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Genauer Hinsehen: Sicherheitslage Afghanistan (Lageberichte + Einzelmeldungen) bis 2019
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Nachtwei: Reisebericht Afghanistan September 2009 (Teil1 )

Veröffentlicht von: Webmaster am 13. Oktober 2009 19:35:22 +01:00 (92591 Aufrufe)

Der hochaktuelle Bericht von Winni Nachtwei von seiner Reise nach Afghanistan im September 2009 findet sich hier:

Jenseits der Wagenburgen - Endlich voll die Chancen nutzen!

Bericht von meiner letzten Abgeordnetenreise nach Kabul, Mazar-e Sharif und Feyzabad

Winfried Nachtwei, MdB (Oktober 2009)

Vom 15.-19.9.2009 besuchte ich erneut Afghanistan - knapp zwei Wochen nach dem Luftangriff von Kunduz, in den Tagen der Verkündigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl und vor der Bundestagswahl. In diesem hochkritischen Umfeld wollte ich direkt und authentisch in Deutschland berichten können.

Dabei wollte ich zugleich mehr den Blick auf die Aufbaubemühungen lenken. Diese gelten wohl als ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg in Afghanistan, werden de facto aber kaum wahrgenommen. Zu 95% kreist alle Berichterstattung und Wahrnehmung um Gewaltereignisse und Militärfragen. Diese Militär- und Gewaltfixiertheit praktizieren Gegner des AFG-Einsatzes nicht weniger als seine Befürworter. Mein Interesse galt also neben der realistischen Lageeerkundung der CHANCEN-SUCHE. Wer wirksam Frieden fördern will, muss Chancen und Hoffnungsträger identifizieren und unterstützen.

Nach der Hauptstadt waren Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) im Norden und Feyzabad (Provinz Badakhshan) im Nordosten Stationen der Reise. Kunduz besuchte ich nicht, weil dort die Soldaten Wichtigeres zu tun haben, als einen Politikerbesuch zu organisieren. Umgekehrt war ein Besuch in Feyzabad überfällig, das bei Besuchen aus Deutschland wegen seiner schwierigen Erreichbarkeit meist links liegengelassen wird.

Bei mehr als 40 Treffen und Besuchen sprach ich - trotz Ramadan - mit Gouverneuren, UNAMA, ISAF-Offizieren, Vertrauensleuten der Bundeswehr in Mazar, Ortsvorstehern und Dorf-/Distrikträten (Shuren), LehrerInnen, Radiomachern, Aktivisten der afghanischen Zivilgesellschaft (unabhängige Menschenrechtskommission, Afghan Civil Society Network) deutschen Polizei- und Armeeausbildern, Entwicklungsexperten, Diplomaten, Vertretern der US-Botschaft .

Die zivilen Programmschwerpunkte, die Auswahl der Provinzen und der Miniumfang unserer Delegation (neben mir nur meine Mitarbeiterin Dr. Anja Seiffert) ermöglichte es, sich zusammen mit den AA-Vertretern so frei und ohne sonderliche Schutzmaßnahmen zu bewegen, wie ich das seit Jahren nicht erlebt habe. Wo ansonsten die Wagenburgen der Internationalen wachsen und damit die Distanz zu den AfghanInnen, erlebte ich jetzt relativ viel „Normalität", ergaben sich jetzt viele spontane, ja herzliche Kontakte mit afghanischen Erwachsenen und Kindern.

Nach der Obleutereise im Juni war es meine 14. und letzte Abgeordnetenreise nach Afghanistan.

Ãœbersicht

  1. Zusammenfassung
  2. Ankunft
  3. Politische Lage nach den Wahlen
  4. Sicherheitslage allgemein
  5. Aufbau und Entwicklung
  6. Polizeiaufbau
  7. Mazar-e Sharif/Provinz Balkh
  8. Sicherheitslage Nord (mit ANA-Aufbau)
  9. Feyzabad/Provinz Badakhshan
  10. Kunduz
  11. Lauter Brücken
  12. Schlussfolgerungen
  13. Anhänge

Zusammenfassung

Gerade in den Nicht-Kriegszonen gibt es viel mehr Aufbauchancen, als man hierzulande denkt. Entsandte in Zivil und verschiedenen Uniformen leisten vorzügliche Arbeit. Die Politik ist in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die vorhandenen Chancen auch umfassend und konsequent genutzt werden können, dass hierfür deutlich mehr Mittel bereitgestellt werden. Die Förderung der Landwirtschaft muss endlich zu einem Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit werden. Die immer noch vorhandenen Chancen dürfen nicht auch noch verspielt werden.

Das wird besonders deutlich angesichts des Strategiewandels und der gigantischen Kraftanstrengung der USA. Angesagt ist intelligentes Klotzen statt Kleckern!

In der Provinz Kunduz, d e m hot spot im Norden, hat sich die Lage seit meinem letzten Besuch im Juni weiter verschärft, no-go-areas breiten sich aus, außerhalb der Stadt ist Entwicklungszusammenarbeit ausgesetzt. Der Vorschlag von General Vollmer, 2500 zusätzliche Polizisten mit deutschen Mitteln zu bezahlen, muss ernst genommen werden. Andernfalls rutscht Kunduz weg. Die Ausbildung dieser Polizisten müsste in den jetzt bevorstehenden Wintermonaten erfolgen, wenn sich nach aller Erfahrung die Sicherheitslage etwas entspannt.

Ungewiss ist, wie der Wahlprozess zu einem glimpflichen Ende gebracht werden kann. Ausschlaggebend für die Legitimität einer künftigen Regierung - und der internationalen Unterstützung für sie - ist, dass Wahlfälschungen rücksichtslos aufgeklärt werden und eine effiziente Regierung gebildet wird. (Inzwischen haben sich UN, USA und Verbündete offenbar mit den Wahlfälschungen abgefunden. Das ist ein zusätzlicher Tiefschlag gegen die Legitimität des internationalen Engagements in Afghanistan.)

Ankunft

Statt mit Bundeswehr geht es jetzt mit „Safi Airways" von Frankfurt im Nachtflug direkt nach Kabul. Mich begleiten auffällig viele gute Wünsche. Seit dem 15. Juni bietet die Fluggesellschaft aus den Vereinigten Arabischen Emiraten dreimal die Woche den ersten Direktflug von Europa nach Kabul seit mehr als 30 Jahren. Als erste AFG anfliegende Gesellschaft bekam Safi Airways jetzt die ICAO-Zertifizierung. Chefmanager ist der ehemalige Lufthansa-Kapitän Tilman Gabriel. Beim Einchecken werden die afghanischen MitarbeiterInnen von Fraport-Mitarbeiterinnen unterstützt. An Bord liegt das erste Hochglanz-Flugmagazin von Safi Airways aus. Da die Maschine nur ca. zu einem Drittel besetzt ist, haben alle Passagiere ausreichend Liegeplatz. Als in dunkelgrauer Morgendämmerung Boden in Sicht kommt, ist es wie Mondlandschaft. Über einen von Wolken umrahmten Gebirgskamm geht es runter nach Kabul. Erstmalig komme ich im neuen, von Japan finanzierten neuen Terminal an.

Eine Ankunft in Kabul um 6.00 Uhr ist ungewohnt entspannt: Der Himmel ist blank, die Luft ist klar und frisch. Mit Selbstmordattentätern ist um diese Zeit noch nicht zu rechnen.

Vom Hotel aus um 5.30 Uhr MEZ Interview mit dem Deutschlandfunk zu den „10 Schritten" Außenminister Steinmeier`s für eine künftige AFG-Politik. Sie gehen in die richtige Richtung, sind aber offenbar mit heißer Nadel gestrickt. Für den in Sachen AFG federführenden Minister sind die „10 Schritte" bemerkenswert oberflächlich. Dass die deutschen Vertreter in AFG nachträglich als letzte von den 10 Schritten erfahren, ist nicht nur befremdlich. Es zeigt, dass sie einzig und allein innenpolitisch motiviert waren.

Politische Lage nach den Wahlen

Als relativer Erfolg gilt, dass die Gewalt den politischen Prozess nicht blockieren konnte. Am 16.9. verkündet die „Unabhängige Wahlkommission" das vorläufige Endergebnis: 54% für Karzai, 27,8% für Abdullah Abdullah bei einer Wahlbeteiligung von 38,7%. Die EU-Wahlbeobachter schätzen ein Viertel der Wahlstimmen (1,5 Mio.) als gefälscht bzw. zweifelhaft ein. Die Wahlbeschwerdekommission identifizierte 3.498 Wahlurnen als „verdächtig". 10% wurden inzwischen (Okt.) überprüft. Die Überprüfung könnte die Wahlstimmen für Karzai unter 50% bringen. Dann wäre eine Stichwahl erforderlich, für die technische Vorbereitungen schon laufen. Die jahreszeitlichen Wetterbedingungen würden eine Stichwahl nur noch bis Ende Oktober erlauben.

Bei einem Gespräch mit führenden VertreterInnen der afg. Zivilgesellschaft in Kabul ist man sich weitgehend einig, dass es massive Wahlfälschungen gab. Die Schuld dafür wird nicht zuletzt bei der (eben nicht) „Unabhängigen" Wahlkommission gesehen, wo viele ihrer Mitglieder aktiv an Manipulationen beteiligt gewesen seien. Deshalb und wegen der geringen Wahlbeteiligung sei die Legitimität des Wahlprozesses fragwürdig.

Nach den vielen Wahlfälschungen ist ausschlaggebend, wie die Beschwerdekommission arbeitet und ob eine kompetente und effiziente Regierung gebildet wird. Eine „Regierung der nationalen Einheit" würde das kaum bringen. In der Bevölkerung sei das Gefühl verbreitet, Gerechtigkeit gebe es nur gegen Bezahlung. Das sei ein Einfallstor für die Taliban. Trotz aller scharfer Kritik sind sich die VertreterInnen der Zivilgesellschaft einig, dass seit 2001 einiges erreicht worden sei und die Lage heute in mancher Hinsicht sogar besser als zu Zeiten der Monarchie sei.

Sima Samar, die sehr lebhafte Vorsitzende der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission, appelliert an die Internationale Gemeinschaft und Deutschland, sich weiterhin in Afghanistan zu engagieren.

Ich überreiche den afghanischen FreundInnen meine Rede „Was hat Deutschland mit Afghanistan zu tun" vom Benefizkonzert in St. Augustin auf Dari.

Ungewiss ist, ob es noch Versuche geben wird, das Wahlergebnis mit Gewalt zu revidieren. Bisher blieben solche Aktionen aus. Der Massud-Gedenktag am 9. September erlebte wohl einen Aufmarsch alter Kämpfer auf Pick-Ups in voller Bewaffnung. Aber alles blieb ruhig.

Die „Staatengemeinschaft" muss unbedingt ehrlich mit den Wahlen umgehen, darf die Fälschungen nicht beschönigen und hinnehmen.

Die anvisierte internationale AFG-Konferenz hängt ganz von der Regierungsbildung ab. Sie muss klar den Übergang der Verantwortung auf die afghanische Seite markieren und Selbstverpflichtungen der neuen Regierung gegenüber der eigenen Bevölkerung bringen. Dafür wäre es sehr angebracht, dass sie nicht in London, Paris ..., sondern - zumindest in wichtigen Teilen, z.B. Vorbereitungskonferenz - in Kabul stattfinden würde. In diesem Jahr wird eine solche Konferenz kaum noch stattfinden können.

Sicherheitslage allgemein

(1) In diesen Tagen erlebe ich höchst unterschiedliche Risiko-/Sicherheitsstufen: Der „Hochsicherheitstrakt" rund um Präsidentenpalast, Botschaften etc. im Kabuler Zentrum; die Spuren der Zerstörung durch die Selbstmordattentate vor dem ISAF-Headquarter und der Dt. Botschaft; das quirlige Verkehrschaos und die erstaunliche Überlebensfähigkeit von Fußgängern, Radfahrern und Behinderten, die gegen jede Regel den Verkehrsstrom queren; die Großstadtnormalität mit wenig Polizei- und Militärpräsenz in anderen Stadtbezirken; die ungewohnte Bewegungsfreiheit in Mazar und Feyza ohne sonderliche Schutzvorkehrungen, sogar bei Dunkelheit; in den beiden Nordprovinzen das viele Winken am Straßenrand, auch gegenüber Bundeswehrfahrzeugen; dann die Berichte aus der Guerillakriegszone rund um Kunduz.

(2) Sicherheitsvorfälle (kinetc events): In 2009 bis zum 9.9. in ganz AFG 13.045, davon 4.590 in Helmand (davon 1.320 allein im Distrikt Nad Ali), 1.883 in Kandahar. IED`s sind der Killer Nr. 1. Bis 9.9. kam es in diesem Jahr zu 4.810 IED-Anschlägen (Vorjahrszeitraum 2.546), bei denen 205 ISAF-Soldaten, 465 Angehörige der Afghanischen Sicherheitskräfte und 591 Zivilpersonen getötet wurden.

25% der Bevölkerung sollen unter direkter Kontrolle der Regierung leben, 47% in Gebieten unter der Kontrolle lokaler Machthaber, 12% unter Talibankontrolle und 16% in umkämpften Gebieten.

Die Hoffnung, nach den Präsidentschaftswahlen würde sich die Sicherheitslage wieder beruhigen, hat sich bisher nicht bewahrheitet.

Auszug aus meinen „Materialien zur Sicherheitslage AFG/PAK"

-          33. Kalenderwoche (ab 10.08.): 463 Sicherheitsvorfälle, davon Region Capital 13, Region Nord 32, West 15, Süd 226, Ost 177; davon 286 Schusswechsel/Gefechte, 93 Sprengstoffanschläge (3 Selbstmordattentate in Kunduz, Helmand, Kabul), 75 indirekter Beschuss; 13 ISAF-Soldaten getötet, 105 verwundet.

-          34.(17.08.): 933, davon C 23, N 49, W 51, S 439, O 371; davon 534, 131 (2 in Kabul + Paktia), 266; 14 ISAF-Soldaten getötet, 95 verwundet. (Präsidentschafts- und Provinzratswahlen am 20.8.)

-          35.(24.8.): 390, davon C 2, N 6, W 15, S 227, O 140; davon 252, 86 (1 in Kandahar), 49; 10 ISAF-Soldaten getötet, 87 verwundet.

-          36.(31.8.): 478, davon C 3, N 15, W 24, S 269, O 167; davon 323, 97 (5 in Kunduz, Jowzjan, Farah, Herat, Kaghman), 58; 19 ISAF-Soldaten getötet, 122 verwundet.

-          37.(7.9.): 524, davon C 4, N 16, W 26, S 307, O 171; davon 326, 116 (3 in Kabul, Helmand, Kandahar), 66; 13 ISAF-Soldaten getötet, 95 verwundet.

-          38.(14.9.): 414, davon C 2, N 11, W 15, S 250, O 136; davon 252, 101 (4 in Kabul, Baghlan, Helmand, Kandahar), 54; 16 ISAF-Soldaten getötet, 97 verwundet.

-          39.(21.9.): 328, davon C 2, N 7, W 18, S 185, O 116; davon 199, 72 (1 in Herat), 57; 9 IAF-Soldaten getötet, 57 verwundet.

(Eine Auflistung größerer Sicherheitsvorfälle zwischen 8.- 23.9. siehe Anhang)

Am 17.9. zerschellt auch das Bild von der relativ sich bessernden Sicherheitslage in Kabul. Gerade 20 Stunden nach unserem Abflug aus Kabul fallen auf der Straße zum Kabuler Flughafen 6 italienische Soldaten und mindestens 10 Zivilisten der 300-kg-Bombe eines Selbstmordattentäters zum Opfer. Am selben Tag ereignen sich im Stadtgebiet weitere Sicherheitsvorfälle.

(3) US-Strategie- und Taktikwandel: Enorm seien die Veränderungen und Anstrengungen auf US-Seite. Ganz anders sei der Führungsstil des neuen ISAF-Kommandeurs General McChrystal: Bei den täglichen Morgenlagen im ISAF-Hauptquartier würden die Afghanen in „atemberaubender" Weise und Offenheit einbezogen. Der US-General habe ständig die komplexen Wirkzusammenhänge im Kopf (Schaubild „Afghanistan - der gordische Knoten", auch „Spagetti-Schüssel" genannt), insistiere auf Schutz und Zuspruch der Zivilbevölkerung als dem Dreh- und Angelpunkt. „Wir wollen nicht nur siegen, sondern auch den Frieden gewinnen." Seine Lageeinschätzung sei aber viel skeptischer als die seines Vorgängers. Im nächsten Jahr müsse die Trendwende geschafft werden.

Die USA seien jetzt pragmatischer, offener, eher zu Korrekturen bereit. Sie seien enorm unter Druck, Geld sinnvoll auszugeben. Die US-Kräfte im Norden werden dem Kommandeur des RC North unterstellt. (Das gilt nicht für OEF-Kräfte, zu denen ich frage und Schweigsamkeit ernte.)

Einzelne Bundeswehrsoldaten sprechen von einem „Kuschelkurs" der USA. Die Anweisungen aus der Taktischen Direktive, nicht mehr im Konvoi zu fahren, mehr aus den Fahrzeugen auszusteigen, auf die Menschen zuzugehen, mehr eigenes Risiko in Kauf zu nehmen, könne man in Kunduz nicht befolgen.

In Kabul kritisieren europäische Soldaten des Deutsch-Niederländischen Korps aus Münster (sie stellen ca. 10% der 2.200 HQ-Angehörigen aus 42 Nationen) eine enorme „Amerikanisierung" von ISAF, wo Fakten geschaffen würden und die Masse an US-Personal und -Kapazitäten erdrückend wirke.

Die Teilung des ISAF-Hauptquartiers in ein politisch-strategisches „Viersterne-HQ" (geführt von einem Viersterne-General) und ein „HQ ISAF Joint Command" für die Operationsführung wurde von den USA vom Irak auf AFG übertragen. Chef des Stabes im Viersterne-HQ wird Generalleutnant Volker Wieker, Kommandierender General des 1. GE-NL Corps aus Münster. Das Dreisterne-HQ wird auf das Gelände des Flughafens Kabul ausgelagert, die Soldaten werden in 20-Mann-Zelten untergebracht.

Aufbau und Entwicklung

(1) Bildung: In Kabul besuchen wir das landesweit einzige Wirtschaftsgymnasium für Mädchen, die seit 1962 bestehende Jamuriat-Schule mit 1.300 Schülerinnen, Deutschunterricht ab 3. Klasse. Renovierung + Umbau in 2003/4 wurden durch AA/KfW mit 1,25 Mio. Euro finanziert. Eine DED-lerin erarbeitet Curricula für die Wirtschaftslehre in den Jahrgangsstufen 9-12. Die Familien seien sehr daran interessiert, hierher ihre Töchter zu schicken. Danach hätte sie bessere Chancen bei der Jobsuche. Einige Schülerinnen kommen aus entfernteren Provinzen. Auf meine Frage hin betont die Schulleiterin, dass es in ihren 28 Jahren an der Schule nie Probleme wegen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten gegeben habe. Der Raum- und Ausstattungsmangel ist offenkundig. Die ca. 40 Computerarbeitsplätze sind älteren Datums. Die Schulbibliothek ist ausgesprochen spärlich. Dringend gebraucht werden vor allem Physik-, Mathe-Geschichtsbücher, Cultural Studies. (Eine Bedarfsliste liegt uns vor.) Im Deutschunterricht, wo gerade europäische Berge Thema sind, können wir einige herzliche Worte mit den Schülerinnen wechseln.

In Mazar, Kunduz und Feyza unterstützt DEU Bau und Ausstattung von Berufsschulen für`s Kfz-Handwerk. 2010 soll die Ausbildungspalette erweitert werden.

In der Provinz Balkh sind zwei Drittel der 460 Schulen nach 30 Kriegsjahren zerstört oder beschädigt. In Mazar hat nur die Hälfte der LehrerInnen einen Ausbildungsabschluss, in den 17 Distrikten sind es weniger als 9%. Die Ausstattung der Schulen ist mangelhaft. Das Teacher Training Center (TTC) Mazar wurde 2005 mit Unterstützung der GTZ wieder in Betrieb genommen. Dem TTC sind seit kurzem 5 Nebenausbildungsstätten zugeordnet. In der Provinz gibt es 10.366 LehrerInnen für 400.301 SchülerInnen (1:38,6), im Distrikt Alborz kommen 69 SchülerInnen auf einen Lehrer!

In Mazar und Feyza Besuch der TTC`s für 3.000 bzw. 1.800 Studierende (Aus- bzw. Fortbildung). Hier werden gerade in Verantwortung der GTZ neue Lehr- und Unterkunftsgebäude gebaut. (Weitere TTC`s Kunduz, Takhar und Sar-e-Pol) Im Januar startete in Mazar der Bau, im Dezember soll schon der Einzug stattfinden. Nach dem Besuch im August 2008 gibt es in Mazar ein freudiges Wiedersehen mit den KollegInnen des Dozentenkollegiums, das zur Hälfte aus Frauen besteht. Nachdem in diesem Jahr 534 Interessierte keinen Studienplatz fanden, beschloss das Lehrerkollegium die Einführung einer 3. Schicht - ohne mehr Personal! Dem TTC sind erstmalig Experimentalschulen für die praktische Ausbildung der Studierenden zugeordnet. Vor dem Krieg sei das Ausbildungsniveau recht hoch gewesen. Mit dem Krieg hätten dann 95% aller Kinder keine Möglichkeit mehr, eine Schule zu besuchen. Nachdem es unter den Taliban weniger als 1 Mio. Schüler gab, ist jetzt ihre Zahl wieder auf 7 Mio. gestiegen. Im TTC lerne man, durch schülerzentrierten Unterricht das Interesse der SchülerInnen zu wecken. Als früherer Lehrer erlebe ich bei den Besuchen KollegInnen und Schülerinnen, die voller Lehr- und Lernbegeisterung und Tatendrang sind. Hier spüre ich, worum es menschlich bei Afghanistan geht.

Bis 2012 werden landesweit ca. 135.000 zusätzliche LehrerInnen benötigt. Die 2008 umgesetzte Gehaltserhöhung um 40% für Lehrkräfte verbesserte ihre wirtschaftliche Lage und ihr gesellschaftliches Ansehen. (vgl. Overview of Teacher Education in Balkh, hrg. von GTZ, DED, KfW, September 2009)

(2) Kleinprojekte auf dem Land: In und bei Feyzabad besuchen wir zusammen mit den örtlichen Vertretern von GTZ und DED Gemeinden mit Projekten, die durch den „Kleinprojektefonds" der GTZ bzw. den „Provincial Development Funds (PDF) ermöglicht wurden: Überschwemmungschutz am Kocha-Fluss, Trinkwasserversorgung, Hühnerfarm, Strasseninstandsetzung, Alphabetisierung für Erwachsene.

In Qaraqusi einige km nördlich vom PRT direkt am Kocha-Fluß leben 50 Familien mit knapp 500 Menschen. Auf einem Teppich am Flussufer sprechen wir mit dem Ortsvorsteher. Die Dorfbewohner leben überwiegend von der Landwirtschaft, einige sind Tagelöhner in Feyza, vier arbeiten im PRT. Die Kinder haben eine Stunde zu Fuß zur nächsten Schule. Batash gehört zu Feyza. Viele hier kommen vom Land. 60% der Bevölkerung sind unter 20 Jahre. Der Ort mit seinen mehr als 10.000 Einwohnern wird durch eine kleine Schlucht geteilt, die sich ein - jetzt trockener - Wasserlauf gegraben hat. Hier präsentiert mir der weißbärtige Ortsvorsteher seinen Antrag für eine kleine Brücke. Dann führt er uns in den Gemeinderaum, an dessen Kopfseite ein Plakat zur Gesundheitsvorsorge hängt. Am Fenster drängen sich Kinder, im hinteren Raum jüngere und ältere Männer, keine afghanische Frau. Seit es hier sauberes Trinkwasser gebe, seien Krankheiten zurückgegangen. Eine mobile Gesundheitsversorgung bietet hier die deutsche NGO „Kinderberg" an. Die Kinder gehen fast zu 100% zur Schule. 25 Jugendliche aus Batash studieren in Kabul. Man sei sich sicher, dass sie zurückkehren. Gut, dass es Wahlen gegeben habe. Fast alle hätten daran teilgenommen. Fälschungen habe man mit eigenen Augen nicht gesehen.

Bei beiden Gesprächen stelle ich am Ende folgende Frage: „Seit 8 Jahren schicken deutsches Parlament und Regierung Soldaten nach Afghanistan. Inzwischen wurden etliche getötet und verwundet. In Deutschland sagen jetzt immer mehr Leute, die Soldaten sollten zurückgeholt werden. Was würden Sie diesen Leuten sagen?" Die Antworten sind einhellig:

„Wir sind ein Land mit 95% Analphabeten, hatten 30 Jahre Krieg. Wenn Sie angefangen haben, dann sollen Sie auch so lange bleiben, bis wir auf eigenen Beinen stehen können." Der Alte nimmt seine große Hornbrille ab: „Unser Land ist wie ein blinder Mensch. Sie sind hier, um uns die Augen zu öffnen und beim Gehen zu helfen. Ich wünsche allen deutschen Familien Glück!"

Sind diese Antworten bloße Höflichkeiten von bekanntermaßen höflichen Afghanen? Die beiden Ortsvorsteher sprechen so im Beisein ihrer Leute, die ihnen an anderer Stelle auch mal ins Wort fallen.

Seit Juli sind schon alle PDF-Gelder festgelegt. 200 Anträge, zum großen Teil förderungswürdig, liegen auf Halde. Das ist beispielhaft für die mehrfach von deutschen Fachleuten geäußerte Erfahrung, dass vor Ort erheblich mehr Geldmittel sinnvoll eingesetzt werden könnten, dass die in Berlin oft vorgebrachte Behauptung von der mangelhaften „Absorptionsfähigkeit" vor Ort so pauschal keineswegs zutrifft.

(Anmerkung: Der PDF gilt wegen seiner Flexibilität und des paritätisch afghanisch-deutschen Ansatzes als Erfolgsgeschichte. Wesentliche Starthilfe waren die sogenannten „Nachwei-Millionen", die ich 2005 beim Verteidigungsetat für Zwecke der Zivilen Friedensförderung „locker gemacht" hatte. Die lokale Bevölkerung trägt 10-25% zu den Kosten eines PDF-Projektes bei, meist durch Arbeitsleistungen.)

(4) In Mazar und Feyza Gespräche bei den Lokalradios NEVAD und AMO. NEVAD erreicht die ganze Provinz Balkh und zwei Nachbardistrikte und bringt dreimal pro Woche ein Programm mit und für Frauen. Der Sender begleitet auch das Polizeiausbildungsprogramm FDD (s.u.) und entwickelt zugleich eine öffentliche Kontrolle der Polizei. Bei Kritik z.B. von religiösen Führern werden diese zur Diskussion eingeladen. AMO verfügt über 11 Angestellte und 20 freie MitarbeiterInnen und sendet 12 Stunden am Tag eine Mischung von Nachrichten, kritischen Dokumentationen, Musik, Rechtsberatung, Bürgertelefonsendungen. Bis September strahlte AMO auch für die GTZ Rechtshilfeprogramme aus. ANO legt sich auch mit Machthabern an: z.B. mit dem „head of education", der sich von Lehrern bezahlen und Lehrerinnen „bedienen" lasse, und wo AMO Schutz durch seine Hörer erfahre. Vor 9 Monaten gab es eine Demonstration gegen Korruption in der Regierung, angestoßen durch eine Radiosendung. AMO-Chef Abdul Basir Haqio ist Sprecher der Journalisten von Badakhshan. Er bittet eindringlich um Unterstützung für die Ausweitung der Sendekapazitäten von AMO, das bisher den Distrikt Feyzabad und 60% des Distrikts Argu abdeckt.

Mit Abdul Haqio sprechen wir auf dem Dach von AMO. Der Blick geht auf das Tal von Fayza im aufsteigenden Abenddunst. In 500 Meter Entfernung erstreckt sich ein länglicher Flachbau: Es ist der Sitz von Nasir Mohammed, dem berüchtigten Warlord und lokalen Powerbroker. Vom Rand des Daches aus unterhält sich unser Sprachmittler, ein Deutsch-Afghane in Bundeswehruniform, lebhaft auf Dari mit Jungens und einem vorbeigehenden Alten.

(5) Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (meist zwei- bis dreijährige Laufzeiten, GTZ, KfW, DED im Auftrag des BMZ) sind:

- Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung: Förderung afg. Institutionen für Wirtschaftsförderung in Kabul

(5,5 Mio. Euro), Förderung von kleinen/mittleren Unternehmen und lokale Wirtschaftsentwicklung in N-AFG (5,5 Mio. Euro);

- Förderung der Grundbildung (5 Mio. Euro) und beruflichen Bildung (2 Mio. Euro, Technische Schulen Kabul, Kandahar und Khost);

- Dezentrale Stromversorgung durch erneuerbare Energien, v.a. Wasser und Solar (3,76 Mio. Euro)

- Verbesserung der Wasserversorgung und -entsorgung in den Nordprovinzen und Herat (6,4 Mio. Euro);

- Governance: Förderung von Rechtsstaatlichkeit (4,5 Mio.) und Gender Mainstreaming (3,5 Mio.).

Hinzu kommen

- Aufbau von Basisinfrastruktur und Schaffung von Einkommen in ländlichen Regionen in 8 Nordprovinzen (22 Mio.);

- Entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe (ENÜH): Wiederaufbau Südostafghanistan (5,6 Mio.), Wiederherstellung + Stabilisierung der Lebensgrundlagen in NO-AFG (5 Mio.) und N-AFG (1,9 Mio.), Überregionaler Kleinprojektefonds (2 Mio.), Unterstützung Wiederaufbau in Kunduz, Takhar, Badakhshan (7,96 Mio.), Förderung regionaler, grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen zwischen Tadschikistan und AFG (600.000), Basisinfrastruktur und Schaffung von Einkommen in SO-AFG (3 Mio.), Entwicklungs-/BMZ-Beauftragte in Mazar, Kunduz und Faiza(2,6 Mio.), Sicherheitssysteme für dt. EZ-Durchführungsorganisationen (3,8 Mio.);

- Unterstützung von zivilen Maßnahmen zur Friedensentwicklung und Konfliktlösung (Ziviler Friedensdienst, DED, 1,18 Mio., Aufstockung 24 Stellen geplant): Beratung der nationalen Menschenrechtskommission, von NGO`s beim lokalen Peacebuilding, z.B des „Afghan Civil Society Network for Peace" bei der Organisation der diesjährigen Kampagne zum Internationalen Friedenstag.

Im Auftrag des AA ist die GTZ verantwortlich für

- die bauliche Rehabilitation und Ausstattung der Technischen Schule Khost II (4,4 Mio.), der Technischen Schule Kandahar (4,3 Mio.), Baumaßnahmen Polizeiaufbau (48,9 Mio.)

Unter den richtigen deutschen EZ-Schwerpunkten fehlt die Landwirtschaft. Von ihr lebt die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Gerade auf dem Land wächst die Zahl der perspektivlosen jungen Männer, die Arbeit und noch mal Arbeit brauchen.

(6) Gespräche mit jeweils 10-15 deutschen Entwicklungsexperten in Kabul (in der Oase des GTZ-Gästehauses) und in Mazar, die zunächst ihre verschiedenen Projekte vorstellen.

- Die GTZ verfügt in AFG über 1.100 MitarbeiterInnen, davon 130 internationale Entsandte, der DED über 120 MitarbeiterInnen, davon 30 Internationale. Die KfW verfügt mit 2 Deutschen und 3 afg. Mitarbeitern über das kleinste Team.

- Eine Nahrungskatastrophe konnte im vorigen Jahr verhindert werden. Die Bauern wurden zurück in den Produktionszyklus gebracht. In diesem Jahr gab es die beste Ernte seit 32 Jahren. Für 2009 sind keine größeren Ernährungsprobleme zu erwarten. Viele Bergdörfer hätten einen besseren Zugang zu den Distriktmärkten. Aber es fehle noch an Verarbeitungsmöglichkeiten. Die Straßen liegen voll mit ausgezeichnet schmeckenden Melonen. Die afg. Regierung hat damit begonnen, eine strategische Getreidereserve anzulegen. Allerdings stellt sich immer stärker das Problem der Verfügbarkeit von Wasser. Keiner der Flüsse im Nordwesten komme noch im Mündungsgebiet an. Wer am Unterlauf ist, bekommt nichts mehr ab. Es gibt Bergdörfer, die ein halbes Jahr ohne Naturwasser sind.

- Local Ownership: Die aus dt. Mitteln finanzierten und von GTZ-Mitarbeitern angeleiteten Bauprojekte werden alle von örtlichen Firmen mit so viel wie möglich örtlichen Materialien umgesetzt und wachsen jeweils in einem erstaunlichen Tempo. An allen Baustellen begegnen wir afg. Unternehmern und Arbeitern. Hier zeigt sich inzwischen eine bemerkenswerte Leistungsfähigkeit örtlicher Firmen. Der eine GTZ-Bauleiter fördert zugleich die Weiterbildung der afg. Kollegen.

- Balkh Provinz Hospital in Mazar: 2006 war das Hauptgebäude ausgehend von einem Kabelbrand abgebrannt. Übergangsweise in von DEU gestellten Containern untergebracht soll die Grundsteinlegung im Dezember erfolgen. Geplant ist eine Kapazität von 360 Betten, 21 Intensivbetten, 7 Operationsräumen und eine Krankenhausgrundstruktur nach internationalem Muster. Hinzukommt ein Lehrgebäude für 260 Studierende. Das 12-Mio.Euro-Projekt wird von Deutschland und Schweden finanziert. Parallel laufen Capacitybuilding-Programme. Ein Riesenproblem sei die Infektionsprophylaxe. Das Balkh Province Hospital ist das Zentralkrankenhaus für die umliegenden Distrikthospitäler mit einem Einzugsgebiet von 6 Mio. Einwohnern. Das nächste gleichwertige Hospital ist 430 km entfernt in Kabul.

- Zeitbedarf und Zeitdruck: Ein erhebliches Spannungsverhältnis besteht zwischen dem inzwischen hohen Zeitdruck bei Projekten des Polizeiaufbaus und im Norden generell und dem längeren Zeitbedarf von nachhaltigen Lösungen. Gerade der Aufbau von Kapazitäten braucht Zeit. „Wenn wir nachhaltig sein wollen, müssen wir uns mehr Zeit zur Einbeziehung lokaler Strukturen nehmen." Deutscherseits arbeiten im Norden vier Regierungsressorts, von denen drei keine Erfahrung mit Nachhaltigkeit hätten. Entscheidend sei langfristiges Engagement. Sei DEU dazu bereit? Der PDF sei nicht einmal für das nächste Jahr gesichert. Die Berufsschulen sollten Leuchttürme sein und ganz schnell gehen. Bisher gebe es kaum eine Einbindung von Partnern. Das seien Leuchttürme auf wackligem Grund.

- Notwendig seien kohärente Ziele: Wo wollen wir gemeinsam hin? Angedacht war eine Studie zur Identifizierung der Ausgangslage (baseline-study). Aber dann fehlte das Geld dafür! Die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure habe sich gebessert, aber es gebe noch erhebliche Lücken.

- Wirksamkeit: Auf meine Frage, ob die Aufbau- und Entwicklungsbemühungen ein Tropfen auf den heißen Stein seien oder der kühlende Wasserstrahl: Die Bevölkerung sehe es als Tropfen. Aus EZ-Sicht seien es viele beständige Tropfen auf den heißen Stein. „Wir tröpfeln überall." Von Kabul aus sieht es gut aus, in den Provinzen oft ganz anders. So viele Ansätze seien schon probiert worden.

- Rule of law: Ausgangslage ist der bestehende „Rechtspluralismus". 80% der Streitfälle werden durch informelle Systeme im Rahmen des - oft vorislamischen - Gewohnheitsrechts geregelt. Hier geschehen die meisten Menschenrechtsverletzungen. Das Strafrecht basiert auf islamischem Recht. Aufgabe sei nicht, die informellen Strukturen zu schwächen, sondern Rechtsaufklärung zu betreiben, Alternativen zu stärken, Unterricht und Mentoring zum code of conduct für Staatsanwaltschaften und Polizei. Die frühere Konfliktregelung durch Jirgen und Älteste gebe es oft nicht mehr. Wo die Taliban stärkeren Einfluss haben, regeln sie Konflikte binnen Tagen, was bei der staatlichen Justiz Monate dauert.

- Zum Internationalen Friedenstag am 21. September findet heute eine Eröffnungszeremonie in Kabul statt, zu der mir der DED-Vertreter eine Einladung übergibt. Auf dem Dehkepak Hügel von Khair Khana wird heute, organisiert vom Afghan Civil Society Network for Peace und gefördert vom DED/ZFD, mit Steinen das Wort "Frieden" auf Dari und Paschtu gelegt. In diesem Jahr hat meine Kampagne mit dem Motto „What are you doing for peace?" initiiert. Nachdem Claudia Roth und ich im vorigen Jahr den afghanischen Freunden zum Internationalen Friedenstag ein Grußwort übersandt hatten, wäre jetzt die Teilnahme eines deutschen Parlamentariers eine schöne Fortsetzung gewesen. Leider geht zur gleichen Zeit unser Weiterflug nach Mazar.

- Arbeitsbedingungen für Entwicklungshelfer: Auffällig sei die Verschiebung der Exit-Kriterien für EZ`ler. Zunächst hieß es, wenn gepanzerte Fahrzeuge notwendig sind, dann hat es keinen Zweck mehr, dann raus. Dann, wenn wir uns in ein PRT zurückziehen müssen. Dann, wenn es den ersten toten Helfer gibt. Die systematische Beobachtung und Bewertung der Sicherheitslage und Herausgabe von Verhaltensregeln sind ein recht neues Feld. 2006 etablierte die GTZ ihr erstes Risk Management Office in AFG, das inzwischen in Kabul, Mazar, Kunduz und Taloqan vertreten ist und alle dt. Durchführungsorganisationen, aber auch Nichtregierungsorganisationen (insgesamt 15) berät. Aufgabe ist, den EZ-Organisationen noch so lange wie verantwortbar die Arbeit zu ermöglichen. In Kabul besteht z.B. seit 6 Wochen das Verbot, abends Restaurants zu besuchen. In Mazar sei Arbeit noch sehr gut möglich. In Kunduz wurde die Präsenz von Internationalen reduziert. Dort könne man wohl noch in der Stadt, aber nicht mehr in den Distrikten arbeiten. Vor einem Jahr war nur der Distrikt Chahar Darreh problematisch. Bis Ende Juli konnte man noch auf dem Landweg nach Kunduz. Jetzt geht es nur per Flugzeug. Nur wenige km vom PRT hätten sich Taliban festgesetzt, überall muss mit Straßensperren gerechnet werden. Inzwischen sei die Sicherheitslage bei den Niederländern in Uruzgan besser als in Kunduz. Deren Ansatz sei ganz anders und sehr beachtenswert.

Aber die Wagenburgen der Sicherheitsbestimmungen und Bewegungseinschränkungen wachsen. Botschaftsangehörige in Kabul leiden besonders unter dem Verlust an Kontakten, Erfahrungen, Arbeits- und Lebensmöglichkeiten. Groß ist die Hoffnung auf eine Entspannung nach den Bundestagswahlen.

- Die Personalrekrutierung in Deutschland macht zunehmend Probleme. Abschreckend wirke vor allem die pauschale Risikowahrnehmung zu Hause. Wenn unterschiedslos von AFG-Krieg die Rede ist, dann gilt schnell als „Abenteurer", wer sich als Entwicklungsexperte oder Diplomat freiwillig nach AFG meldet.

(7) UNAMA in Mazar ist zuständig für 5 Nordwestprovinzen mit insgesamt 3,5 Mio. Einwohnern. Weitere UNAMA-Büros sind in Meymaneh und Sari Pul. Weitere Büros kommen Ende des Jahres in Jowzjan und Samangan im nächsten Jahr hinzu. Lt. Mandat soll UNAMA die zivilen Akteure koordinieren. Mit einer knappen Personaldecke von 24 Internationalen (1 Stelle Rule of Law, 3 Governance, 1 Political Affairs, einschließlich Support) ist das aber nur sehr begrenzt möglich. Schon die Koordination der UN-Organisationen macht Mühe!

Die geringe Personalausstattung geht auf eine Haushaltsentscheidung in New York zurück. Nächstes Jahr soll der UNAMA-Etat um 15-20% steigen. Extrem lang dauert der Rekrutierungsprozess. Bei Corinna Vigier, der langjährigen ZFD-Friedensfachkraft aus Kunduz, jetzt Political Affairs Officer, dauerte es von der Meldung bis zum Einsatz eineinhalb Jahre!

Insgesamt sei im Nordwesten die Lage noch unter Kontrolle, mache der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte gute Fortschritte. Vor der Wahl wollte das Innenministerium sogar 3.000 Polizisten aus dem Norden in den Süden abziehen. Das habe man aber voll abgelehnt.

(8) Insgesamt: In den besuchten Provinzen gibt noch viel mehr Aufbauchancen, als in Deutschland wahrgenommen wird. Aber die müssen auch konsequent genutzt und dürfen nicht wieder verspielt werden - wie so oft in den letzten Jahren. Sträflich ist die bisherige Vernachlässigung der Landwirtschaft. 8 Berater für Landwirtschaft und 4 für ländliche Entwicklung (statt bisher ein Berater!) wäre ein wichtiger Schritt.

Auch im 8. Jahr fehlt den deutschen Aufbaubemühungen für den eigenen Hauptverantwortungsbereich immer noch ein umfassendes Aufbau- und Entwicklungsprogramm mit Zielen, Benchmarks, Fortschrittsindikatoren, die aus dem Bedarf abgeleitet, realistisch, ehrgeizig und überprüfbar sind, auf die hin mobilisiert werden kann und die Voraussetzung sind für eine militärische Abzugsperspektive von wenigen Jahren. (Vgl. als Positivbeispiel der inzwischen 5. Quartalsbericht „Canada`s Engagement in Afghanistan" der kanadischen Regierung, Kabinettsausschuss AFG, an das Parlament, www.afghanistan.gc.ca)

Aufschlussreich für die deutsche Ressortzusammenarbeit ist der Schlusssatz der BMZ-Übersicht „Finanzielle Zusagen bei den diesjährigen Regierungsverhandlungen zur EZ mit AFG" vom Juli 2008: „Über die Mittel des Auswärtigen Amtes für 2008 in Höhe von 70,7 Mio Euro wurde nicht gesprochen und verhandelt."

Während Deutschland in diesem Jahr ca. 200 Mio. Euro für Aufbau und Entwicklung in AFG ausgibt, sind es bei den USA mehr als 5 Mrd. $.

Polizeiaufbau

(1) Bilaterale Polizeihilfe durch das German Police Project Team (GPPT), zzt. 31 Beamte plus Kurzzeittrainer, und die Project Implementation Unit (PIU) der GTZ.

Nachdem im Herbst 2008 die Staatssekretäre von BMI, AA, BMVg und BMZ dem Konzept der deutschen Beteiligung am US-initiierten „Focused District Development"/FDD (Basisausbildung für Distriktpolizei) zugestimmt hatten, begannen im Januar 2009 im Distrikt Deh Dadi/Provinz Balkh deutsche Ausbilder mit dem ersten Zyklus. Pro Distrikt kommt ein Police Mentoring Team/PMT mit je 4 Polizisten, 4 Feldjäger und 2 Sprachmittlern zum Einsatz.

Ein Zyklus umfasst 2-4 Distrikte, geht über 6 Stufen (u.a. Assessment 42 Tage, Training 49 Tage, Mentoring im Distrikt 80 Tage, Sustainment + Overwatch 80 Tage) und dauert 300 Tage. Das GPPT plant bis 2012 die Polizeiausbildung für 40 Distrikte, d.h. in Spitzenzeiten bis zu 17 Distrikte gleichzeitig. Erste Schwerpunkte sind die Provinzen Balkh und Badakhshan. Betont wird, dass FDD zur Exit-strategie gehöre. Bis Ende 2009 plant das BMI bis zu 10 PMT`s und bis Ende 2010 bis zu 20 weitere. Für einen anderen Teil der insgesamt 122 Distrikte im Norden haben die USA die Ausbildung übernommen. Weitere Staaten zeigen Interesse, sich am FDD zu beteiligen.

In Mazar berichten uns deutsche Polizisten, dass die FDD-Praxis inzwischen deutlich über die reine Polizeiarbeit hinaus gehe: Die FDD-Teams verfügen über 5.000 Euro „Handgeld", womit in Abstimmung mit den Maliks und Shuren soziale Projekte realisiert werden können. Diese sollen zur Akzeptanzsteigerung der schlecht angesehenen ANP beitragen. Polizisten wünschen hier eine Einbindung von Maßnahmen der Entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe (ENÜH). Lokalradios informieren über FDD. Als die ersten Polizisten von ihrem 8-Wochen-Kurs im Police Training Center in Mazar in ihren Distrikt zurückkehrten, wurden sie von 300 Menschen begrüßt.

Kernprobleme: Die Mentoringzeit ist mit 80 Tagen bei weitem zu kurz angesetzt. Damit sind Rückfälle und Nicht-Nachhaltigkeit vorprogrammiert. Die Weiterversetzung von ausgebildeten Polizisten wirft den entstandenen Teamgeist wieder zurück. Die Geschwindigkeit des Polizeiaufbaus bleibt deutlich hinter der Geschwindigkeit der Verschlechterung der Sicherheitslage zurück.

Deutsche Polizisten erhalten bei GGPT einen um 60 Euro geringeren Tageszuschlag als bei EUPOL! (ca. 130/190 Euro)

Die Project Implementation Unit (PIU) der GTZ ist im Auftrag des AA und in Abstimmung mit GPPT bzw. EUPOL zuständig für die Planung und Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen, Ausrüstung und inhaltlichen Programm-Modulen.

In Kabul besichtigen wir direkt neben der Polizeiakademie den Rohbau der Grenzpolizeifakultät. Sie ist mit 6,5 Mio. Euro Gesamtvolumen die größte Baumaßnahme von PIU und wird von Kanada mit finanziert. Das Hauptquartier der Nationalen Bereitschaftspolizei (ANCOP) ist fast fertig gestellt und wird von den Vereinigten Arabischen Emiraten mitfinanziert. Das Hauptquartier Verkehrspolizei ist zzt. im Bau, ebenfalls das Dienstgebäude der Grenzpolizei am Flughafen Kabul. Angesichts dieser handfesten Aufbaufortschritte betont dt. Polizist, dass doch was geschehe. Er könne die AFG-Berichte im Internet nicht mehr sehen. Und bei „Anne Will" sei so sachfremd über AFG gesprochen worden. Da werde ihm speiübel. Die Ressortzusammenarbeit, so ein anderer dt. Experte knirsche noch was, aber mehr in Berlin und Bonn als hier. Seit Obama sei die Zusammenarbeit mit den USA dramatisch einfacher geworden.

In Feyza besichtigen wir den fortgeschrittenen Rohbau des Polizeihauptquartiers der Provinz. Unsere Führer sind jeweils äußerst erfahrene Experten/Ingenieure der GTZ.

Weitere Baumaßnahmen von PIU sind die Außenstelle der Polizeiakademie in Mazar, das Police Training Center in Mazar für 200 Polizeischüler (Besuch in Juli und August 2008), das Police Training Center in Kunduz für 100 Polizeischüler. Parallel zum FDD ist PIU verantwortlich für die Errichtung von Distrikthauptquartieren (DHQ) und Checkpoints. Die bisherigen DHQ befinden sich z.T. in einem katastrophalen Zustand. Oft fehlt eine Grundausstattung. Die DHQ`s sollen zu Beginn der 2. Phase von FDD (Übernahme eines Distrikts durch ANCOP) fertig gestellt sein. Bis 2011 sollen alle Distrikte im Norden abgedeckt sein. Ihre Ausstattung ist standardisiert.

Der Koordinierungsbedarf mit der US-Seite ist hoch. In Feyza errichteten die USA z.B. neben dem ANP-Hauptquartier unabgesprochen ein Polizeikrankenhaus. Weil die US-Amerikaner hier nicht rausfahren, laufe die Bauleitung aus der Ferne, geschehe die Umsetzung oft durch Kabuler Firmen und mit Materialien aus Pakistan. Zum Beispiel sind die Dächer aus teurerem Industriewellblech, im Unterschied zu den umliegenden Gebäuden mit den afghanischen Blechdächern. Im Ergebnis werden solche Baumaßnahmen dreimal so teuer.

Darüberhinaus führt PIU mit Hilfe einer NGO Alphabetisierungskurse für Polizisten in 5 Nordprovinzen durch. Bisher sind 70% der Polizisten gar nicht und 16% mangelhaft alphabetisiert.

Im August waren in AFG 22 deutsche Langzeitexperten, 40 Kurzzeittrainer und 20 Polizisten im Rahmen von FDD sowie 45 Feldjäger. Für GPPT stehen in 2009 43,2 Mio. Euro zur Verfügung.

Bei dem GPPT-Briefing erblicke ich auf dem Stellenplan den Namen eines Polizeibeamten aus Münster, den ich vor Jahren im Kosovo kennenlernte und der in wenigen Tagen seinen Dienst als stellv. GPPT-Leiter aufnehmen wird. Viel Glück!

(2) Europäische Polizeimission EUPOL: Der 2007 vom Deutschen Polizeiprojekt übernommene Gebäudekomplex am Anfang der Jalalabad Road ist inzwischen enorm expandiert und festungsartig gesichert. Bei unverändertem Mandat wurden im Juni 2009 6 neue Prioritäten (darunter Polizeiausbildung und Rechtsstaatlichkeit) festgelegt. Zentrale Projekte sind: Kabul City Security Project, Aufbau der Task Force Organized Crime. Zzt. sind 96.800 Polizisten genehmigt, eine Aufstockung auf 160.000 ist in`s Auge gefasst. Angesichts eines jährlichen „Schwunds" von mindestens 25% der Polizisten müssten pro Jahr 40.000 Polizisten ausgebildet werden, um die 160.000 in absehbarer Zeit zu erreichen.

Hinter diesen Herausforderungen bleibt EUPOL weit zurück. Die Rekrutierung läuft weiterhin zu langsam. Von im August 246 Missionsangehörigen kommen 46 aus Deutschland. Unverständlich ist, dass Berlin keinen Nachfolger für den bisherigen dt. stellvertretenden Missionschef benannt hat.

Mazar-e Sharif/Provinz Balkh

Der Flug von Kabul nach Mazar wird etwas landestypisch. Kurz vor Ankunft am militärischen Terminal des Kabuler Flughafens erfahren wir, dass unser Flug ISAF 63 (dt. Transall) wegen starker Bewölkung und zu schlechter Sicht gestrichen wurde. Über Khalid Dayani, Deutsch-Afghane aus Frankfurt und Chef von „Afghan International Services", erhalten wir als einzige unter den Wartenden dann doch noch Plätze in einer US-Hercules nach Mazar.

Wir kommen gerade im Camp Marmal, Foward Support Base für ISAF in der ganzen Nordregion und Sitz des Regional Command North, an, als schon eine schlechte Nachricht aus Kunduz eintrifft: Bei einer Gesprächsaufklärung im Distrikt Chahar Darreh 12 km südlich des PRT kam es zu einem 40-minütigen Feuergefecht, wobei ein Bundeswehrsoldat schwer am Kopf und 8 Soldaten leicht verletzt wurden. Luftnahunterstützung war vor Ort, kam aber nicht zum Einsatz.

Beim Frühstück lerne ich den türkischen Generalkonsul von Mazar kennen. Seine diplomatische Vertretung für den Norden umfasst 8 Mitarbeiter. Bisher unterhalten auch Russland und Indien hier ein Generalkonsuklat, die USA wollen eines im nächsten Frühjahr eröffnen. Der dt. AA-Vertreter in Mazar hat 9 (!) Gouverneure als Ansprechpartner, er ist auf sich gestellt, hat keinen Vertreter und keinen Mitarbeiter. Bei Heimaturlaub ist die Stelle vakant. Es gelte weiter der Grundsatz des Haushaltsausschusses des Bundestages, dass zusätzliche Stellen durch Streichungen woanders kompensiert werden müssten.

Am Ausgang des großen Speisesaals springen mir zwei besondere Plakate ins Auge: „Ramadan 2009 Taschenkarte" und „Ramadan 2009 Verhaltensregeln" mit dem ISAF-Zeichen. „ISAF-Soldaten sollten u.a.

-       die islamischen kulturellen Gebräuche im Monat des Ramadan besonders berücksichtigen

-       in Gegenwart von Afghanen (und anderen Muslimen) tagsüber nicht essen, trinken, rauchen oder Kaugummi kauen

-       keine nackte Haut zeigen und insbesondere die Ärmel herunterkrempeln

-       Afghanen an den letzten 3 Tagen des Eid al-Fitr/Eid e Ramadan ihre Glückwünsche aussprechen: „Eid-e-Taan Moarak" in Dari, „Akhtatar de Mobarak" in Paschtu."

Die zweimal 34 Zeilen Erläuterungen und Verhaltensregeln gibt es auch als echte Taschenkarte, die in jede Brusttasche passt.

Vor einigen Tagen war die Grundsteinlegung für das muslimische Gebetshaus gemeinsam mit örtlichen Geistlichen. Zurzeit arbeiten in Camp Marmal bis zu 1.000 Einheimische.

Auf der morgendlichen Fahrt vom riesigen Camp Marmal nach Mazar kommen wir an einer festungsartigen Anlage vorbei, die sich als neu errichtetes Großlager für landwirtschaftliche Produkte entpuppt. An der Hauptstraße nach Mazar rein steht alle paar hundert Meter eine Tankstelle. Im Unterschied zum Kosovo, wo Tankstellen vor allem Geldwaschanlagen sein sollen, sei die Tankstellendichte hier tatsächlich ein Zeichen von Prosperität. Auffällig sind die Kreisverkehre mit Denkmälern, kleinen Parks, die Geschäfte und vielen „Wedding Halls", das geschäftige Treiben auf den Straßen. Es heißt, der Gouverneur habe seine reichen Freunde dazu veranlasst, in der Stadt zu investieren. Im Zentrum die prachtvolle Blaue Moschee mit dem großen Park drum herum. Verglichen mit Kabul sind viel weniger Sicherheitskräfte auf den Straßen.

Zuerst Gespräch mit dem Vorsitzenden der Menschenrechtskommission, der die Menschenrechtslage und die Bemühungen zu ihrer Verbesserung skizziert. Das größte Problem sei die Korruption in der Verwaltung und die Arbeitslosigkeit, wo es an Programmen zur Arbeitsförderung mangele. Die Taliban böten eine „schnelle Justiz", hätten aber mit Menschenrechten nichts zu tun. Das zeigen ihre Tötungen und ihr Umgang mit Frauen und Kindern. Nicht gut sehe es mit den Rechten der Frauen vor allem auf dem Land aus, wo junge Frauen noch zu früh verheiratet würden und junge Frauen bei Streitigkeiten als „Entschädigung" angeboten würden.

Der Gouverneurspalast ist umgeben von anderen zentralen Behörden und ausgesprochen repräsentativ. Der Gouverneur Atta Mohammed Noor, früherer Lehrer, Mujahedin-Führer und Nordallianz-Kommandeur, seit 2004 dynamischer Provinzgouverneur und Unterstützer des Präsidentschaftskandidaten Abdullah Abdullah, empfängt uns inmitten seines Vize, des Verwaltungschefs und mehrerer Minister. Er dankt für die deutsche Aufbauhilfe und lobt sie als eine ohne Eigennutz. Ausdrücklich begrüßt er das Umspannwerk, den Flughafenausbau (70 Mio. Euro-Projekt zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten) und das Provinzkrankenhaus als Leuchttürme der deutschen Hilfe.

Die internationale Unterstützung habe die Wahlen überhaupt ermöglicht. Unglücklicherweise sei viel gefälscht worden. 10% wären keine große Sache gewesen. Aber jetzt sei der Betrug maßlos gewesen. Erst müsse die Untersuchung der Beschwerdekommission angewartet werden. Aber die Verantwortlichen für die Betrügereien müssten zur Rechenschaft gezogen werden, auch Mitglieder der Unabhängigen Wahlkommission. Er sei gegen eine Stichwahl vor dem Winter. Das Oberste Gericht könne bis zum 2. Wahlgang die Übergangsregierung bilden, Gouverneure und Minister müssten ausgetauscht werden, auch die Unabhängig Wahlkommission.

Die Entwicklung des Landes insgesamt verlaufe sehr ungleich in den Regionen mit Kampf und den friedlichen Regionen. In Balkh habe er inzwischen einen Fünfjahresplan zur Entwicklung der Provinz in 8 Feldern (Landwirtschaft, Produktion, Handel, Trinkwasser, Gesundheit, Bildung, dörfliche Infrastruktur, Sicherheit) herausgegeben. Er überreicht mir das dickbändige, auch in Englisch erschienene Werk.

Vor der Ausbreitung der Taliban/Aufständischen habe er schon lange Regierung und ISAF gewarnt. Aber keine habe zugehört. Damals wären Gegenmaßnahmen leichter gewesen. Jetzt hätten sie sich eingenistet und ihre Basen. Vor allem Hizb-e-Islami habe erheblichen Einfluss. Aber es sei noch nicht zu spät. Gefragt seien starke und angesehene Gouverneure, ein Netzwerk einflussreicher Personen, auch Dialog und Aufbauhilfe. Zugleich müsse auf Basis von Geheimdienstinformationen hart gegen Terroristen vorgegangen, gekämpft werden.

Die verkehrte, nur auf den Süden blickende - und den Norden vernachlässigende - Politik sei die Ursache dafür, dass zunehmend der Norden verloren gehe. Dringend müsse die Polizei besser ausgebildet werden, auch ANA und Geheimdienst. Andernfalls sterben weiter ausländische Söhne.

Statt mehr ausländische Soldaten zu schicken solle mehr in Aufbau investiert werden. Die Taliban sollten aus eigener afghanischer Kraft bekämpft werden. ´Wir kennen unsere Berge, haben unsere Erfahrungen`.

Seine wichtigste Botschaft nach Deutschland sei:

-       Damit die Grundlagen der Demokratie nicht verkehrt gelegt werden, müssen die Fälschungen schonungslos offen gelegt werden

-       Der Wiederaufbau müsse ausgeglichen in ganz AFG erfolgen

-       Die Stärkung der ANA sei wichtiger als weitere ausländische Soldaten

-       Die Strategie müsse einheitlicher werden und das Durcheinander überwunden werden.

Beim Geschenkeaustausch überreiche ich dem lachenden Machthaber die CD „Ode an die Freiheit", die unter Leonard Bernstein am 25.12.1989 nach dem Mauerfall aufgeführte 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven. Zur Europahymne erzähle ich einiges von den hoffnungsvollsten Zeiten in der Geschichte des Kriegskontinents Europa.

(Menschenrechtsorganisationen werfen dem Gouverneur massive Menschenrechtsverletzungen vor.)

Nach dem langen Tag in Mazar, nach Camp Shaheen, Radio NEVAD, UNAMA, Teacher Training Center, Gesprächsrunden mit deutschen Entwicklungshelfern und Polizisten im „Deutschen Haus", nach dem Abendessen im Freien im Musikschatten einer Hochzeit (und der Handy-Liveübertragung zur Wahlkampfveranstaltung nach Münster) fahren wir durch die nachtleere Stadt. Die Blaue Moschee ist mit Glitzerlicht illuminiert. Den Strom dafür gibt es umsonst vom Gouverneur. Gegen 23.00 Uhr passieren wir den Polizei-Checkpoint nördlich vom Flughafen. Die Polizisten schlafen im Freien. Das ist ein schlechtes - oder gutes - Zeichen, je nachdem.

Teil 2 des Reiseberichts findet sich hier.

Kompletter Reisebericht als PDF-Datei findet sich hier.


Publikationsliste
Vortragsangebot zu Riga-Deportationen, Ghetto Riga + Dt. Riga-Komitee

Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.

1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.

Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)

Vorstellung der "Toolbox Krisenmanagement"

Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de

zif
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.

Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.:

Tagebuch