Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen gab es für die Bundesrepublik eine neuartige außenpolitische Konstellation. Wir haben es mit mindestens drei Großkrisen gleichzeitig zu tun, in denen wir jeweils stark engagiert sind - Afghanistan, Kongo und nun Libanon -, bei denen das Risiko hoch ist und es auf der Kippe steht bzw. eine Eskalation schon stattgefunden hat. Dabei entsteht eindeutig der Eindruck von Überforderung, und zwar zum einen aufseiten der Öffentlichkeit, die langsam nicht mehr nachvollziehen kann, wo überall wir uns engagieren, und zum anderen aufseiten der Politik. Damit meine ich nicht die politischen Fähigkeiten, sondern die politischen Kapazitäten. In dieser Situation müssen wir sehr aufpassen, dass wir bei aller Konzentration auf den Libanon auf keinen Fall die brenzligen Situationen in Afghanistan, im Kongo und möglicherweise im Kosovo übersehen und vernachlässigen.
Sie gestatten, dass ich jetzt, auch wenn wir uns in der Haushaltsdebatte befinden - hier geht es darum, wofür und in welchem Kontext das Geld ausgegeben wird -, etwas zu dem Brennpunkt Afghanistan sage, weil es nämlich dort brennt und weil die, so finde ich, brenzlige Situation, die sich seit einiger Zeit anbahnte, während der Sommerpause kaum beachtet wurde. Seit 2001 wurde in Afghanistan - das sage ich ausdrücklich - sehr viel Positives und Erstaunliches geschaffen, wenn man das mit der Zeit davor vergleicht. Dazu haben deutsche Diplomaten, Soldaten, Entwicklungshelfer und Polizisten vorbildlich beigetragen.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)
Mir ist bewusst, dass die Entwicklung in Afghanistan meist selektiv wahrgenommen wird. Es werden vor allem die spektakulären Bad News wahrgenommen, aber nicht das, was sich langfristig und hinter den Kulissen tut. Wer nimmt zum Beispiel die 7 Millionen Schülerinnen und Schüler wahr, die es inzwischen gibt? Das ist enorm hoffnungsvoll, aber nicht so bilderträchtig.
Trotzdem sind die Indikatoren inzwischen unübersehbar: Der Stabilisierungsprozess in Afghanistan steht auf der Kippe. Er droht innerhalb kurzer Zeit zu scheitern. Seit der ISAF-Ausweitung nach Süden befinden sich NATO-Truppen in Bodenkämpfen. Es ist überraschend, dass das heute noch nicht erwähnt - da möglicherweise nicht wahrgenommen - wurde. NATO-Truppen befinden sich zum ersten Mal in der NATO-Geschichte in Bodenkämpfen. Zum Drogenanbau gibt es inzwischen die neuesten Zahlen. Die Drogenanbaufläche ist in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr um 59 Prozent gestiegen. Das ist ein Desaster in dem Schlüsselbereich der Stabilisierung in Afghanistan.
Was sind die Mindestschritte? Erstens brauchen wir eine wirklich nüchterne, schonungslose Zwischenbilanz dessen, was in den letzten fünf Jahren geschaffen wurde, eine Bilanz der Leistungen, aber auch der Defizite. Wir brauchen an sich gar nicht so viele Konzepte. „Afghanistan Compact" zum Beispiel gibt es, mit ehrgeizigen Zielen. Was notwendig ist, ist die Überprüfung der Strategie am Boden. Die Umsetzung ist das Entscheidende.
Zweitens. Die Drogenbekämpfung ist mit ihrem Ansatz eindeutig gescheitert. Es kommt darauf an, jetzt die bisher prioritäre Feldervernichtung auszusetzen und alles für die Entwicklung und Förderung alternativer Erwerbsquellen zu tun. Man muss die Entwicklungshilfe entsprechend breiter unterstützen. Die GTZ hat da fantastische Erfahrungen.
Drittens. Wenn man vor Ort gewesen ist, dann weiß man, was in der Entwicklungspolitik insgesamt schon Gutes geleistet worden ist. Vieles ist aber noch zu wenig sichtbar, zum Beispiel in den Paschtunengebieten. Da müssen die internationale Gemeinschaft und wir bereit sein, der Entwicklungszusammenarbeit mehr Mittel an die Hand zu geben, um breiter angelegt und sichtbarer für die Bevölkerung zu sein.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Viertens. Der Polizeiaufbau ist bekanntlich von strategischer Bedeutung. Die Bundesrepublik leistet in ihrer Führungsrolle sehr viel Gutes. Aber die quantitativen und qualitativen Herausforderungen sind hier so riesig, dass wir nicht mehr mit 40 Beamten auskommen. Hier müssen wir schlichtweg aufstocken. Es geht nicht um große Beträge, aber die wenigen Millionen Euro sind das Geld wert.
Schließlich wird all das, was ich gerade genannt habe - die Aufzählung ist nicht vollzählig -, nur ein Kampf gegen Windmühlenflügel sein, wenn die direkte Terrorbekämpfung im Süden und Osten nicht überprüft und nicht korrigiert wird. Bisher - die Meldungen sind ziemlich eindeutig - scheint sie mehr zur Aufstandsförderung beigetragen zu haben. Das ist von deutscher Seite aus - das muss man nüchtern sagen - schwierig zu thematisieren, muss aber unter Verbündeten auf den Tisch. Sie wissen: Ich neige nicht zu Alarmismus, aber wenn in den kommenden Monaten nicht zentrale Korrekturen und neue Anstrengungen unternommen werden, dann kann es im nächsten Jahr zu spät sein, und das darf es nicht.
Danke schön.
(Beifall beim BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: