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Lernfähigkeit im Nebel? Zum sicherheitspolitischen Kurswechsel der Kanzlerin - ZEIT-Leserbrief und Kommentar

Veröffentlicht von: Nachtwei am 6. August 2012 19:00:28 +01:00 (75333 Aufrufe)

In der ZEIT vom 19. Juli 2012 schildert Matthias Geis den Wandel der Bundeskanzlerin von der Irakkriegsbefürworterin 2003 zur heutigen "Anti-Interventionistin" - ein friedens- und sicherheitspolitischer Lernprozess? Ich habe massive Zweifel und äußerte sie in einem Leserbrief, den die ZEIT am 2. August bis auf den letzten Absatz veröffentlichte und den ich hier mit einem Kommentar ergänze.

Lernfähigkeit im Nebel? Zum sicherheitspolitischen Kurswechsel der Kanzlerin

Leserbrief zu Matthias Geis: „Stillgestanden!" in der ZEIT vom 19.07.2012 und Kommentar (www.zeit.de/2012/30/Merkel-Syrien-Intervention (redaktionelle Kürzungen in Klammern)

„Matthias Geis beobachtet bei der Kanzlerin eine 180°-Wende zu einer antiinterventionistischen Haltung. Das spräche für Lernfähigkeit. Zugleich bleibt Wichtiges offen: Schließt das Lernen das Eingeständnis ein, dass bei Afghanistan politisches Führungsversagen wesentlich zum Kippen des Einsatzes beitrug? Bedeutet das, UN-geführte Friedensmissionen und damit internationale Verantwortung weiter so zu vernachlässigen wie bisher? Heißt das Absage an die responsibility to protect, die von der (vorrangigen) Prävention bis zur Intervention (im äußersten Fall) reichen kann? Wird damit der erweiterte Bundeswehrauftrag, zu internationaler Krisenbewältigung beizutragen, Makulatur? Ist die Konsequenz die überfällige Stärkung von ziviler Krisenprävention?

Das alles wäre dringend und breit zu diskutieren und zu klären, angefangen bei einer systematischen Bilanzierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Drei Bundesregierungen haben ein solches offenes Lernen verweigert.

(Wäre der Kurswechsel der Kanzlerin nicht nur eine journalistische Interpretation, sondern Tatsache, dann würde seine heimliche Art auf eine gigantische Irreführung hinauslaufen - des Parlaments, der Öffentlichkeit, der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Für Staatsbürger in Uniform wäre das unzumutbar.)"

Bekräftigung

Am 30.07. bestätigte und verschärfte der SPIEGEL (31/2012) die Einschätzung des ZEIT-Autors unter der Überschrift „Panzer statt Soldaten": Schrittweise verschiebe „Kanzlerin Merkel die Koordinaten der Außenpolitik. Militärinterventionen sollen durch Waffenexporte überflüssig gemacht werden - auch in Krisenregionen."

Mein ergänzender Kommentar

Der festgestellte sicherheitspolitische Kurswechsel der Kanzlerin wird von der Regierung bei nächsten parlamentarischen Fragen selbstverständlich bestritten und als oppositionelles Hirngespenst abgetan werden.

Mir erscheint die Analyse von M. Geis, der durch Hintergrundgespräche über tiefere Einblicke in die Bundesregierung verfügt, sehr glaubwürdig. Ein heimlicher Kurswechsel der Kanzlerin in der Sicherheitspolitik bedeutet einen wichtigen Fortschritt - und zwei große Rückschritte:

- Ernüchterung: Eine Absage an einen Regime-Change-Interventionismus a la Irak und generell eine Abkehr von einer interventionistischen Selbstüberschätzung wäre ein zentraler Lernfortschritt, der zu begrüßen ist. Fakt bleibt: Mit einer Kanzlerin Merkel 2003 wäre Deutschland im Irakkrieg gelandet. (vgl. mein Beitrag von 2005 „Merkels Flucht aus der Verantwortung - Die Spurenverwischer der Union", www.nachtwei.de/index.php/articles/292 )

- Missachtung von UN-Peacekeeping und Schutzverantwortung: Darüber hinaus betreibt die Kanzlerin aber offenbar den Rückzug Deutschlands aus Einsätzen internationaler Krisenbewältigung und Friedenssicherung. Die Bundesrepublik vernachlässigt UN-geführte Peacekeepingmissionen (zzt. 49. Stelle der Truppensteller) und hält sich auch bei der besonders wachsenden Polizeikomponente sehr zurück. Die seit Libyen wieder verstärkt thematisierte internationale Schutzverantwortung angesichts schlimmster Massenverbrechen wird kaum operationalisiert und lieber beschwiegen. Erfahrungen und Lehren der UNO-Welt der letzten 20 Jahre (und der europäisch-deutschen z.B. auf dem Balkan) werden beiseite geschoben.

- Enthemmung bei Rüstungsexporten: Wenn jetzt „ersatzweise" zunehmend auf eine angeblich stabilisierende Wirkung von Waffenexporten in Krisenregionen gesetzt wird, ist das sicherheits- und friedenspolitisch kurzsichtig, geschichtsvergessen und zynisch - als hätte es in den letzten Jahrzehnten nicht am laufenden Band Rüstungsexporte in Krisenregionen gegeben, die sicherheitspolitisch nach hinten losgingen - Libyen, Irak und etliche andere. Dass auch deutsche Exporte dabei eine schlimme Rolle spielten, dürfte nicht vergessen sein.

- Fakten schaffen ohne Debatte: Das alles geschieht weitgehend unausgesprochen, intransparent, unter Vermeidung jeder Debatte. Die Wirkung auf die sicherheitspolitische Kultur in Deutschland ist zersetzend:

Die sicherheitspolitischen Grundlagendokumente und Verlautbarungen der Regierung werden damit - über ihre Strittigkeit hinaus - faktisch entwertet und völlig unglaubwürdig. Seit Jahren wird in den friedens- und sicherheitspolitischen Communities die Strategieschwäche deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik beklagt und auf mehr Strategiefähigkeit und breiteren gesellschaftlichen Diskurs gedrängt. Das „autoritäre Schweigen" (Gertrud Höhler in der FAZ 3.8.2012) der Kanzlerin wirkt wie eine Gummi- und Nebelwand, an der sich solche Forderungen verlaufen.

Die heimliche Art des Kurswechsels mag macht- und bündnisopportun sein. Mit ihrer „Feigheit vor dem Volk" verstößt sie zugleich gegen fundamentale Anforderungen an eine demokratisch legitimierte und gesellschaftlich akzeptierte Außen- und Sicherheitspolitik:

-         gegen den Grundsatz der Parlamentsarmee, wo der Bundestag die Streitkräfte nur wirksam kontrollieren und deren Einsätze nur verantwortlich beschließen kann, wenn über die gängige Rhetorik hinaus Klarheit über den strategischen Kurs besteht;

-         gegen die Innere Führung, wo Soldaten aus Überzeugung gehorchen können müssen und auf eine argumentierende und überzeugende politische Führung angewiesen sind (alles andere erniedrigt sie tendenziell zu Söldnern);

-         gegen eine handlungs- und durchhaltefähige Friedens- und Sicherheitspolitik und Wahrnehmung internationaler Verantwortung, die es ohne gesellschaftliche Akzeptanz auf Dauer nicht geben kann.

 

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Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

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Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

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