"Sind wir in Afghanistan gescheitert?" Pro + Contra in Publik-Forum 5/2021

Von: Nachtwei amDo, 18 März 2021 11:23:55 +02:00

Auf die Frage antworten Ellinor Zeino, Landesdirektorin der Konrad Adenauer Stiftung für Afghanistan, und W. Nachtwei.



„Sind wir in Afghanistan gescheitert?“

Pro + Contra in Publik-Forum 5/2021

https://www.publik-forum.de/menschen-meinungen/sind-wir-in-afghanistan-gescheitert

Meine Antwort unter der von der Redaktion gesetzten Überschrift

„Ja, und wir sollten daraus lernen!“ (1)

Vor fast 20 Jahren begann der internationale Afghanistaneinsatz, der mit der Zeit zum größten, kompliziertesten, teuersten und bei weitem opferreichsten Kriseneinsatz der (westlichen) Staatengemeinschaft, der NATO und Deutschlands wurde.

Der vor allem von den USA geführte Antiterrorkrieg war ein Desaster. 2017 berichtete die US-Regierung, dass es im Raum Afghanistan/Pakistan die größte Konzentration von Terrorgruppen weltweit gebe.

Nach dem schnellen Sturz der Taliban sollte das von 23 Kriegsjahren zerrüttete Land im Auftrag der UNO  stabilisiert, sollten verlässliche Staatlichkeit und Entwicklung gefördert und durch die internationale Unterstützungstruppe ISAF abgesichert werden.

So berechtigt die Oberziele des internationalen Einsatzes und so hoffnungsvoll seine ersten vier Jahre waren, so widersprüchlich und unrealistisch war die Umsetzung dieser Ziele.

Ein Teil der Bevölkerung erlebte wichtige Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, Grundbildung, mit neuen Freiheiten. Erfolgreich waren lokal eingebettete Projekte.

Bei 20 Besuchen vor Ort habe ich sehr viele zivile, militärische und polizeiliche Entsandte kennen- und ihre Leistungen hoch schätzen gelernt. Sie arbeiteten für mehr Frieden.

Aber die zentralen Sicherheits- und Aufbauziele wurden nicht erreicht. Sicheres Umfeld? 2019 entfielen 41% aller Terrortoten weltweit auf Afghanistan. Der afghanische Staat gilt als extrem korrupt. Mehr als die Hälfte der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.

Gravierende Fehler der Staatengemeinschaft trugen wesentlich dazu bei: mangelndes Konfliktverständnis, strategische Dissense, Machbarkeitsillusionen, mangelnde Evaluierungen, verpasste Chancen. Es war ein kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten, aus dem endlich gelernt werden muss.

(1) Anmerkung: Ich selbst spreche nicht explizit von „Scheitern“, auch wenn ich eindeutig feststelle, dass wesentliche Ziele des internationalen Einsatzes trotz enormen Mittel- und Personalaufwandes verfehlt wurden und dass dies wichtige Teilfortschritte in den Schatten und in Frage stellt. Ich meide das Pauschalurteil „Scheitern“,

- weil das  bis heute erfolgreiche Leistungen vieler AfghanInnen und internationaler Unterstützer ignoriert und abwertet (vgl. meine „Kleine Bilanz“ auf http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1669 ) und

- weil ein Afghanistan als nur noch „hoffnungsloser Fall“ nahelegt, das Land, seine Menschen – mit Begleitmanövern zur Gesichtswahrung - faktisch  aufzugeben, mit garantiert schwerstwiegenden Folgen für die menschliche, regionale und internationale Sicherheit.

