Zum "Afghanistan-Konzept" der Bundesregierung: Geduld allein reicht nicht!

Von: Webmaster amFr, 14 September 2007 14:51:26 +01:00

Das neue Afghanistankonzept der Bundesregierung bewertet Winfried Nachtwei wie folgt::



Zum „Afghanistan-Konzept" der Bundesregierung: Geduld allein reicht nicht!

Winni Nachtwei, MdB

Am 5. September beschloss das Bundeskabinett das überarbeitete „Afghanistan-Konzept" der Bundesregierung sowie die Antwort auf die Große Anfrage der Grünen „Zum Wiederaufbau und der Lage in Afghanistan" vom 31. Januar. Zeitgleich veröffentlichte das Bundespresseamt die Broschüre „Frieden in Afghanistan - Sicherheit für uns". Auch im Internet wird die Afghanistan-Politik der Bundesregierung seit einigen Wochen umfassend und von den beteiligten Ressorts präsentiert.

Die Bundesregierung verbessert damit wohl die öffentliche Darstellung ihrer Afghanistan-Politik. Die Einsicht in den Ernst der Lage in Afghanistan ist teilweise, die Bereitschaft zu einem Strategiewechsel und einer neuen Anstrengung ist nicht erkennbar.

 

(1) Fortschritte: Nach Jahren einer ressortorientierten und überwiegend mit trockenen Bundestagsdrucksachen arbeitenden Informationspolitik ist jetzt das Bemühen spürbar, eine breitere Öffentlichkeit umfassend und anschaulich über das deutsche Afghanistan-Engagement zu informieren. Die unbestreitbaren Leistungen und Teilerfolge werden nicht weiter unter den Scheffel gestellt. Die Antwort auf unsere Große Anfrage ist eine Fundgrube an Informationen. Damit wird die deutsche Afghanistan-Politik zugleich besser überprüfbar. Das sind Fortschritte.

(2) Viele Anstrengungen: Hierzulande wird die öffentliche Wahrnehmung von Afghanistan dominiert von Gewaltereignissen und Militärfragen. Richtigerweise betont die jetzige Regierung wie ihre Vorgängerin demgegenüber den wechselseitigen Zusammenhang von Sicherheit und Aufbau, den Primat des politischen Prozesses, die Breite der Aufbau- und Entwicklungsbemühungen und unterstützende Rolle der militärischen Absicherung. Gerade in Kenntnis vieler Projekte in Afghanistan beeindruckt mich immer wieder die Breite der verschiedenen Anstrengungen. Das persönliche Engagement vieler Beteiligter verdient hohe Anerkennung. Auch ist mir bewusst, mit welchen geringen personellen Kapazitäten die MitarbeiterInnen im AA, BMZ und BMI an einem Statebuilding-Projekt mitarbeiten, wie es das in der Internationalen UN-Gemeinschaft wohl noch nicht gegeben hat.

 

(3) „Ehrliche Lageanlayse": Das AFG-Konzept beansprucht, auf der Grundlage einer „offenen und ehrlichen Lagebeschreibung und -analyse (...) Anpassungen und Weiterentwicklungen" der deutschen AFG-Politik zu benennen.

Offen und kritisch werden die Defizite und Versäumnisse auf afghanischer Seite beschrieben.

Die Bereitschaft zur ehrlichen Lageanalyse schrumpft im Hinblick auf die Internationale Gemeinschaft und verschwindet gegenüber dem deutschen Engagement. Das Konzept beschönigt die - trotz aller Teilerfolge - kritische Entwicklung in Afghanistan.

(4) Beschönigungen: Diese zeigen sich vor allem

(a) in einer Darstellung der Sicherheitslage und politisch-psychologischen Lage in Afghanistan, wo Verschlechterungen angedeutet, aber zugleich mit einem unpassenden Maßstab relativiert werden. „Die Sicherheitslage ist gebietsweise sehr schwierig, bedroht aber nicht ernsthaft die Zentralregierung." Übersehen wird dabei, dass für Aufstands- und Guerillabewegungen die Bedrohung einer Hauptstadt erst in der Schlussphase des Konflikts zum Thema wird - nach der Eroberung des Landes. Entscheidend sind jetzt die Machtverhältnisse in den Dörfern, Distrikten, Provinzen, tagsüber und nachts.

(b) in der Behauptung, der zivile Aufbau und die Entwicklung stünden im Zentrum des Engagements der Bundesregierung. Dieser richtige konzeptionelle Anspruch bildet sich in der Ressourcenverteilung nicht ab. Während für den notwendigen Militäreinsatz seit 2002 1,9 Mrd. Euro aufgewandt wurden, waren es 550 Mio. Euro für Aufbau und Entwicklung. Inzwischen haben sich die Relationen zugunsten der militärischen Säule verschoben.

(c) im Selbstlob für die deutsche Führungsrolle beim Polizeiaufbau, die einen grundsätzlich richtigen Ansatz mit völlig unzureichenden Mitteln verfolgte und mit der EUPOL-Mission

zzt. sogar einen katastrophalen Rückschlag erlebt. Wenn die Bundesregierung auf unsere Große Anfrage hin (Frage Nr. 24) eine „Krise im Polizeiaufbau" bestreitet, dann ist das schlicht die Unwahrheit! Auf meinen „Brandbrief" an die Minister Steinmeier und Schäuble wurde mir geantwortet, dass bei EUPOL zzt. nur 60 MitarbeiterInnen sind, dass EUPOL erst im März 2008 195 MitarbeiterInnen umfasst und auf absehbare Zeit nur über die Ausstattung verfügt, die vom Dt. Polizeiprojekt eingebracht wurden. Inzwischen musste der deutsche Leiter von EUPOL wegen massiver Führungsmängel abgelöst werden. Wenn das angesichts der gigantischen Herausforderungen keine Krise des Polizeiaufbaus ist!

(d) im regelrechten „Durchwinken" der Antiterror-Operation Enduring Freedom, wo wieder nur ihre Notwendigkeit betont, zu ihren kontraproduktiven Wirkungen auf das Ansehen von ISAF, Staatengemeinschaft und Zentralregierung aber geschwiegen wird.

(5) Fähigkeitslücken: Die Gelegenheit, bei der Beantwortung unserer Großen Anfrage die eigenen Fähigkeitslücken freimütig offen zu legen und dadurch politischen Unterstützungsbedarf anzumahnen, wurde vertan.

(a) Unbeantwortet bleibt die einfache Frage, wie viele MitarbeiterInnen in den verschiedenen Ministerien mit Afghanistan befasst sind. Dabei wissen Insider seit langem, dass die entsprechenden Referate im Vergleich zu anderen Ländern und der Bundeswehr deutlich unterbesetzt sind. Dadurch sind von vorneherein die konzeptionellen, Planungs- und Führungsfähigkeiten der zivilen Seite sehr eingeschränkt.

(b) Die holprige Ressortkoordination, die sehr unterschiedlichen Einsatzdauern und Personalrotationen von Soldaten, Diplomaten, Polizisten, Entwicklungsexperten, die sinkende Akzeptanz des deutschen Afghanistan-Engagements in der dt. Bevölkerung - all das scheinen den Antworten der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zufolge keine Probleme zu sein.

(c) Damit verheimlicht die Bundesregierung die strukturellen Defizite, die zivile Aufbauanstrengungen behindern und ihre Fähigkeit zu einer zivilen Offensive blockieren.

(6) Die Zeit drängt: Die Enttäuschung und Frustration in der afghanischen Bevölkerung hat in den letzten Jahren massiv zugenommen - über eine vielfach versagende und korrupte Regierung, über eine weit hinter ihren Versprechen zurückbleibende Staatengemeinschaft. Nach Einschätzung vieler Afghanistan-Kundiger drängt die Zeit, wird das Zeitfenster für eine Wende zum Besseren immer schmaler. In einer solchen Situation an langen Atem zu appellieren, ist so richtig wie unzureichend. Neben der unverzichtbaren Geduld brauchen wir auch konstruktive Ungeduld: gegenüber dem eigenen deutschen und internationalen Engagement, das oft zu langsam ist und sich mit Kleckern begnügt, wo intelligentes Klotzen angesagt ist; gegenüber Handlungsweisen von Verbündeten, durch das afghanische Menschen nicht gewonnen, sondern zu Gegnern gemacht werden; gegenüber einer Zentralregierung und einer bis in höchste Kreise reichenden Korruption und Verquickung mit der Drogenwirtschaft.

(7) Neue Anstrengungen: Anzeichen für einen substanziellen Strategiewechsel und neue Anstrengungen sind im Afghanistan-Konzept nicht zu erkennen. Die Bundesregierung hat den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Wenn die Bundesregierung die Aufwendungen für Aufbau und Entwicklung um 25% erhöhen will, wo Fachleute eine Verdoppelung bis Verdreifachung der bisherigen 100/120 Mio. Euro für nötig halten, dann ist das symptomatisch. Um in Afghanistan dazu beizutragen, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen und den Abwärtstrend umzukehren, sind ganz andere Anstrengungen erforderlich!