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Sicherheitspolitik und Bundeswehr + DR Kongo + Bericht von Winfried Nachtwei
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Alexander Bergmann, Vorsitzender des Vereins ehem. jüdischer Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, ist gestorben. Erinnerungen an einen großartigen, lieben MENSCHEN

Veröffentlicht von: Nachtwei am 17. Januar 2016 15:21:23 +01:00 (34760 Aufrufe)

1993 trafen wir uns erstmalig in Riga. Gerade hatte er den Vorsitz im Verein der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge in Lettland übernommen. Er wurde der beste Botschafter und wirksame Vorkämpfer der vergessenen Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa in Deutschland und gegenüber einer über Jahre gleichgültigen und ignoranten Bundesregierung. Vor einer Woche wollten wir uns wieder in Riga treffen. Wir konnten nur noch einmal kurz miteinander telefonieren. Hier einige Erinnerungen an Sascha, der unvergessen bleibt. Fotos auf meiner Facebook-Seite.

Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands

Alexander Bergmann

30.Mai 1925 in Riga  -  12. Januar 2016 in Riga

Alexander (Sascha) Bergmann überlebte in jungen Jahren den Nazi-Terror im Ghetto von Riga und in den Konzentrationslagern Kaiserwald (Riga), Stutthof bei Danzig und Buchenwald, Außenlager Magdeburg. Seine Eltern, sein jüngerer Bruder, seine Großmutter sowie zahllose Verwandte wurden von den Nazis 1941 und 1944 im Wald von Rumbula bei Riga ermordet. Nach dem Krieg und Jurastudium arbeitete er 51 Jahre als Rechtsanwalt in Riga.

Seit September 1993 war Alexander Bergmann Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands (LEGU). Er war der energische und unermüdliche Sprecher der jahrzehntelang vergessenen und gedemütigten Holocaust-Überlebenden in Lettland, aber auch Litauen und Estland. Mit seinem untrüglichen Gerechtigkeitssinn und seiner menschlichen Überzeugungskraft gewann er Unterstützer- und Freundeskreise u.a. in Berlin, Bremen, Freiburg, Göttingen, Hamburg, Leipzig und Münster.

Er suchte und fand politische Verbündete für eine würdige „Entschädigung“ unter Bundestagsabgeordneten und bei etlichen Journalisten, in deutschen Herkunftsorten der Riga-Deportationen von 1941/42 und in den USA. Er klagte an ein „Muster des verbalen Nichtvergessens“ und die reale Gleichgültigkeit gegenüber den wenigen Überlebenden des Holocaust. Er war die Schlüsselperson beim Engagement für eine überbrückende Soforthilfe und für eine „Entschädigung“ der Holocaust-Überlebenden im Baltikum und Osteuropa, die Ende 1997 durchgesetzt werden konnte.

Tausende Menschen aus Deutschland erlebten Alexander Bergmann als eindringlichen Zeitzeugen und authentischen Botschafter wider das Vergessen und die Unmenschlichkeit. Nicht zuletzt Besuchergruppen aus Städten des Riga-Komitees – unter ihnen viele Jüngere - werden die Begegnung mit diesem klugen, großartigen und humorvollen Menschen nicht vergessen.

Wer mit Alexander Bergmann, mit Sascha des öfteren zu tun hatte, ist zutiefst dankbar, ihn erleben, ihm zuzuhören, mit ihm sprechen, arbeiten und lachen zu dürfen.

Alexander Bergmann hat sich um die Gemeinschaft der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands und um die lettische Demokratie sowie um die Erinnerungskultur in Deutschland und um ein zusammenwachsendes, friedliches Europa in hohem Maße verdient gemacht.

Seit 2004 ist er Träger des „Drei-Sterne-Ordens“ des lettischen Staatspräsidenten.

Am 12. Januar 2016 ist Alexander Bergmann in einem Rigaer Krankenhaus gestorben.

Erste und letzte Begegnungen

Im Frühjahr 1993 begegneten wir ihm erstmalig im Rahmen einer Erinnerungsreise zu den Orten des Naziterrors in Riga. Daraus entwickelte sich schnell eine enge Zusammenarbeit: Spendensammlung für ein Ghetto-Mahnmal und Soforthilfe für ehemalige jüdische Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, politisches Engagement für eine würdige „Entschädigung“ der Holocaust-Überlebenden im Baltikum.

Das letzte Mal begegneten einige von uns Sascha bei der Feier seines 90. Geburtstages am 30. Mai 2015 in Riga. Bei unserem jüngsten Riga-Besuch anlässlich des 90. Geburtstages von Eva Vestermane hatten Angela und ich uns für den 8. Januar verabredet, das Treffen aber auf seinen Wunsch hin verschoben. Seine Stimme war schwach. In den Folgetagen erreichte ich nur noch seinen Anrufbeantworter. Am frühen Nachmittag des 12. Januar erfuhr ich aus dem Jüdischen Krankenhaus, dass er nach vier Tagen Intensivstation am Vormittag gegen 11.00 Uhr gestorben sei. Auf der tief verschneiten Gedenkstätte Rumbula legten wir in der Abenddämmerung Blumen nieder. Nahe bei dem Stein für die hier erschossenen Daniels, Edgars, Klara und Zans Bergmann.

Kurzportrait von Alexander Bergmann (aus Hanna und Wolf Middelmann, Dem Judenmord entkommen, Bericht über zwei Jahrzehnte unseres intensiven Austausches mit den Überlebenden des Holocaust im Baltikum, Villa ten Hompel Aktuell 20, Münster 2015, S. 102)

„Ich, Alexander Bergmann, bin, als zweiter von drei Söhnen, in einer Lehrerfamilie am 30.5. 1925 in Riga geboren.

Mein Vater, ein angesehener Pädagoge, wurde zur Leitung des Rigaer jüdischen Gymnasiums berufen, war auch politisch aktiv, insbesondere in Lettlands jüdischem Leben. Meine Mutter war mit dem Versuch, drei Bengel zu anständigen Leuten zu erziehen, mehr als vollbeschäftigt. – Meine Kindheit kann ich in einem Satz beschreiben – es war eine goldene Zeit.

Im Nu endete alles, als am 1. Juli 1941 die Stiefel der deutschen Wehrmacht das Pflaster von Riga betraten. In meiner Erinnerung blieben die blankgeputzten Stiefel der deutschen Soldaten im Vergleich mit dem staubigen, kaputten Schuhwerk der abziehenden Roten Armee.

Am 4. Juli 1941 wurde mein geliebter Großvater ermordet. Ich muss bemerken, dass den Mord einheimische Mörder vollbrachten, aber die Strippenzieher offensichtlich die deutsche SS war. Ohne deutsches Wohlwollen, wenn nicht direkten Befehl, hätten die Letten kein Haar am Großvater und seinem Schwiegersohn gekrümmt. An diesem Tag wurden viele hunderte Juden ermordet und auch lebendig verbrannt in der großen Choralsynagoge und anderorts.

Das Massenmorden fing am 4. Juli an und wollte all die Jahre nicht enden. Endergebnis: am Leben blieben ca. 1300 Juden von ca. 74.000.

Am 30. November und 8. Dezember 1941 wurden im Wald von Rumbula bei Riga ca. 28.000 Rigaer jüdische Frauen, Kinder, Greise und auch teilweise Männer abgeschlachtet. Die Vernichtungsaktion geschah unter der Führung des höheren SS-und Polizeiführers Ostlands, Friedrich Jeckeln, und seiner persönlichen wie auch seines Stabes Teilnahme am Morden.

Am 8. Dezember verlor ich meine Mutter, meine Großmutter, meinen jüngeren Bruder und viele, viele andere Verwandte.

Mein Vater wurde im August 1944 zusammen mit mehr als 140 anderen Juden im Wald von Rumbula ermordet. An dem Tag entgingen nur 6 Mann diesem Massaker, unter denen auch ich war.

Die Frage, wie es mir gelang, diese fürchterliche Zeit zu überleben, beantworte ich mit folgenden Worten: Zufall, Glück, Schicksal (wer dran glaubt), Jugend, Arbeitsfähigkeit und persönliche Aktivitäten, zum Beispiel bei der Lebensmittelbeschaffung, um nicht zu verhungern. Ich versuche meine Aufzählung mit einem der unzähligen Beispiele zu begründen.

Im Jahre 1943 verstand die SS, dass der Krieg verloren war und man  schleunigst die Spuren ihrer Verbrechen vernichten musste. Es wurde ein Arbeitskommando mit dem Codenamen „Stützpunkt“ gegründet, das die Tausende von Leichen in Rumbula ausgraben und verbrennen sollte. Danach sollten die Juden, die diese Arbeit verrichteten, selbst verbrannt werden. Das Kommando arbeitete zwei Wochen, und dann wurden Neue aus dem KZ „Kaiserwald“ in Riga nach Rumbula gebracht. Da die Menschen aus Rumbula nicht zurückkehrten, haben wir schnell die schreckliche Wahrheit erfahren, und jeder hatte Angst, ins Kommando „Stützpunkt“ zu geraten. Die von der SS benötigten Häftlinge wurden beim Abendappell ausgesucht. Einmal geschah das so, dass die Fünferreihe links und rechts von der Reihe, in der ich stand, nach Rumbula zu diesem berüchtigten Kommando geschickt und damit das Schicksal dieser armen Menschen besiegelt wurde.

Mein Schicksal war typisch für die, denen es glückte, den Krieg zu überleben: Rigaer Ghetto, KZ „Kaiserwald“ in Riga, KZ „Stutthof“ bei Danzig und KZ „Buchenwald“, Außenlager Magdeburg. Nach der Befreiung: Sowjetisches Militärkrankenhaus mit der Diagnose totaler Dystrophie und Lungentuberkulose.

Danach Rückkehr nach Riga – Jurastudium und 51 Jahre Arbeit als Rechtsanwalt“.

(Seine Erinnerungen hat Alexander Bergmann in den „Aufzeichnungen eines Untermenschen“, Edition Temmen/Bremen 2009, niedergeschrieben. Das Buch ist in Russisch, Deutsch und Lettisch erschien.)

75 Jahre danach: In 2016 jähren sich der 14. Juni 1941 (erste sowjetische Massendeportation von 16.000 Menschen aus Riga nach Sibirien), der 4. Juli 1941 (die Verbrennung der Rigaer Synagogen mit Hunderten jüdischen Menschen), der 30. November und 8. Dezember 1941 (Ermordung von über 25.000 Rigaer Juden in Rumbula einschließlich der ersten 1.000 Deportierten aus Berlin durch das Einsatzkommando 2), der 13. Dezember 1941 (Abfahrt des „Bielefelder Transports“ aus Münster, Osnabrück und Bielefeld Richtung „Reichsjudenghetto“ Riga) zum 75. Mal.

 

Befreiung in Magdeburg

Als der 19-jährige Alexander Bergmann am 12. April 1945 in Magdeburg seine Befreiung erlebte, lagen fast vier Jahre Gefangenschaft und Zwangsarbeit im Ghetto Riga, im KZ Kaiserwald (Riga) und Stutthof (bei Danzig) und in einem Außenlager des KZ Buchenwald in Magdeburg hinter ihm. Am 11. April 2015 berichtete Lorenz Hemicker in der FAZ über „Das Ende einer Höllenfahrt“. (http://www.faz.net/aktuell/politik/70-jahre-kriegsende/kz-haeftling-alexander-bergmann-das-ende-einer-hoellenfahrt-13527570.html )

Genau 70 Jahre nach seiner Befreiung besuchte ich Sascha in seiner Wohnung und überbrachte ihm den Ausdruck des Artikels:

Bei der Befreiung habe er zunächst nichts empfunden, das sei später gekommen. L.H. sei ein junger, guter Mensch! Zur Feier des 90. Geburtstages am 30. Mai im Restaurant „Slavo“ seien ca. 70 Menschen eingeladen, auch einige Freunde aus Deutschland. „Früher liebte ich Menschen um mich herum. Jetzt nicht mehr.“ Im Kopf arbeite es, aber wie im Nebel.

Den Spiegel lese er von vorne bis hinten. Das gebe einen Überblick über Deutschland, Europa, die Welt. Ansonsten informiere er sich aus den russischen Privat-Kanälen „Regen“ (TV) und „Echo“ (Radio). „Die Einnahme der Krim hatten wir nicht erwartet. Es geschah.“ Die Krim sei nur ein Teil von Putins Politik. „Man kann von ihm alles erwarten.“

Auf meine Frage, ob ich die Teilnehmer des 2. Symposiums des Riga-Komitees am nächsten Wochenende in Münster von ihm grüßen dürfe, antwortete er: „Aber klar. Wir sind eine Familie!

(Gespräch von L. Hemicker mit A. Bergmann: „Sein Verhältnis zu den Deutschen“, 10.4.2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/70-jahre-kriegsende/kz-ueberlebender-bergmann-sein-verhaeltnis-zu-den-deutschen-13531075.html

Soforthilfe – und viel mehr

1993 machten sich 15 BürgerInnen aus dem Münsterland und Emsland zu der wohl ersten Gruppen-Erinnerungsreise auf den Spuren der Deportation vom 13. Dezember 1941 nach Riga auf („Bielefelder Transport“ aus Münster, Osnabrück, Bielefeld). Am neuen Mahnmal an der ehemaligen Großen Synagoge an der Gogolstraße legten wir am 31. März Kränze für die deportierten und ermordeten früheren jüdischen Nachbarn von nebenan nieder und trafen Mitglieder des „Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands“, darunter Alexander Bergmann, Rafail Barkan, Margers Vestermanis, Eva Water.

Nachträglich überschattet wurde die Begegnung von den Enthüllungen des NDR-Magazins „Panorama“ am 29. März (John Goetz und Volker Steinhoff): Ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS erhielten aus Deutschland eine Kriegsversehrtenrente, ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge demgegenüber keinen Pfennig.[1]

Dieser Skandal war der Anstoß, die bisherige Erinnerungsarbeit für die nach Riga Deportierten mit der Solidarität zu den wenigen noch lebenden ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen zu verbinden. Getragen von einzelnen engagierten Bürgerinnen und Bürgern entwickelten sich Unterstützer- und Freundeskreise in Göttingen (Ehepaar Middelmann)[2], Freiburg (Hilfsfonds „Jüdische Sozialstation“ – Ghetto-Überlebende Baltikum, Margot Zmarzlik), Leipzig („Leipziger Freundeskreis ehemaliger jüdischer Ghetto- und KZ-Insassen im Baltikum e.V.“, Pfarrer Reinhard Enders), Bremen (Hermann Kuhn), Bonn (Edmund Pollak), Hamburg (Yad Ruth e.V., Gabriele + Michael Hannemann), Lübeck (Geschwister Penski Schule, Heidemarie Kugler-Weiemann), Tübingen (Waltraut Balbarischky), Wien (Alexander Wrchovszky), Münster (Autor) und ab 1997 in Berlin („Freundeskreis der Holocaust-Überlebenden“)[3]. Sie organisierten Spendensammlungen und Hilfslieferungen, unterstützt oft von Gesellschaften für Christliche Zusammenarbeit. Alexander Bergmann war für diese Initiativen ein absolut verlässlicher Partner, Motivator und Freund. Über die durch Spendengelder ermöglichte Hilfe hinaus entstanden dabei sehr persönliche und tiefe Beziehungen zu den Holocaust-Überlebenden in ihren letzten Lebensjahren. Hanna und Wolf Middelmann stehen beispielhaft dafür.

Am 30. November 1998 schrieb Alexander Bergmann in einem Brief an die Spender:

Ab 1993 erfuhrt Ihr durch die Zeitungen und das Fernsehen über unsere trostlose Lage. Seitdem habt Ihr das getan, was wir eigentlich vergeblich vom deutschen Staat erwarteten. Ihr habt mit Eurem Geld und Sachspenden, mit Euren liebevoll gepackten Lebensmittelpaketen uns unterstützt. Ihr habt aber viel mehr getan. Ihr habt uns den Glauben an die Menschheit wiedergegeben, Zeichen der Solidarität gestellt. Euer aufrichtiges Mitgefühl hat uns erwärmt. Wir übertreiben auch hier nicht, wenn wir behaupten, dass Eure Hilfe Leute vom frühzeitigen Tod gerettet und uns allen Überlebenden Zuversicht für die kurze Zukunft, die uns noch bevorsteht, gegeben hat.

Verfolgt, vergessen, gedemütigt – Kampf für eine individuelle „Entschädigung“

Im April 1990 hatte sich die Vollversammlung der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands erstmalig an den deutschen Staat gewandt und Bundespräsident von Weiszäcker in einem Brief die Dringlichkeit einer würdigen „Entschädigung“ mitgeteilt. Unterzeichner des Briefes war der damalige Vereinsvorsitzende Margers Vestermanis.

Beim ersten Welttreffen der lettischen Juden im Juni 1993 wurde an der Gogolstraße das erste Holocaust-Mahnmal Lettlands eingeweiht. In einer Feierstunde im ehemaligen Jüdischen Theater in der Skolas iela ehrte der lettische Staat Dutzende „Judenretter“. Einige Tage später das Treffen der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge zusammen mit den „Jewish Survivors of Latvia“ und ihrem Präsidenten Steven Springfield mit Teilnehmern auch aus den USA, Südafrika, Australien, Israel, Kanada, Schweden, Schweiz, Deutschland. Margers Vestermanis: „Ein Häufchen Geretteter in einem Meer von Blut.“ Die lettisch-jüdischen Ghetto-Überlebenden erhielten von den „Jewish Survivors“ jeweils einen Umschlag mit 100 Dollar. Im Gespräch mit der Baltikum-erfahrenen Journalistin Marianna Butenschön aus Hamburg entstand die Idee zu einer Kampagne in Deutschland zusammen mit Journalisten, örtlichen Politikern und Bundestagsabgeordneten, damit die ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands und des Baltikums „zu ihrem Recht kommen.“

Am 2. November 1993, dem 50. Jahrestag der Auflösung des Rigaer Ghettos wurde der Aufruf an die Fraktionen im Bundestag und an die Bundesregierung „Verfolgt, vergessen, gedemütigt: Holocaust-Überlebende im Baltikum - ´Wir bitten nicht um Almosen!`“ veröffentlicht mit der eindringlichen Forderung nach Entschädigungsleistungen für die Nazi-Opfer im Baltikum. Nach den Erstunterzeichnern Ignatz Bubis, Marianna Butenschön, Michael Degen, Hans-Joachim Friedrichs, Ralph Giordano, Eberhard Jäckel, Gabriel Laub, Siegfried Lenz, Jobst Plog, Jens Reich, Lea Rosh, Friedrich Schorlemmer, Antje Volmer schlossern sich die „Jewish Survivors of Latvia“ und die „Society oft Survivors of the Riga Ghetto“ (beide New York), zehn deutsche Oberbürgermeister (u.a. Bielefeld, Düsseldorf, Gelsenkirchen, Köln, Münster, Osnabrück), 26 Stadtratsfraktionen (z.B. alle in Münster) und ca. 1.000 Personen aus Herkunftsorten der Riga- Deportationen dem Aufruf an.

Bundesfinanzminister Waigel stellte zu dem Zeitpunkt den baltischen Staaten „als Entschädigung für NS-Opfer humanitäre Hilfe in Form zukunftsorientierter Sachleistungen“ in Aussicht, zum Beispiel eine Unterstützung von Sanatorien und Altersheimen für den betroffenen Personenkreis.

Dazu nahm am 12. Dezember 1993 Alexander Bergmann in einem Offenen Brief an Außenminister Kinkel und Finanzminister Waigel Stellung:

„Wir benötigen eine systematische, adressierte finanzielle Hilfe, um die Zeit, die uns noch verblieben ist, gebührend leben zu können. (…) Unsere Situation kann man mit der eines Ertrinkenden vergleichen. Als solcher braucht er Hilfe heute, sogleich, augenblicklich. Morgen oder übermorgen wird es schon zu spät sein. (…) Dringende Hilfe ist auch darum erforderlich, weil jeder von uns nach Erhalt der Rente vor der Wahl steht, entweder die Wohnungsmiete zu bezahlen oder Brot zu kaufen. Für beides reicht es nicht. (…) Ein Altersheim zu erbauen: Das wäre für uns das Gleiche, wie einem Ertrinkenden an Stelle eines Rettungsringes eine Rettungsstation erbauen zu wollen. Ein solches Haus wäre auch aus dem Grunde nichts für uns, weil wir das Barackenleben in K.Z.Lagern zur Genüge kennengelernt haben. In Stutthof z.B. ´schliefen` wir zu viert in einem ´Bett` von der Breite von 60 cm. Davon, dass man uns ein Hostel schenken will, wird sich an unserer Mentalität nichts ändern. (…) Trotzdem man uns erniedrigt, beraubt, auf die Knie gedrückt und vernichtet hat, sind wir doch ein stolzes Volk geblieben und haben unser Selbstbewusstsein nicht eingebüßt. Es ist uns durchaus nicht gleichgültig, welche Parole auf unserem ´Rettungsring` gezeichnet wird. Wir werden mit inniger Dankbarkeit Hilfe entgegennehmen und sie als gerechten Akt der Entschädigung für den uns angetanen materiellen Verlust betrachten. Jedoch, wir brauchen keine Gnadengeschenke, wir bitten nicht um Almosen.“

Zehn Monate später, am 23. September 1994, wandte sich Alexander Bergmann erneut in einem zweiten Brief an die beiden Minister:

Drei Jahre dauern unsere Unterredungen und Kontakte, auch auf höchstem Niveau mit dem Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin, um das Problem der Entschädigung für die noch lebenden jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge zu lösen.

Jedes Mal drückte man uns tiefstes Mitgefühl ob der vernichteten Familienmitglieder, eingebüßter Gesundheit, deren Folgen wir, und leider auch unsere Kinder, bis heute spüren, aus.

Man zeigte Verständnis, dass wir unsere besten Jahre in unmenschlichen Verhältnissen des Ghetto und KZ verbrachten, unser ganzes Hab und Gut verloren haben und versprach uns persönliche und beständige materielle Hilfe.

Am Ende unseres Lebens, als aus politischen und wirtschaftlichen Gründen wir ins Elend geraten sind, ist das Problem der Entschädigung, im selben Sinne wie es unseresgleichen, die im Westen in unvergleichlich besseren Umständen leben, bekommen, für uns zu einer Lebensfrage geworden.

Wir müssen leider feststellen, dass anstatt realer Hilfe immer wieder Versuche gemacht werden, unfruchtbare Diskussionen über dieses Problem zu entwickeln.