„Nein, es gibt heute starke zivile Kräfte!“

So die Antwort von Ellinor Zeino, Landesdirektotrin der Konrad Adenauer Stiftung für Afghanistan:

Afghanistan befindet sich noch immer in einer gesellschaftspolitischen Umbruchphase. Der Entwicklungsprozess ist nicht abgeschlossen, die Wunden des Bürgerkriegs nicht verheilt. Das Land ist heute jedoch ein anderes als noch vor zwanzig Jahren, als die Taliban es beherrschten. Die Errungenschaften liegen vor allem in der Meinungsfreiheit, einer offenen Debattenkultur und einem Medienpluralismus, der einzigartig in der Region ist und sich deutlich von den staatlich kontrollierten Medien in den Nachbarstaaten unterscheidet. Afghanistan hat eine breite, aktive Zivilgesellschaft. Frauen sind in Regierung und Parlament, in Gerichten und Sicherheitskräften vertreten, genießen Bildung.

Der Westen und die internationale Gemeinschaft mussten sich jedoch teils von früheren Zielen und Erwartungen verabschieden. Der internationale Afghanistan-Einsatz wurde zum Lernprozess für alle Beteiligten. Heute wird der Friedensprozess und die Aushandlung einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung als innerafghanische Angelegenheit bewertet. Die neue Ordnung muss, wenn sie einen nachhaltigen Frieden schaffen soll, ein inklusiver Kompromiss sein, in dem sich alle Seiten wiederfinden. Eine stabile Ordnung muss die lokalen Realitäten widerspiegeln und die Diversität der Lebenswelten auf Basis einer friedlichen Koexistenz schützen. Afghanistan steht heute an einem Wendepunkt. In welche Richtung sich das Land und der Friedensprozess entwickeln, ist unklar. Seit zwanzig Jahren war Afghanistan noch nie so nah an einer politischen Verhandlungslösung zwischen Verfechtern einer afghanischen Republik und der radikal-islamischen Taliban-Bewegung. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Es wäre aber ein Fehler, das Land als gescheitert aufzugeben.
Kommentare

thomasruttig 11.03.202109:37

natürlich ist der afghanistan-einsatz gescheitert. der krieg dauert weiter an, in anwesenheit westlicher truppen ist er der intensivste konflikt weltweit geworden – mit 30% aller kriegsopfer im letzten jahr, dem weltweit größten anteil . die materiellen kriegsschäden betrugen im letzten jahr 51% des bruttoinlandsprodukts. der anteil der beveölkerung unter der armutsgrenze war schon vor ausbruch der coronakrise wieder so hoch wie beim sturz der taleban (über 60% laut weltbank, über 80% laut UNO). welche maßstäbe für ein scheitern braucht man sonst noch? das bedeutet natürlich nicht, dass man afghanistan "aufgeben" soll - aber hierzulande sollte man sich klar darüber werden, dass wir zu dieser katastrophe (für die afghanischen menschen!) beigetragen haben. deshalb muss man daraus auch lernen, wie w. nachtwei schreibt. aber die bundesregierung verweigert eine unabhängige, öffentliche gesamtevaluierung des einsatzes.

thomas ruttig, ko-direktor afghanistan analysts network (kabul/berlin)
Franz Foltz 12.03.202116:36

Kabul ist nicht Afghanistan und es ist sicher das Vorrecht von Frau Heino, die Debatte unter dem Aspekt positiver Erfahrungen im Land zu beurteilen. Aber als interessierter Beobachter der Berichterstattung über Afghanistan in verschiedenen Medien muss ich Herrn Nachtwei Recht geben; sollten sich die Isaf Streitkräfte zurück ziehen, erwarte ich eine erneute Machtübernahme durch die Taliban.
Georg Lechner 13.03.202118:20

Der militärische Einsatz war von Anfang an verkorkst, denn es ging primär um geostrategische Interessen (siehe auch den Beitrag von Hans-Ulrich Seidt in "Orient" 3/2004) und eben nicht um die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte. Daher war den USA (entgegen den äußeren Floskeln) das Engagement deutscher und italienischer Soldaten ein Dorn im Auge. Diese Situation bildet auch den Hintergrund des Krimis "Brennende Kälte" von Wolfgang Schorlau.