit würde ein klarer Trennungsstrich gezogen zu Interventionen für partikulare Machtinteressen und zu Vorstellungen von „Krieg als Mittel der Politik". Zugleich darf eine solche GG-Änderung bzw. Gesetzesinitiative kein Türöffner für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Innern sein. Das Risiko scheint mir allerdings heute geringer als noch in der vorherigen Legislaturperiode.

Mit einer genaueren gesetzlichen Grundlage ist es jedoch nicht getan. Bundesregierung und Bundestag stehen in der Pflicht, Auslandseinsätze nicht nur sicherheitspolitisch zu begründen und aus Beschlüssen internationaler Organe abzuleiten. Sie müssen klare Mandate mit realistischen und überprüfbaren Zielen und Exitkriterien beschließen sowie die dafür notwendigen personellen und materiellen Ressourcen zur Verfügung stellen. Bisher waren Mandate in der Regel ziemlich abstrakt formuliert, mit hehren Zielen, aber dünnem Realitätsbezug.[5] Um die Tragfähigkeit und Transparenz von Einsatzentscheidungen zu verbessern, sind Kriterien für Auslandseinsätze sinnvoll und hilfreich.[6] Überfällig sind umfassende Mandate, die über das Militärische auch die politischen, polizeilichen und zivilen Ziele und Aufgaben definieren und die dafür notwendigen Ressourcen bereitstellen.

Wenn allerdings die Vereinten Nationen für deutsche Politik tatsächlich so bedeutsam sind, wie immer wieder behauptet wird, dann ist umso unverständlicher, ja beschämender, wie sehr deutsche Politik UN-Friedenssicherung im Tropenregen bzw. in der Dürre stehen lässt: Deutschland gehört zwar zu den großen Geldgebern der UN-geführten Missionen; beim Personal (Soldaten, Polizisten, Zivilisten) liegt das Land aber an 45. Stelle (Ende Oktober 2010), hinter der Mongolei, Peru, Österreich, Russland, Guatemala, aber immerhin vor den Fidschi-Inseln. Die UN-geführten Missionen sind in vielen Krisen- und Kriegszonen oft der allerletzte Rettungsanker, wegen mangelhafter personeller und materieller Ausstattung aber oft überfordert. Sie befinden sich gegenwärtig in einer massiven Krise. Unter Rot-Grün bestand die Absicht, die UN-geführten Missionen zu stärken. Davon ist bei der jetzigen Regierung keine Rede mehr. Es reicht jedoch nicht aus, wenn die UN fast nur als Legitimationsinstanz für Kriegseinsätze erscheint.

Internationale Krisenbewältigung, Gewaltverhütung und -eindämmung, politische Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung brauchen dringend Kohärenz der Ziele, ein bestmögliches Zusammenwirken politischer, militärischer, ziviler und polizeilicher Akteure und Ausgewogenheit ziviler und militärischer Fähigkeiten und Kapazitäten. Das ist die richtige These hinter integrierten UN-Missionen, dem Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung", dem Comprehensive Approach und Vernetzter Sicherheit (jeweils mit unterschiedlichen Akzenten).

Die ressort- und akteursübergreifende Dimension wird auch von der Strukturkommission angesprochen: als Einordnung in einen „ganzheitlichen Ansatz", entsprechend dem „Konzept der Vernetzten Sicherheit". Bei diesem Querverweis bleibt es dann aber auch. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass solche Verweise so richtig wie wirkungslos sind.

Eine vom Verteidigungsminister eingesetzte Kommission hat einen Ressortauftrag und kann keine Empfehlungen zur Stärkung der diplomatischen Fähigkeiten oder für die schnellere Verfügbarkeit von Polizeikräften, Rechtsstaats- und Verwaltungspersonal machen. Das ist die Aufgabe der federführenden Außen- und Sicherheitspolitik, des Primats der Politik. Diese Ebene der Politik ist jetzt in der Pflicht, sich zur überfälligen Bundeswehrreform zu verhalten und sie einzubetten in eine Reform der Politik und Strukturen der äußeren Sicherheit insgesamt. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin haben sich hierzu bisher völlig zurückgehalten. Wenn die Bundeswehr besser ihre Einsätze bewältigen, also zur internationalen Konfliktverhütung und -bewältigung beitragen soll, dann dürfen die anderen wesentlichen Ressorts, ihre Fähigkeiten und Kapazitäten dabei nicht ausgeblendet werden. Wo Stabilisierungseinsätze ein sichereres Umfeld für die Schlüsselaufgabe Förderung von Governance und State-Building schaffen sollen, können die Verantwortlichen hierfür nicht außen vor gelassen werden. Nach aller Erfahrung ist es naiv zu meinen, die Ressorts würden hier schon gemeinsam an einem Strang ziehen und ihre jeweiligen Hausaufgaben erledigen.[7]

Militärische Effizienz ohne politische Nachhaltigkeit: Die Bundeswehr als Lückenbüßer

Die bisherigen Vorschläge laufen jedoch (erneut) auf eine isolierte Bundeswehrreform hinaus, auf eine bloße Insellösung. Eine Bundeswehrreform ohne gleichzeitige Reform der Strukturen und Fähigkeiten umfassender Sicherheitspolitik bleibt Stückwerk. Sie bringt keinen friedens- und sicherheitspolitischen Mehrwert, sondern verstärkt vielmehr die strukturelle Militärlastigkeit der Sicherheitspolitik.

Wo parallel dazu sogar im Haushaltsentwurf des Auswärtigen Amtes für 2011 die Mittel für Zivile Krisenprävention im engeren Sinne massiv gekürzt werden, wird dieser Reformansatz doppelt kurzsichtig. Die Bundeswehr ist damit weiter in Gefahr, als Lückenbüßer eingesetzt, ja missbraucht zu werden, weil sie eben als einzige staatliche Institution über breite, flexible Fähigkeiten und zahlreiche, schnell einsatzfähige Kräfte verfügt. Das ist verantwortungslos gegenüber den entsandten Soldaten, die in ihrem hoch belastenden und riskanten Einsatz einen selbstverständlichen Anspruch darauf haben, dass ihr Auftrag aussichtsreich ist und Sinn macht.

In der Konsequenz heißt das: Auch mit einer effizienteren Bundeswehr wäre der Afghanistaneinsatz keineswegs automatisch erfolgreicher und akzeptierter. Denn auch eine Effizienzsteigerung wird das Risiko nicht mindern, dass Bundeswehreinsätze in Zukunft in die Falle eines Politik-Ersatzes geraten können.

Weil es jetzt nicht „nur" um eine Bundeswehrreform, sondern um verantwortliche deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik insgesamt geht, ist es so dringlich, eine umfassendere sicherheitspolitische Debatte jetzt zu führen. Die Chance dafür darf nicht wieder vertan werden.

Gerade weil der Afghanistaneinsatz inzwischen für fast alle eine heiße Kartoffel ist (die man am liebsten so schnell wie möglich fallen lassen würde), muss die Debatte angegangen werden. Zwar ist die Erwartung unrealistisch, eine breite Debatte in der Gesellschaft wie zu Zeiten des Streits um die sogenannte Nachrüstung initiieren zu können. Möglich und notwendig ist aber ein Diskussionsprozess, in dem gezielt alle Gruppierungen und Teilöffentlichkeiten mit friedens- und sicherheitspolitischem Interesse und Offenheit zusammengebracht werden.

Was kann, was soll eine künftige Bundeswehr zu einer zukunftsfähigen, wirksamen Friedens- und Sicherheitspolitik im Rahmen des UN-Systems beitragen? Was sollen und müssen andere Ressorts und Akteure beitragen, wenn selbsttragende Stabilisierung nur durch Förderung von Governance anzunähern ist? Was muss die - lange überfällige - friedens- und sicherheitspolitische Strategie der Bundesrepublik beinhalten?

Diese Fragen dürfen nicht der Spitze des Verteidigungsministeriums oder Parteitagen der Koalitionsparteien überlassen bleiben. Sie gehen alle Staatsbürgerinnen und -bürger an - in Zivil und in Uniform.

 


[1] Vgl. Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008.

[2] Deutsche Sicherheitsinteressen sind wiederum in hohem Maße deckungsgleich mit europäischen. Weitere Sicherheitsinteressen wären im Hinblick auf Herausforderungen, Regionen und Akteure zu konkretisieren.

[3] Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung. Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel an die UN-Generalversammlung, Dezember 2004, A/59/565.

[4] Vgl. Brahimi-Bericht, www.un.org/Depts/german/sr/sr_sonst/a55305.pdf; UN Peacekeeping Operations Capstone Doctrine, www.pbpu.unlb.org/pbps/library/capstone_doctrine_ENG.pdf; A New Partnership Agenda: Charting the New Horizon for UN Peacekeeping, www.un.org/en/peacekeeping/newhorizon.shtml; Tagung der DGVN zu „Brahimi plus 10", www.dgvn.de.

[5] Das letzte deutsche ISAF-Mandat vom Februar 2010 spricht noch von der Aufgabe Friedensbewahrung, wo der (Minimal)Frieden in den Provinzen Kundus und Baghlan seit 2008/9 verloren ist und „Friedenswiederherstellung", „Friedenserzwingung" (UN-Sprache) und Kampfeinsatz/Aufstandsbekämpfung die Realität sind.

[6] Der differenzierteste Vorschlag wurde von der Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission von Bündnis 90/Die Grünen 2008 erarbeitet, vgl. Grüne Prinzipien für internationales Krisenengagement und Auslandseinsätze, in: Abschlussbericht, www.boell-rlp.de/Thema/Archiv/frisikoabschlussbericht.pdf.

[7] Vgl. den 3. Umsetzungsbericht der Bundesregierung zum „Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung, BT-Drs. 17/2300 vom 25.6.2010; Winfired Nachtwei, Wachstumsschwäche bei Friedensfähigkeiten - Kurzkommentar zum 3. Umsetzungsbericht, Juni 2010, und Stellungnahme zu den Fragen der Anhörung „Erfahrungen und Perspektiven der Zivilen Krisenprävention" im Unterausschuss Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit des Bundestags am 14. Juni 2010, www.nachtwei.de; Plattform zivile Konfliktbearbeit/Forum Menschenrechte: Stillschweigender Abschied vom Aktionsplan Zivile Krisenprävention? www.konfliktbearbeitung.net; Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE): Zivile Krisenprävention: notwendig, nicht lästig, Bonn und Berlin, September 2010.

 


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch