Übergabe des Berichts der unabhängigen Kommission "Einsatz des G36 in Gefechtssituationen" an Ministerin von der Leyen

Von: Nachtwei amMo, 19 Oktober 2015 14:48:07 +01:00

Nach viereinhalb Monaten intensiver Untersuchungen legten der ehemalige Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus und ich als Kommissionsvorsitzender unseren Abschlussbericht vor. Erstmalig wurde systematisch "von außen" die scharfe Seite der deutschen Auslandseinsätze durchforscht. Das Ergebnis ist eindeutig und klar - und für Teile der Öffentlichkeit überraschend. Hier eine Zusammenfassung, wie ich sie auch im Verteidigungsausschuss und vor der Presse vortrug. Mit Links zu wichtigen Presseartikeln.    



Eindeutige und klare Ergebnisse:

Übergabe des Berichts der unabhängigen Kommission „Untersuchung des Einsatzes des G36-Sturmgewehrs in Gefechtssituationen“

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (19.10.2015)

Anfang Juni begann die von Verteidigungsministerin von der Leyen berufene und von  mir geleitete Kommission mit ihrer Arbeit. Am 14. Oktober stellte ich zusammen mit Hellmut Königshaus den Abschlussbericht erst im Verteidigungsausschuss des Bundestages und dann  der Presse in einem Hintergrundgespräch vor. Danach überreichte ich der Ministerin vor der Presse unseren Bericht, zusammen mit Dr. h-c. Klaus-Peter Müller, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Commerzbank, der die Organisationsstudie G36 überreichte. (Zum Start der Kommission vgl http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1357 )

Unser Auftrag

war zu untersuchen, ob deutsche Soldaten im Zusammenhang mit Präzisionsabweichungen des G36 in Einsätzen zu Schaden gekommen oder einem erhöhten Risiko ausgesetzt worden sind.

Das Untersuchungsergebnis

war eindeutig, klar – und erleichternd: Kein deutscher Soldat ist im Zusammenhang mit Präzisionsabweichungen des G36 gefallen, verwundet worden oder einem konkreten erhöhten Risiko ausgesetzt gewesen.

Unser leitender Grundsatz

war: Soldaten sollen ihren demokratisch legitimierten Auftrag bestmöglich erfüllen können; ihre Risiken sollen dabei soweit möglich in Grenzen gehalten werden. Das gilt unabhängig vom völlig legitimen Streit um die Sinnhaftigkeit einzelner Einsätze. Dementsprechend gab es auch von keiner Fraktion im Bundestag irgendeinen Widerspruch gegen den Auftrag der Kommission. Mit uneingeschränktem Akteneinsichts- und Befragungsrecht verfolgten wir den Untersuchungsauftrag in voller Unabhängigkeit und ohne politische Rücksichtnahme.

Die Kommission

bestand aus dem ehemaligen Wehrbeaufragten des Bundestages Hellmut Königshaus und mir als Vorsitzendem. Als militärische Berater beigestellt waren uns Generalmajor Johann Langenegger, Kommandeur der 1. Panzerdivision, und Oberstleutnant i.G. Lutz Kuhn. Unterstützt wurden wir von einem siebenköpfigen Sekretariat mit zwei einsatzerfahrenen Referenten unter Leitung von Oberst i.G. Oliver Kohl.

Die Methode

Durchforscht wurden alle ca. 150 Sachverhaltsfeststellungen nach Gefechten und weitere Gefechtsberichte der Bundeswehr, die Datenbank des Informationssystems Einsatzerfahrungen der Bundeswehr, alle über 150 Feldjägerberichte (wenn deutsche Soldaten zu Schaden gekommen sind oder deutsche Soldaten anderen Personen geschädigt haben), Jahresberichte übe besondere Vorkommnisse und Mängel mit bzw. an Waffen und Munition, das Meldeaufkommen der Zentralen Ansprechstelle G36 im BMVg, Erkenntnisse anderer Nutzerstaaten (incl. Peschmerga im Nordirak) und Berichte in Medien.

Ausführliche Einweisungen in die Schieß- und Gefechtsausbildung erhielt die Kommission am Ausbildungszentrum Infanterie in Hammelburg und beim Kommando Spezialkräfte in Calw.

Im Zentrum der Untersuchungen stand dann die Befragung von einsatz- und gefechtserfahrenen Soldaten. Über 500 Soldatinnen und Soldaten wurden identifiziert, über 150 wurden befragt (an ihren Standorten Bad Reichenhall, Calw, Seedorf, Zweibrücken, Hamburg und in Berlin), 350 weitere angeschrieben. Etliche antworteten schriftlich. Die Soldaten aller Dienstgradgruppen berichteten aus allen größeren Einsätzen, der Schwerpunkt lag beim Afghanistaneinsatz der Jahre 2009-2012. Viele waren mehrfach in Afghanistan im Einsatz, etliche hatten 15, 20 Gefechte durchgemacht. Die Soldaten waren in ihren freiwilligen Stellungnahmen uneingeschränkt offen. Es bestätigte sich die Erfahrung der Kommissionsmitglieder, dass Soldaten keinerlei Hemmungen haben, sich kritisch zu Ausrüstung und Bewaffnung zu äußern.

Oft betonten sie, vorher mit Kameraden über ihre G36-Erfahrungen gesprochen zu haben – und dabei zu einem einhelligen Urteil gekommen zu sein. Einzelne bedankten sich ausdrücklich, dass jetzt endlich ihre praktischen Erfahrungen gefragt waren.

Die Kommission konnte nicht auf die militärische Fachsprache verzichten, wandte sie aber möglichst allgemein verständlich an. Bewusst war dabei der Spagat zwischen formalisierter militärischer Fachsprache einerseits und der Einsatzrealität und ihrer menschlichen Dimension andererseits, wo zum Beispiel „Wirken im Ziel“ – unabhängig von der Legitimität eines Auftrags – Tod, Verwundung, Zerstörung bedeutet.

Schwerpunkt der Untersuchungen

Die Kommission verschaffte sich auch einen Überblick über Erfahrungen mit dem G36 in der Ausbildung und in Übungen. Angesichts der Tatsache, dass es beim Bosnieneinsatz maximal zu einigen wenige Warnschüssen, beim KFOR-Einsatz zu vereinzelten Schusswechseln gekommen war und aus dem Kongoeinsatz und den Marineeinsätzen keine Schusswaffeneinsätze gemeldet wurden, konzentrierten sich die Untersuchungen auf den Afghanistaneinsatz ab 2006 und insbesondere ab 2009. In Afghanistan waren Bundeswehrsoldaten insgesamt ca. 380 Mal mit gegnerischen Angriffen konfrontiert, mindestens 150 Mal kam es dabei zu Schusswechseln und Gefechten.

Feststellungen und Erkenntnisse

(1) Die in den wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellten Präzisionseinschränkungen des G36 bei schussinduzierter Erhitzung und sich ändernden Umweltbedingungen stehen nicht in Zweifel.

(2) Kein deutscher Soldat ist im Kontext von technischen Präzisionsabweichungen des G36 gefallen oder verwundet worden. Es ergaben sich auch keinerlei Hinweise auf konkrete Gefährdungen in dem Zusammenhang. Die Untersuchung der Gefechtsverläufe ergab, dass die meisten Soldaten bei gegnerischer Feuereröffnung durch IED oder RPG-Beschuss gefallen oder verwundet wurden waren, also bevor ein einziger G36-Schuss gefallen war. In solchen Fällen war also ein G36-Zusammenhang eindeutig auszuschließen. Die an Gefechten beteiligten Soldaten schlossen einen solchen Zusammenhang kategorisch auch für die anderen Gefallenen und Verwundeten aus.

(3) Durchweg verneinten die befragten Soldaten, im Gefecht Präzisionsmängel beim G36 gespürt zu haben. Die Kluft zwischen Testergebnissen einerseits und Gefechtserfahrung andererseits sind auffällig. Gründe für die unterschiedlichen Wahrnehmungswirklichkeiten sind:

- Soldaten sind geübt darin, gewisse Präzisionsabweichungen ihres Sturmgewehrs im „Haltepunktverfahren“ auszugleichen;

- Die Treffgenauigkeit hängt außer von der technischen Präzision eines Gewehres von etlichen weiteren Faktoren ab: Umweltbedingungen, Schießfertigkeit und -haltung, momentane Verfassung des Schützen (Stress), Gegnerverhalten. „Der Schütze ist kein Schraubstock.“

 Soldaten sind in ihrer ganzen Ausbildung trainiert auf (schnelle) Einzelschüsse, ausdrücklich nicht auf Feuerstöße. Zu denen sollte es nur zum „Niederhalten“ des Gegners und im Nahbereich kommen, wo es vor allem auf die Streuwirkung ankommt.

- Jenseits der Hauptkampfentfernung von 200m sind möglichst andere Waffen des sog. Waffenmix einzusetzen. Das Sturmgewehr ist kein Alleskönner, kein MG, kein Scharfschützengewehr.

- Die Befragten betonten durchweg, dass der G36-Schütze im Gefecht zu seiner verlässlichen Wirkungsbeobachtung meist nicht in der Lage ist (im Unterschied zu Scharfschützen, Artillerie und Luftwaffe). Das liegt an der guten Deckung der Gegner, ihrem Stellungswechsel, an Staub, Hitzeflimmern, am schnellen Abtransport verwundeter oder getöteter Aufständischer. Entscheidender Indikator für Wirkung ist für G36-Schützen, ob Feuer aus bestimmter Richtung eingestellt wird.

(4) Seit Jahren bekannt und immer wieder angesprochen wurden die mangelnde „Mannstoppwirkung“ und Durchschlagskraft des G36 mit seinem kleinen NATO-Kaliber 5,56mm. Das aber ist kein Mangel, sondern die „Kehrseite“ des geringeren G36-Gewichts.

(5) Das G36 wurde ab 1996 in der Bundeswehr eingeführt. Seine Nutzungsdauer wurde auf 20 Jahre angesetzt. Die Schussbelastung der einzelnen Gewehre wird nicht dokumentiert, sie ist aber mit dem neuen Schießausbildungskonzept seit 2010 enorm gestiegen. Vor diesem Hintergrund verdienen die Fragen des Verschleißes und der Regeneration besondere Beachtung.

(6) Insgesamt bewerteten die Soldaten das G36 ausnahmslos als bedienungsfreundlich, störunanfällig und verlässlich (gerade auch im internationalen Vergleich). Im Bewusstsein der Grenzen des G36 betonten sie ihr volles Vertrauen in die Waffe. Die öffentliche Darstellung des G36 als „Pannengewehr“ stieß bei den Soldaten einhellig auf großes Unverständnis.

(7) Die Untersuchungen ergaben über das Thema G36 hinaus weitere wichtige Erkenntnisse:

- zum Schusswaffeneinsatz in den Bundeswehreinsätzen insgesamt, der – außer bei Afghanistan 2006 ff. – ausgesprochen selten war und die verzerrende Darstellung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr unterschiedslos als Kriegseinsätze widerlegt;

- zu Gefechtsverläufen, die jetzt erstmalig systematisch „von außen“ untersucht wurden, und dem Gefechtsverhalten deutscher Soldaten in asymmetrischen Szenarien;

- zur Professionalität, Einsatzmotivation und –belastung, zur Besonnenheit und Rechtstreue der Bundeswehrsoldaten im Einsatz, im Gefecht.

Allerdings: Eine systematische Untersuchung der Wirkungen der deutschen Beteiligungen an internationalen Krisenengagements, insbesondere in Afghanistan, steht noch aus!

Persönlich-politische Anmerkung

Am 2. April erreichte mich völlig überraschend der Anruf von Verteidigungsministerin von der Leyen mit der Bitte, ob ich den Vorsitz der geplanten G36-Kommission übernehmen könne. Ich sagte noch am selben Tag zu. Ausschlaggebend waren für mich mehrere Aspekte:

Als Mitglied des Bundestages und des Verteidigungsausschusses war ich bis 2009 an 70 Mandatsentscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr beteiligt, davon allein 20 zu Afghanistan. Das Land besuchte ich bisher 18 Mal, zuletzt im Februar. Meine Mitverantwortung für die entsandten Soldatinnen und Soldaten (aber auch Polizisten und Entwicklungsexperten) endete nicht 2009, sondern hält bis heute an. Sie schlug sich erstens nieder im ständigen Drängen auf systematische Einsatzevaluierungen und Stärkung ziviler und präventiver Fähigkeiten. Sie schlug sich zweitens nieder im Beirat Innere Führung beim BMVg, in dem ich erst die AG „PTBS“ leitete, und ab 2014 mit Generalleutnant a.D. Rainer Glatz die AG „Einsatzrückkehrer und –folgen“. Die Untersuchung möglicher Schädigung deutscher Soldaten im Zusammenhang mit Präzisionsmängeln des G36 im Einsatz betrifft die Soldatinnen und Soldaten, ihre Auftragserfüllung und ihre Risikobelastung, die Einsatzrückkehrer und Angehörigen ganz zentral.

Weil der Afghanistaneinsatz gerade in meiner Fraktion hoch umstritten war und weil die ministeriellen Informationen ausgesprochen unzureichend waren, recherchierte und veröffentlichte ich seit 2003, verstärkt seit 2007 intensiv zur Entwicklung der Sicherheits- und Aufbaulage in Afghanistan. Ich bemühte mich um kritisch-unabhängige Lagebeurteilungen und Wirkungsorientierung.

Die Kommissionsarbeit sah ich als Herausforderung, Einblick in die schärfsten Seiten der deutschen Auslandseinsätze, insbesondere des Afghanistaneinsatzes zu bekommen und dabei mit den blutigen Konsequenzen der eigenen politischen Aufträge konfrontiert zu werden. Gerade bei hochmoralisch legitimierten Einsätzen werden diese Konsequenzen oft ausgeblendet.

Die Gespräche mit Soldaten des Karfreitagsgefechts, des komplexen Hinterhalts vom 29. April 2009 und vieler anderer Gefechte empfand ich immer wieder als ausgesprochen aufwühlend.

Den Kommissionsmitgliedern wurde erneut eindringlich deutlich, wie extrem die Anforderungen an Einsatzsoldaten in Bodenkämpfen sind. Unsere persönliche Begegnung mit der kriegerischen Einsatzrealität der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan bekräftigte unsere Grundhaltung, dass Bundesregierung und Bundestag höchst verantwortlich mit dem Einsatz von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr umgehen müssen: bei der Einsatzentscheidung, bei der Einsatzausstattung und –führung, bei der Wirkungskontrolle und insbesondere auch gegenüber den Einsatzrückkehrern und ihren Familien. Von diesen tragen etliche oft noch lange an den Einsatzfolgen, während ihre Auftraggeber längst mit anderen Aufgaben befasst sind.

Am Ende der Interviews wünschte ich den Soldaten regelmäßig für die Zukunft klare, glaubwürdige und erfüllbare Aufträge mit dem Eingeständnis, dass dies in der Vergangenheit längst nicht immer gegeben war.

Die besondere politische Sorgfaltspflicht gilt meines Erachtens genauso für den Export des G36. Dass ab Dezember 2005 immer wieder der Export von Tausenden G36 nach Mexiko genehmigt wurde und ab 2006 der von vielen Tausenden G36 nach Saudi-Arabien, war ein eklatanter Verstoß gegen diese friedens- und sicherheitspolitische Sorgfaltspflicht.

Herzlichen Dank

verdienen die uns beratenden und unterstützenden Bundeswehrangehörigen in Uniform und Zivil. Die Zusammenarbeit mit diesen einsatzerfahrenen, hoch kompetenten und geistig unabhängigen Menschen war bestens organisiert, ausgesprochen offen, produktiv und bereichernd. Diese viereinhalb Monate politisch-militärischer Zusammenarbeit waren ein besonderes Erlebnis.

Der Kommissionsbericht in den Medien

Die Medienresonanz auf die Übergabe der Berichte am 14. Oktober war flächendeckend und unübersehbar. Ausschlaggebend war, dass unsere brisante Frage eindeutig und positiv beantwortet werden konnte und dass wirklich unabhängige, sachdienliche und ganz und gar keine Gefälligkeitsgutachten vorgelegt wurden. Dass eine Verteidigungsministerin solche Aufklärung ohne Rücksicht auf eventuelle eigene Kommunikationsprobleme wagte, ist ausgesprochen selten und hoch anzurechnen. Bei vielen Kommentatoren blieb dieser Aspekt unberücksichtigt.

Hier eine kleine Auswahl der Medienresonanz:

Auf der Seite des Verteidigungsministeriums: „Berichte zum G36 an Ministerin von der Leyen übergeben“ mit Handouts zu den einzelnen Berichten: http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NYuxDsIwDET_yE5AQoItpQysLFC2tI0ioyaujFMWPp5k4E56wz0dPrE2-42iV-LsF3zgMNFp_MCYtggvLlJXSJTprUGoJLy3zxxg4hy0UUNWqozilQVWFl2aKSLVAM04GNt3xpp_7Nftnbucd8dDf-1uuKbkfksK-Jw!/ und „Bundeswehr aktuell“ Nr. 41 vom 19.10.2015

ARD-Tagesschau, Christian Thiels: https://www.tagesschau.de/inland/g36-bundeswehr-109.html

Ruhr-Nachrichten 15.10.2015: Interview von Andreas Herholz:

http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/vermischtes/aktuelles_berichte/Interview-mit-Winfried-Nachtwei-G36-Kein-Soldat-wurde-durch-Praezisionsabweichung-getoetet;art29854,2844644

Tagesspiegel, Robert Birnbaum: http://www.tagesspiegel.de/politik/bericht-ueber-g36-gewehr-zuverlaessig-statt-ungenau/12451946.html

Bonner Generalanzeiger: http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/national/soldaten-sehen-keine-probleme-bei-der-waffe-article1743137.html