Wir sind überzeugt, dass im Falle, wenn diese Praxis weiter läuft, es in eine schwere moralische Anklage für Staatsmänner und führende Personen der Gesellschaft, die die biologische Lösung des Problems erwarten, ausarten kann.(…)

Medienecho: Ein breites Echo fanden die Hilferufe der vergessenen Holocaust-Überlebenden in Lettland und ihres Sprechers Alexander Bergmann in den Medien: Zum Beispiel

- „Wir können doch nicht betteln“ von Marianna Butenschön, Die Woche 7.4.1993

- Von Anita Kugler u.a. „verfolgt, vergessen, verarmt“, taz 21.10.1993; „“Sind wir Juden zweiter Klasse?“, taz 12.10.1995; von John Goetz „Deutschlands Fürsorge für seine Verbrecher“, 18.8.1995;

- „NS-Opfer im Baltikum gehen leer aus“ von Helmut Lölhöffel, FR 8.2.1994; „Sie können entweder Brot kaufen oder Miete zahlen“ von Hannes Gamillscheg, FR 6.9.1994

- „Bergmanns Liste wird immer kürzer“ von Christiane Schlötzer-Scotland, SZ 5.7.1995;

- „Die offene Wunde“ von Manfred Ertel, Spiegel 21.7.1997, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8745224.html

- Mehrfach Berichte von John Goetz und Volker Steinhoff in NDR-Panorama: „Deutsche Steuergelder für lettische SS-Veteranen“, 29.3.1993; „Steuermilliarden für Naziverbrecher – Deutsches Recht macht Täter zu Opfern“, 30.1.1997; „Vertrösten bis zum Tod – Bonns zynischer Umgang mit Nazi-Opfern“, 28.8.1997 (http://daserste.ndr.de/panorama/media/naziopfer2.html )[4]

Bundestag: Auf Initiative der Bundestagsabgeordneten von Stetten (CDU/CSU), Weisskirchen (SPD) Nachtwei (Bündnis 90/Grüne) wurde im Mai 1995 ein von 40 Abge-ordneten ihrer Fraktionen unterzeichneter Gruppenantrag „Humanitäre Geste für Opfer des NS-Unrechts in den drei baltischen Staaten“(http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/012/1301294.asc ) in den Bundestag eingebracht. Für mich als 1994 neu in den Bundestag gekommen Abgeordneten war diese Fraktionsgrenzen überschreitende Initiative eine positive und ermutigende Überraschung. Aber weil wir drei persönlich die Lage der Holocaust-Überlebenden im Baltikum kannten, arbeiteten wir hier zusammen, auch wenn uns sonst z.T. politische Welten trennten. Die Abwehrhaltung vor allem des Bundesfinanzministers (begründet mit drohender „Präzedenzwirkung“) konnte aber weder mit unserem Gruppenantrag noch mit späteren Anträgen und Anfragen einzelner Fraktionen durchbrochen werden.[5] Auch nicht am 30. Januar 1997 bei der Debatte des gemeinsamen Antrages von SPD und Grünen „Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus in den osteuropäischen Staaten“ (BT-Drs. 13/6844). Drei Tage vorher war bei der Feierstunde des Bundestages zum  offiziellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus keine Rede gewesen von den vergessenen – richtiger: ignorierten - Opfern in Osteuropa.

Nach einer Reise zu den Holocaust-Überlebenden in Litauen und Lettland im Februar 1997 kam ich zu dem Zwischenfazit:

Wer einmal an den Orten des Judenmords in den baltischen Staaten gestanden hat, wer einem der wenigen Überlebenden begegnet ist, die damals ihre ganze Familie verloren haben und selbst unermessliche Torturen haben durchmachen müssen, kann sich für die bundesdeutsche Entschädigungspolitik in Richtung Osteuropa nur schämen: Angesichts ihrer Ignoranz gegenüber dem Lebensschicksal und der Situation der NS-Opfer, angesichts ihres Desinteresses gegenüber der Frage, was von einer ´humanitären Geste` überhaupt bei den Betroffenen ankommt, angesichts ihrer offenkundigen Antriebslosigkeit, zu einer Regelung mit Lettland zu kommen. Ein Überlebender des Rigaer Ghettos, der KZ Kaiserwald, Stutthof und Buchenwald überstanden hatte: ´Wir existieren nicht für die Politiker in Bonn!` Die Vereine der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge verlieren von Monat zu Monat Mitglieder durch Tod und Auswanderung. In wenigen Jahren wird es die Vereine nicht mehr geben. Dann ist das Problem der Entschädigung biologisch ´gelöst`.“

Transatlantische Solidarität: In dieser Sackgasse brachte eine besondere Form der Transatlantischen Solidarität den Durchbruch. Der Brückenschlag dafür war ein Symposium, das am 2. Mai 1996 das American Jewish Committee (AJC) zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington durchführte und an dem Vertreter der NS-Verfolgtenverbände aus Tschechien, der Slowakei und Alexander Bergmann für Lettland, Litauen und Estland, des AJC, Stuart Eizenstadt (bisher US-Botschafter bei der EU) und Mitglieder der grünen Bundestagsfraktion teilnahmen. Ein Jahr später veröffentlichte das AJC am 7. Mai 1997, einen Tag vor dem Gedenktag an die deutsche Kapitulation 1945, eine ganzseitige skandalisierende Anzeige in der New York Times (Gegenüberstellung der deutschen Kriegsopferrenten für ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS und der Verweigerung von Renten für Holocaust-Überlebende in Osteuropa). Auf der 4th International Leadership-Conference des AJC in Washington hatte Alexander Bergmann die Möglichkeit, deutlich die verzweifelte Lage der Holocaust-Überlebende in Osteuropa und die Verweigerungshaltung der Bundesregierung zu schildern: Von Stalin stamme der Satz „Wo Menschen sind, gibt es Probleme. Wenn die Menschen verschwinden, gibt es auch keine Probleme mehr.“ Eine ähnliche Denkweise scheine bei der Bundesregierung zu herrschen. Viele Aktivitäten gebe es - Anträge im Bundestag, Pressekonferenzen, Briefe, Geldsammlungen, in den letzten sechs Monaten Veranstaltungen in 30 Städten, alle paar Monate Berichte in Zeitungen, Funk und Fernsehen. „Wir machen viel, aber vorläufig vergebens. Es ist wie ein Mückenstich. Es juckt nur für eine Weile, wirkt aber nicht richtig.“ Der Druck müsse viel massiver werden, Kongressabgeordnete, die Regierungen der USA und Israels müssten sich einschalten. Nur so könne das Gewissen der deutschen Regierung geweckt werden.

Am 1. August 1997 folgte ein Offener Brief von 82 der 100 US-Senatoren an Bundeskanzler Kohl. An den Verhandlungen zwischen Jewish Claims Conference am 19. Und 20. August 1997 im Kanzleramt nahm mit Alexander Bergmann erstmals ein Vertreter osteuropäischer Holocaust-Überlebender teil. Wenige Monate später, Anfang 1998, kam eine Entschädigungsrente zustande. Nach neun Jahren und nachdem sich die Mitgliederzahl des LEGU auf 70 fast halbiert hatte, erhielten die Holocaust-Überlebenden im Baltikum nun 250 DM/Monat, die Hälfte der Rente für die im Westen Lebenden!

Anwalt Alexander Bergmann war in dieser Auseinandersetzung Motor und strategischer Kopf, er war der beste Botschafter seiner Leidensgenossen: eindringlich, klar, argumentativ und menschlich überzeugend, in schönem alten Deutsch. Bei Vorträgen in vielen deutschen Städten bewegte der damals 72-Jährige seine Zuhörer zutiefst: So am 26. Januar 1997 im Bonner „Wasserwerk“ auf Einladung der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte und am 27. Januar in der Jerusalem Kirche in Hamburg.[6] Er schilderte die Lage seiner meist chronisch kranken Leidensgenossen, die entweder Miete zahlen oder Brot kaufen konnten. Er beklagte in Deutschland das „Muster des verbalen Nichtvergessens, (…) die unheimliche Diskrepanz zwischen richtigen Worten und (…) nicht verständlicher Gleichgültigkeit gegenüber den wenigen Überlebenden des Holocausts. Richtige Worte und keine Taten.“ Von den 138 ehemaligen Ghettohäftlingen, die sich 1989 zu einem Verein zusammengeschlossen hatten, lebten Anfang 1997 noch 88. Man erwartete, dass in vier, fünf Jahren „alle verschwunden“ seien.

Am 13. Januar 1998 wurde im Bonner Bundestag die Ausstellung „Shoa in Lettland“ eröffnet, ein Projekt von Margers Vestermanis und KONTAKTE e.V. Es war einen Tag nach der Einigung zwischen Jewish Claims Conference und Bundesregierung über die Rente für Holocaust-Überlebende in Osteuropa. (Detailliert zur Debatte um die Entschädigungszahlung siehe Middelmann a.a.O., S. 76-94)

Zeitzeuge, Brückenbauer

Ein halbes Jahrhundert war die Leidensgeschichte der Nazi-Opfer im Baltikum in West und Ost verdrängt und vergessen. Das Massengräberfeld von Bikernieki war in einem verwahrlosten Zustand. Nirgendwo ein Hinweis, dass die Mehrzahl der mindestens 35.000 hier ermordeten Menschen jüdischer Herkunft war. Nirgendwo ein Hinweis auf die mehr als 20.000 aus Deutschland, Wien und Theresienstadt hierher deportierten Juden.

Seit den 90er Jahren begannen sich zunehmend Menschen für die Geschichte des Rigaer Ghettos zu interessieren, für das Schicksal der dorthin deportierten, in Bikernieki und Rumbula ermordeten jüdischen Menschen, für die wenigen Überlebenden von Ghetto und KZ. Im Mai 2000 schlossen sich 13 Herkunftsorte der Riga-Deportationen im Deutschen Riga-Komitee zusammen, um die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte im Wald von Bikernieki durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zu unterstützen und daraus ein „Band der Erinnerung“ zu entwickeln.[7] Inzwischen gehören mehr als 50 Städte zum Riga-Komitee, einem in dieser Art einmaligen Netzwerk. Alljährlich führt der Volksbund in Riga Workcamps für Jugendliche durch, die sich immer auch um die Pflege der Gedenkstätte Bikernieki kümmern. Dutzende Reisegruppen besuchten inzwischen die Orte des Nazi-Terrors in Riga, darunter auch mehrere von Pax Christi.

Tausende deutsche Bürgerinnen und Bürger begegneten Alexander Bergmann in Riga – und bei Vortragsveranstaltungen in Deutschland, in der Münsteraner Villa ten Hompel zuletzt am 28. Januar 2009 bei einer Lesung aus seinen Erinnerungen. Mit seiner nüchternen und klaren Ausdrucksweise brachte er den Horror der Ghetto- und KZ-Jahre ganz besonders nahe. Menschen und Situationen nahm er sehr genau und differenziert wahr. Er sah immer und vor allem den individuellen Menschen, nicht die Nationalität, die Gruppe, die Uniform. Sein Urteil war geprägt von tiefem Gerechtigkeitsempfinden und Einfühlungsvermögen. Pauschalwahrnehmungen, Vorurteile und Kollektivvorwürfe waren ihm fremd. In deutscher Besatzungszeit wurde ihm von Deutschen in deutschem Namen Allerschlimmstes zugefügt. Von einem Generalverdacht gegenüber „den“ Deutschen war bei ihm trotz alledem nie was zu spüren. Auf vier Jahre brutalen Hass reagierte er nicht mit Kollektivhass. Typisch war seine Äußerung über einen seiner deutschen Unterstützer: „Ich hasse die Deutschen nicht. Also war ich nicht überrascht, so einen wie ihn in Deutschland zu finden. Ich war sehr froh, ihm zu begegnen, und ich brauchte ihn.“ Er praktizierte und lebte Verständigung, bewies die Möglichkeit von Versöhnung.

Alexander Bergmann war ein eindringlicher Zeitzeuge und authentischer Botschafter wider das Vergessen und die Unmenschlichkeit. Nicht zuletzt Besuchergruppen aus Städten des Riga-Komitees – unter ihnen viele Jüngere - werden die Begegnung mit diesem klugen, großartigen und humorvollen MENSCHEN nicht vergessen.

