Helmand ist d i e Hochburg des Schlafmohnanbaus in Afghanistan und seit 2006 Schlachtfeld eines Guerilla-, Terror- und Aufstandsbekämpfungskrieges mit extremen Opferzahlen. Hier protestieren mutige Menschen für einen zweitägigen Waffenstillstand, für ein Ende der Kriegsgewalt - und bekommen Unterstützung aus anderen Provinzen.
Sit-ins, Peace Camps und Konvois:
Mutige Friedensproteste in mehreren afghanischen Provinzen
Winfried Nachtwei (April 2018)
Es geschah kurz nach dem afghanischen Neujahrsfest am 23. März in Lashkar Gah in der Südprovinz Helmand: Am Eingang des Stadions, in dem ein Ringkampf stattfand, explodierte eine Autobombe, der Selbstmordattentäter tötete 15 Menschen und verletzte 51, alles Zivilisten. Zwei Tage vorher hatte in Kabul ein Selbstmordattentäter in Nähe des schiitischen Sakhi-Schreins 31 Menschen getötet und 65 verletzt, inmitten einer Menschenmenge, wo viele Jüngere tanzten, sangen und feierten.
Wenige Tage nach dem Helmand-Anschlag versammelten sich in der Provinzhauptstadt Hunderte zum Protest gegen die Gewalt aller Seiten, es entstand ein Sit-in-Camp. Taliban und Regierungskräfte wurden zu einem zweitägigen Waffenstillstand aufgerufen. Frauen schlossen sich mit einem eigenen Camp dem Protest an. (ein Video vom 9. April in Laskhar Gah unter https://www.youtube.com/watch?v=qnQj4MmytaU ) Dreißig Demonstranten traten in einen Hungerstreik. Inzwischen soll es ein Gespräch mit örtlichen Talibangruppen gegeben haben.
An drei weiteren Orten der Provinz Helmand und in den Provinzen Kandahar, Paktia, Nangarhar, Kunduz, Balkh, Farah, Herat sollen weitere Peace Camps entstanden sein. In Herat und Bamyan gab es Solidaritätsdemonstrationen.
( https://www.voanews.com/a/grassroots-peace-movement-spreads-afghanistan/4337421.html , https://www.tolonews.com/afghanistan/kandahar-activists-call-support-ulema )
Thomas Ruttig am 30. März:
Ostermarsch auf afghanisch: eine Friedensbewegung aus Helmand?
„(…) Konkret schlugen drei Tage später, am 26.3., örtliche Jugend- und Zivilgesellschaftsaktivisten vor dem Stadium ein Protestzelt auf und veranstalteten einen Autokorso in der Stadt, den sie Friedenskonvoi nannten. Hunderte sollen sich beteiligt haben. Die Teilnehmer sagten laut einem afghanischen Medienbericht, sie hätten genug vom Blutvergießen und wollten Frieden. Ein Teilnehmer, Qais Haschemi (nach anderen Berichten Qais Asami) wurde mit den Worten zitiert, Menschen würden „in den Basaren, Moscheen und Wohnhäusern und selbst auf Beerdigungen getötet. Ein anderer, Muhammad Daud sagte, er wollen, dass Regierung und Taleban „sich zusammensetzen und Frieden machen“ sollen. Die Aktivisten sagten, sie seien bereit, mit den Taleban zu sprechen und diese einzuladen, bei einem Friedensprozess mitzumachen.
Iqbal Khaibar, ein weiterer Organisator, sagte der New York Times, es sei das „alleinige Ziel des Sit-in, den Kampf auf beiden Seiten zu stoppen. Die Taleban sollen keine Attentäter schicken und die Regierung soll keine Bomben auf sie abwerfen.“ Man wolle nach Musa Qala ziehen, ein Distriktzentrum in Helmand, das eine Art Hauptstadt der Taleban in diesem Gebiet darstellt. Safiullah Sarwar, ebenfalls einer der Organisatoren, sagte, man habe ermutigende Botschaften von lokalen Talebanführern erhalten, die die Initiative willkommen hießen. Man wolle den Frieden nicht von Pakistan oder den USA erbitten, „sondern unsere Stimme zu unseren [afghanischen Brüdern] erheben.“
Reuters zitierte Haschemi, dass es sich bei dem Protest um eine „reine Volksbewegung“ handele, und keine Regierungsvertreter und Politiker beteiligt seien – was die weit verbreitete Furcht vor Vereinnahmung widerspiegelt, die es nach mehreren früheren Anschlägen bei Mobilisierungsversuchen gegeben hatte (siehe z.B. hier 2012; hier 2015 und hier in Solidarität mit den Opfern der Pariser Anschläge im gleichen Jahr).
