Nachtwei in "Strategie & Technik": Letzte Chance für Afghanistan?
Von: Webmaster amFr, 17 April 2009 14:45:43 +02:00Folgenden Beitrag verfasste Winfried Nachtwei für die Zeitschrift "Strategie & Technik":
Letzte Chance in Afghanistan?
Winfried Nachtwei MdB, Obmann der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss und im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle
Die Wählerregistrierung in Afghanistan lief viel ungestörter als erwartet. In der Nordprovinz Balkh gingen 2008 die Sicherheitsvorfälle um sieben Prozent zurück, in Sah Pul sogar um 87 Prozent auf zwei Vorfälle. Für dieses Jahr erwartet die UN- Drogenbehörde einen weiteren Rückgang von Anbaufläche und Opiumproduktion, einen Anstieg der mohnfreien Provinzen im Norden und Zentrum von 18 auf vielleicht 22. Die politischen Beziehungen zwischen Kabul und Islamabad haben sich deutlich verbessert. Das alles sind gute Nachrichten, die viel zu wenig Beachtung finden und als Chancen genutzt werden.
Die werden aber von äußerst beunruhigenden Trends überschattet. Dass diese regional sehr verschieden ausgeprägt sind, ist nur ein befristeter Trost. Anfang März überschritt die Zahl der Sicherheitsvorfälle pro Woche die 200. Im Vorjahr wurde diese Marke Ende Mai überschritten. In den ersten neun Monaten 2008 stiegen die Sicherheitsvorfälle im Vergleich zum Vorjahrszeitraum in Kandahar um 54 Prozent auf 820, in Helmand um 188 Prozent auf 490, in den Kabul-Anrainer-Provinzen Wardak um 47 Prozent auf 241, Kapsia um 162 Prozent, in der Nordwestprovinz Badghis um 163 Prozent auf 121 und in Kunduz um 291 Prozent auf 125. Die Attacken auf Regierungsangehörige nahmen um 124 Prozent zu, „surface-toair fire" um 67 Prozent. Der Anstieg der Zivilopfer im Jahr 2008 gegenüber 2007 um 40 Prozent auf über 2 000 Menschen ist ein Menetekel.
Die Aufständischen gewinnen an Kampfkraft, auch wenn ISAF, ANSF und OEF auf taktischer Ebene praktisch immer „siegen". Die für Regierungsvertreter und Hilfsorganisationen unzugänglichen Gebiete wachsen. Eine breite Einschüchterungs- und Terrorkampagne zielt darauf, die Bevölkerung von der Zusammenarbeit mit ISAF und der Regierung abzuschrecken.
Die politische Unterstützung für die Taliban verharrt weiterhin auf niedrigem Niveau. Allerdings sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Internationale. In Teilen des Landes scheint der Kampf um Köpfe und Herzen zurzeit verloren. In anderen Regionen verbreitet sich die abwartende Haltung des „fence sitting". Wo sich eine solche „Neutralität" verfestigt, kann eine Aufstandsbewegung nicht eingedämmt werden, ist die Niederlage eine Frage der Zeit.
Die Gewaltspirale dreht sich mit einer Dynamik, die politisch nur noch begrenzt durchzuhalten ist. Wie sie gestoppt und umgedreht werden kann, wie der Kampf um Legitimität in diesem Wahljahr bestanden werden kann, ist die strategische Schlüsselfrage. Die neue US-Administration stellt sich diese Frage mit Nachdruck. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz war der Wille zur Repolitisierung der US- Afghanistanpolitik und zu einer umfassenden Strategieüberprüfung unüberhörbar.
Richtigerweise steht der regionale Ansatz einer Konflikteindämmung zusammen mit Pakistan, Iran, Indien und anderen Anrainern an erster Stelle.
Die Ernennung des diplomatischen Schwergewichts Richard Holbrooke zum US-Sonderbeauftragten für AFPAK, die Initiierung einer Internationalen Afghanistan-Konferenz unter Einbeziehung der Afghanistan- Anrainer sind wichtige erste Schritte.
Ein unideologischer Realismus zeigt sich in der differenzierten Wahrnehmung der Aufständischen und dem forcierten Bemühen um politische Konfliktlösungen mit denjenigen, die potenziell ansprechbar sind, aber auch in der Suche nach erreichbaren und überprüfbaren Aufbauzielen. Nachdem die Staatengemeinschaft zu lange nur den top-down-Ansatz (Förderung zentralstaatlicher Institutionen) verfolgt hatte, geht jetzt endlich der Blick mehr auf lokale Strukturen und Akteure. Hier war übrigens deutsche Politik mit Förderung des Tribal Liaison Office seit 2003 über die Heinrich Böll Stiftung ausgesprochen weitsichtig.
Die begonnene Aufstockung des US-Kontingents um mindestens 17 000 Soldaten ist eine zwiespältige Angelegenheit. Sie soll schwache Präsenzen in der Umgebung Kabuls stärken, das „hold and build" in den Distrikten nach dem „clear" ermöglichen und Luftwaffeneinsätze zur Unterstützung von Bodentruppen reduzieren. Wenn die US-Truppen vor Ort aber nicht den Schutz der Bevölkerung und den Respekt vor den Einheimischen praktizieren, dann werden mehr US-Soldaten nur auf viel mehr Krieg hinauslaufen. Eine „Nebenfolge" wird sein, dass Aufständische vor der amerikanischen Massivpräsenz in Süden und Zentral nach Norden ausweichen werden.
Das Auswärtige Amt hat mit der Ernennung von Botschafter Mützelburg zum Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan auf die US-Initiativen reagiert. Diese gute, wenn auch nicht ressortgemeinsame Personalentscheidung kann nicht davon ablenken, dass die Bundesregierung noch nicht den Ernst der Lage erkannt zu haben scheint. Deutsche Afghanistanpolitik hat Grund zu Selbstbewusstsein, aber nicht zu Selbstgerechtigkeit. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses erfahre ich immer wieder Beschönigungen, Ausblendung der Gesamtentwicklung, Verzicht auf Zieldefinitionen und Wirkungsanalysen, insgesamt ein politisch halbherziges Engagement. Angesichts der gefährlichen Abwärtsdynamik in Afghanistan ist das grob fahrlässig. Gegenüber den Millionen Afghanen, die immer noch ganz besonders auf Deutschland setzen, gegenüber den Tausenden Soldaten und Hunderten Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten aus Deutschland, die in Afghanistan Bewundernswertes leisten, ist das unverantwortlich.
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