Filminterview mit A. Bergmann am 31. August 2012

Im Rahmen der Dreharbeiten für den Dokumentarfilm „Wir haben es doch erlebt – Das Ghetto von Riga[8] von Jürgen Hobrecht begleitete ich den lettischen Kameramann Sascha Grebnevs mit seinem Tontechniker um 16.00 Uhr in Sascha Bergmanns Wohnung zu einem Interview mit J. Hobrecht per Skype. Am Vormittag hatten wir 20 Jugendliche des Volksbund-Workcamps zum Rangierbahnhof Skirotava, ins ehemalige Ghetto, nach Rumbula und Salaspils begleitet.

Nach eineinhalb Stunden wird die Skype-Verbindung schlechter. Ich muss das Interview übernehmen.

Sascha spricht ruhig, konzentriert, auch mal mit Pausen, immer den roten Faden haltend und bei den Fragen bleibend. Trotz unserer vielen Begegnungen erfahre ich vieles, was mir neu erscheint. Ganz nüchtern sagt er, warum er wohl überlebt habe: Erstes Gebot sei gewesen, nicht aufzufallen. Dann die jeweiligen Haftbedingungen, Konstitution, Glück.

Zugleich bin ich mir bewusst, dass es vielleicht das letzte so umfassende Interview mit ihm ist.

Nach vier (!) Stunden verlassen wir ihn. Sascha ist selbst überrascht, dass er es durchgehalten hat.

Sein 90. Geburtstag am 30. Mai 2015

Ende Mai 2015 durfte ich an der Geburtstagsfeier für Sascha Bergmann in Riga teilnehmen. Ein vielfaches freudiges Wiedersehen. Ich übergab Sascha eine von Angela gestaltete Fotokarte mit acht Motiven: (1) Er 1945 und 1995: „Alexander Bergmann ein großartiger Mensch“; (2) 1993 am Gedenkort Synagoge Gogolstr, und in der Skolas iela: „Unsere 1. Begegnung 1993“; (3) 1996 beim AJC in Washington, 26. Januar 1996 Bonner Wasserwerk: „DER Botschafter der Ghetto-Überlebenden“; (4) In der Skolas iela: „Leidensgenossen, Kameraden, Freunde“; (5) Im ehemaligen Ghetto und in Rumbula mit Pfr. Enders: „Der Zeitzeuge“; (6) 2001 mit Heike, Roman u.a.: „Die Präsidenten“; (7) Mit Hanna + Wolf Middelmann, Margot Zmarzlik: „Bürgerinitiativen“; (8) „Wir Jüngeren danken Dir aus vollem Herzen“.

Gabriela Parasch moderierte die Feier. (Sie und ihre Mutter hatten wir 1993 kennen gelernt. Die einjährige Gabriela war wenige Tage vor den Massenerschießungen am 30. November 1941 in einem Rucksack aus dem Ghetto geschmuggelt worden.)

In ihrem Rundbrief Nr. 43 an die Spender für die überlebenden Juden in den baltischen Staaten“ vom Juli 2015 berichteten Hanna und Wolf Middelmann:

„In das russische Lokal SLAVA hatte er alle 25 verbliebenen Mitglieder des Vereins (von ursprünglich 140) mit Ehepartnern eingeladen: insgesamt waren wir 72 Gäste (…).

A.B. litt seit längerer Zeit unter einer recht instabilen, wechselvollen Gesundheit. Daher war er sich nicht sicher, ob er diese Jubiläumsfeier ohne Beeinträchtigungen, ja ob er sie überhaupt erleben und durchstehen könnte. Gottseidank lief alles erfreulich, wie es nicht besser hätte sein können. Er hielt, eingerahmt von seinen beiden Kindern, die aus USA zu Besiuch gekommen waren, eine lange Rede in seiner russischen Muttersprache. Es wurden viele bewegten Dankesreden an ihn gerichtet. Dadurch spürbar bewegt, schwang sich A.B. zu einer weiteren längeren Ansprache auf. Darin bedankte er sich vor allem bei den Helfern und Unterstützern in Lettland, den USA und in Deutschland.

Uns freute besonders, dass sich unter den Gästen ein gutes Dutzend Besucher aus Deutschland befand. Wir alle hatten über etliche Jahre Anstrengungen zur Unterstützung der Überlebenden unternommen. Geldspenden, Kleidung, medizinische Geräte für das Jüdische Krankenhaus, Telefonate, Briefe, Besuche. Wir wussten nur zu deutlich, was Deutschland bzw. wir hier Aktiven den wenigen Überlebenden schuldig waren.

Nach knapp vier Feier-Stunden mit vielen Ansprachen und intensivem Austausch unter den Gästen meinte der erschöpfte, aber glückliche A.B.: „Das war schön wie ein richtiges Familienfest!“

Der 92-jährige Überlebende Israel Hurin kokettierte am Rande des Festes mit seinem Alter: „Ich will unbedingt 100 Jahre alt werden. Ich beginne demnächst mit der Ausarbeitung des Einladungs-Textes für die Feier meines 100. Geburtstages.

Im Rundbrief Nr. 44 vom Dezember heißt es, Sascha habe in jüngster Zeit mehrfach geäußert, „er fühle deutlich, dass sein Leben bald zuende gehe. Aber er sei ganz ruhig und habe vor dem Sterben keine Angst.“

Ein Bergmann-Brief, z.B. vom 9.08.1995

Lieber Herr Nachtwei!

Eigentlich ist es eine Schande, dass ich nur dann Ihnen schreibe, wenn wir von Ihnen etwas nötig haben, oder wenn ich mich bedanke soll – dieses Mal für die Lions-Club Spende (5.000 DM aus Dülmen, Anm. W.N.).

Der erste Gedanke, wenn mich Gewissensbisse plagen – Mensch suche mildernde Umstände (nichts zu machen, professionelle Gewohnheit eines Strafverteidigers).

Dieses Mal berufe ich mich auf mein Alter – ich kann einfach nicht mehr alles so bewältigen wie vor 20 Jahren. Die Korrespondenz, die ich erhalte, drückt auf mich so, dass mir manches mal alles aus den Händen fällt und ich bin überhaupt nicht fähig zu schreiben. Ich verstehe, dass Ihre Korrespondenz viel größer und komplizierter ist, aber seit ich 70 Jahre alt bin ist kein Vergleich mehr möglich, ich bin außer Konkurrenz.

Also nolens volens, Sie müssen mich entschuldigen.

Meine Entschuldigung und einen herzlichen Gruß übergeben Sie bitte an Iris Gause (meine damalige Mitarbeiterin im MdB-Büro, W.N.). Ich bin ihr einen Dank und Brief schuldig für die Unterlagen, die sie mir Anfang Frühling geschickt hat. Sie haben mir bei meinen Besprechungen in New York, in der Claims Conf. Sehr genützt. Sie bekommt sicherlich einen Brief von mir, bevor sie selbst zum MDB avanciert. (…)

Über den Stand in Sachen „Entschädigung“ bin ich informiert (…) Mittlerweile sterben die Leute. Vorige Woche haben wir wieder einen beerdigt. Jetzt sind wir 96 im Verein.

Auch ich halte die Reportage von Frau Schlötzer-Scotland in der SZ (vom 5.7.1995) für sehr gut. Eigentlich ist die Reportage das Beste, was in letzter Zeit erschienen ist.

Am 25. August kommt eine Fernsehgruppe des ZDF, um einen 15 Min. Film zu drehen. Ich hoffe da alles, was sich auf dem Herzen angesammelt hat, auszusagen. Wenn man das alles, was wir tun, „Druck“ nennen kann, dann „drücken“ wir auch weiter.

Lieber Herr Nachtwei! Sie sollen nicht das Maß meines freundschaftlichen Gefühls Ihnen gegenüber mit der Zahl meine Briefe teilen, und wenn doch, dann multiplizieren Sie bitte mit meinem Alter (mal70)! Das Ergebnis ist sehr hoch. Alles Gute Ihnen. Ihr Bergmann“

Sascha lebt weiter

Wer ihn kennen lernte, mehr mit ihm zu tun hatte, wird ihn nicht vergessen. Er hinterlässt – unausgesprochen – ein Vermächtnis: Von Stürmen der Unmenschlichkeit hat er sich nicht brechen und biegen lassen, ist Mensch geblieben, hat sich menschlich bewährt. Und das mit Witz und Humor.

Auch wenn ich nicht daran glaube, so wünsche ich es ihm umso mehr: Dass er jetzt seine gestorbene Frau, seine ermordeten Eltern und Verwandten endlich wieder umarmen kann.

Münster, 17. Januar 2016

Winfried Nachtwei

(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )



[1] Winfried Nachtwei: Vor zwanzig Jahren: Erste Erinnerungsreise nach Riga, Beginn der Solidarität mit Holocaust-Überlebenden im Baltikum, Reisenotizen und Bericht 1993, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1221

[2] Hanna und Wolf Middelmann reisten bisher über 40 Mal ins Baltikum.

[3] Mitglieder des Freundeskreises in Berlin ermöglichten den Film „Die Präsidenten“ über Alexander Bergmann und Steven Springfield, die Vorsitzenden des Vereins der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands/Riga und der Jewish Survivors of Latvia/New York, Regie Heike Gläser, Berlin 2001. Hermann Kuhn warb für die Unterstützung des Museums „Juden in Lettland“ und sorgte dafür, dass der historische Wegweiser „Juden in Riga – Auf den Spuren des Lebens und Wirkens einer ermordeten Minderheit“ 1995 auf Deutsch erscheinen konnte (Edition Temmen). Der Autor initiierte die Spendensammlung „Ghetto-Mahnmal Riga“, die 10.200 DM für die Aufstellung eines Gedenksteins auf dem Alten Jüdischen Friedhof im Sommer 1994 erbrachte.

[5] Gemeinsamer Antrag von SPD und Grünen vom 29.1.1997, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/068/1306844.pdf , Bundestagsdebatte http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13154.pdf#P.13881 ;Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Opfer des Nationalsozialismus in Mittel- und Osteuropa und die Politik der Bundesregierung“ von Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache 13/8454 vom 4.9.1997, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/084/1308454.pdf

[6] Die Bonner Veranstaltung „Die Überlebenden nicht vergessen“ unter der Schirmherrschaft von Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Bundestages, wurde von Lothar Evers vom Bundesverband moderiert. Der andere Redner neben Bergmann war Prof. Jan Karski, im Krieg Kundschafter und Kurier des polnischen Widerstandes. Seine minutiösen Berichte aus dem Warschauer Ghetto und dem KZ Izbica wurden von der britischen und US-Regierung angehört – und politisch ignoriert. Unbeantwortet. Seine „Story of a Secret State“ wurde 1944 in den USA zu einem Sensationserfolg. In Deutschland erschien „Mein Bericht an die Welt“ erstmalig 2011!  Alexander Bergmann, Die vergessenen Juden von Riga- Zur Situation der baltischen Holocaust-Überlebenden, Rede zum  Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 1997 in der Jerusalem Kirche Hamburg, hrsg. vom Hilfsfonds „Jüdische Sozialstation“ e.V., Freiburg (http://www.anstageslicht.de/fileadmin/user_upload/970127-Rede-Bergmann.pdf )

[7] W. Nachtwei, Verschollen, aber nicht vergessen: Die Erinnerung an das Ghetto Riga, die Deportationen und das Deutsche Riga-Komitee, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1267 ; Näheres über das Riga-Komitee: http://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee.html


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

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