Noch ungewöhnlicher: Am darauffolgenden Tag schlossen sich „Dutzende Frauen“ dem Protest an, ortsüblich in voller Verschleierung und in einem gesonderten Protestzelt (Bericht hier). Viele wie Khial Bibi hätten Verwandte bei den Kämpfen in der Provinz verloren, sie selbst fünf Kinder und ihren Ehemann, berichtete Gandhara, der afghanische Ableger von Radio Free Europe/Radio Liberty. Afghanistan sei „voller Witwen und Waisen“ sagte die Teilnehmering Bibi Nurian laut Tolonews.
„Wir leiden unter der Gewalt und dem Krieg“, sagte Frauenaktivistin Hassina Ehsas. „Wir haben unsere Verwandten verloren, und stehen in dieser Bewegung an der Seite unserer Brüder.“ Shasia, eine andere Aktivistin sagte: „Wir wollen Frieden in unserer Provinz und in unserem Land. Jetzt ersuchen wir euch [die Taleban], euch dem Frieden anzuschließen.“ „Hört auf, uns zu Witwen zu machen und uns über den Tod unserer Kinder zum Weinen zu bringen“, so Wak Anara. „Dieser Krieg ist nicht unser Krieg, er geht von anderen Ländern aus“, wiederholte Zarghuna, eine weitere Teilnehmerin, eine weit verbreitete Ansicht.
Die Frauen kündigten an, die Taleban im Nachbardistrikt Nadali aufsuchen und ihnen eine Friedensbotschaft überbringen zu wollen.
Hier auch ein Video von ToloNews, in dem man einige der OrganisatorInnen sehen und hören kann.
Unterstützung kam inzwischen auch von politischen Aktivisten und vom (von der Karsai-Familie dominierten) Provinzrat im benachbarten Kandahar.
Die Taleban reagierten wie folgt (hier ihr Originalstatement in Pashto; Bericht auf Englisch hier): Sprecher Qari Jusuf Ahmadi sagte, man heiße die Friedensbemühungen willkommen, aber „jene, die Frieden wünschen, sollten zuerst zum Flughafen Kandahar und zur Schorab-Basis gehen [zwei US-Stützpunkten] und die Amerikaner zum Frieden überzeugen, denn die Schlüssel für den afghanischen Krieg liegen bei den USA. (…) Es ist klar wie das Sonnenlicht, dass die amerikanischen Aggressoren den Afghanen den Frieden genommen haben. (…) Das Islamische Emirat ist ernsthaft besorgt, dass feindliche Kreise euren Namen missbrauchen wird.“ Man stehe schließlich im Krieg, sei dazu aber gezwungen worden. Die Aktivisten sollten sich nicht von „Geheimdiensten“ ausnutzen lassen, und jeder „Zwischenfall“ wäre die Verantwortung der Organisatoren. „Neutrale Friedensbemühungen“ seien aber zu begrüßen. Entgegenkommen oder eine Garantie hört sich anders an.
Statt Marsch jetzt Hungerstreik
Für den geplanten Marsch wurde gestern (am 29.3.) versucht, Garantien von der Regierung zu bekommen. Haschemi sagte laut Gandhara: „Zuerst wollen wir die Regierung dazu bringen, einer [zeitweiligen] Feuereinstellung zuzustimmen und laufende und geplante Offensiven gegen die Aufständischen zu suspendieren.“ Khaibar sagte, die Provinzregierung habe eine Antwort bis zum Mittag zugesagt, dann auf 15 Uhr Ortszeit verschoben – und schließlich erklärt, man müsse zuerst den Nationalen Sicherheitsrat in Kabul konsultieren.
Aber die Protestierenden warteten bis zum Nachmittag vergebens. Deshalb beschlossen sie schließlich, in den Hungerstreik zu treten, so Sajed Gul Sarhadi, ein Journalist aus Helmand, zu AAN. Der solle so lange dauern, bis beide Seiten mindestens zwei Tagen Waffenruhe zugestimmt hätten. (Inzwischen reagierten sie auch auf die Einlassungen der Taleban und kündigten an, sie wollten auch zur US-Basis in Schorab ziehen.) Keine der beiden Kriegsparteien hätte reagiert, so habe man keine andere Wahl gehabt (Bericht hier).
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: