1979 entstand auch in Münster eine Grün Alternative Liste: Persönliche Erinnerung des Gründungsmitglieds Winni N. "Friedenspolitik auf Hindernis- und Langstrecke"

Von: Nachtwei amMo, 30 Dezember 2019 22:53:18 +01:00

Zu 40 Jahren Grüne: 1979 stieß ich nach einem in meinem Fall politisch radikal-aktivistischen Jahrzehnt zu den bundesweit sprießenden grünen und alternativen Listen, woraus kurz später die Grüne Partei entstand. Hier eine erste persönliche Aufzeichnung von 1979 und ein zusammenfassender Rückblick.  



1979 entstand auch in Münster eine Grün Alternative Liste:

Persönliche Erinnerung des Gründungsmitglieds Winni N.

Winfried Nachtwei (12/2019)

(Fotos auf www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Meine erste schriftliche Aufzeichnung: Fete zur Einweihung der Räume der neuen GAL-Fraktion(aus einem Brief an meine Schwester in Mexiko, 23.12.1979. Ich war seit 1977 Studienrat auf Probe für Geschichte, Politik/Sozialwissenschaften am Clemens-Brentano-Gymnasium in Dülmen/Krs. Coesfeld, unterrichtete Geschichte und Politik/Sozialwissenschaften. Als es um die Verbeamtung und feste Planstelle am CBG ging, stellte sich die Stadt Dülmen quer)

„Liebe Mecki, lieber Norbert,

(…) Bezüglich Dülmen läuft die Auseinandersetzung weiter, zeitweilig hat`s mit Kleiner Anfrage dazu im Landtag, Resolution des Schülerrats, Artikel in der Schülerzeitung – alles in der Lokalpresse veröffentlicht – einigen Staub aufgewirbelt. Inzwischen habe ich die dritte Ablehnung des Schulkollegiums, in Dülmen eine Stelle zu bekommen, mit immer windigeren Begründungen. Gegen die werde ich in diesen Tagen weiteres unternehmen. Um mich ruhig zu stellen, hat man mir drei Schulen angeboten, die von Münster aus gut zu erreichen sind. Ihr fragt euch vielleicht, warum ich nicht nachgebe. Weil ich eine offensichtliche Bestrafung meines Engagements für Jugendliche/JZ nicht hinnehmen kann – würde ich es hinnehmen, hätte das auf mich wie auf andere eine deprimierende Wirkung. Zweitens, weil ich in Dülmen wirklich zu zig Leuten – Schülern., Kollegen und „Dritten“ ein nahes Verhältnis habe, weil ich sehr viele da sehr mag. (…)

Einerseits voller Arbeitsdrang hatte ich gestern andererseits zu nichts Lust, besser zu fast nichts. Bin ich abends noch zur fetenmäßigen Einweihung der Fraktionsräume der GAL (Grüne Alternative Liste) geradelt, es hat sich gelohnt. Seit langem mal wieder eine Fete, wo gespielt wurde, wo einer Gedichte von lustig bis ernst vortrug, wo am Stück getanzt wurde. Überhaupt komisch: Die Natur draußen ist zur Zeit so wenig grün wie selten, doch die Sinne, die Geister vieler, vieler werden hier von Woche zu Woche grüner. Nicht grün vor Ärger wegen Galle, sondern dieses Hoffnungsgrün. In Münster hat sich eine solche Grüne Alternative Loste an den Kommunalwahlen beteiligt und auf den ersten Streich ca. 7000 Stimmen = 6% = 4 Stadträte gewonnen. Da sammelt sich zurzeit alles Oppositionelle, von konservativen Ökologen bis zu allen möglichen linken Schattierungen. Und was das besonders Gute daran ist: Hier reden Leute miteinander, lernen voneinander, die sich früher höchstens den Vogel gezeigt hätten. Das macht auch bei verhangenem Himmel sehr viel Hoffnung. Anfang Januar wird dann eine Bundepartei gegründet – gegen Strauß und Schmidt soll`s dann auf in die Bundestagswahl gehen. (…)“

Persönliche Erinnerung: Friedenspolitik auf Hindernis- und Langstrecke von Winni Nachtwei, veröffentlicht in: „1979-2019 – 40 Jahre Grün in Münsters Rat“, hrsg. von der Ratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, November 2019, https://www.grüne-münster.de/wp-content/uploads/2019/11/chronik_final_klein_compressed.pdf )

Der Protest gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ab 1980 wurde zur größten Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Die neuen Grünen engagierten sich kräftig in der Friedensbewegung und bekamen von ihr Rückenwind.  Die Friedens-AG von GAL-Grünen mit ihren bis zu 40 Mitgliedern verbreitete besonders informative Flugblätter, vertrat blockunabhängige Positionen und beteiligte sich an Aktionen des zivilen Ungehorsams (z.B. Blockade  des 1. Korps am Neutor). Nach erfolgter Raketenstationierung blieben wir am Ball und entwickelten eine umfassende kommunale Friedenspolitik von unten. Um den unsinnigen Bunkerbau entgegenzuwirken, ging ich als sachverständiger Bürger in den Feuerwehrausschuss.

Eine Begegnungsreise der Friedens-AG nach Minsk/Weißrussland 1988 konfrontierte uns mit den Spuren des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Für mich war das ein Anstoß, Täter- und Opferspuren zur NS-Zeit aufzunehmen: Von 1990-1994 begleiteten wir einen Kriegsverbrecherprozess am Münsteraner Landgericht. Und 1989 stießen Angela und ich bei einer Riga-Reise auf die Spuren des NS-Terrors (Ghetto, Massengräber), dem Hunderte Juden aus dem Münsterland zum Opfer gefallen waren. Am 12. Dezember 1989 hielt ich dazu im Grünen „Regenbogensaal“ den ersten Vortrag (es folgten über 200). Was fast 50 Jahre verdrängt und vergessen war, kam jetzt ans Licht. Viele Städte nahmen die Erinnerung an ihre in Riga verschollenen Nachbarn auf. Münster gehörte 1993 zu den ersten Städten, die einen Aufruf für eine würdige „Entschädigung“ der Holocaust-Überlebende im Baltikum unterstützten (1997 lenkte die Bundesregierung ein) und 2000 zu den Gründungsstädten des Riga-Komitees. Bei den Riga-Nachforschungen „entdeckte“ ich auch die „Villa ten Hompel“ und ihre Funktion als Schreibtischtäterort im NS-Terrorsystem (Befehlshabers der Ordnungspolizei im Wehrkreis VI). Dank SPD und Grünen konnte hier 1999 der Geschichtsort Villa ten Hompel eröffnet werden. Diese Erinnerungsarbeit wäre ohne die besondere Unterstützung der Grünen nicht leistbar gewesen.

1994 gelang mir im 3. Anlauf (nach 1983 und 1987) der Einzug in den Bundestag. „Friedenstaube im Verteidigungsausschuss“ hieß es. Der Einsatz für neue Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung und Abrüstung wurde der eine Schwerpunkt. Im Kontext der Balkankriege kam die Friedenstaube aber in schwerste Gewitter. Äußerst konfliktreich und schmerzhaft war der Zielkonflikt zwischen unserem Programmprinzip Gewaltfreiheit und dem dringenden Schutz von Zivilbevölkerung vor Massengewalt. Hinzu kam 1998 der Wechsel aus der (z.T. Fundamental)Opposition in Bundesregierungsverantwortung, wo man bei internationalen Krisen im Hier und Jetzt mit Verbündeten entscheiden muss, in Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns wie Unterlassens. Dass ich im Fall Kosovo die erste bundesdeutsche Kriegsbeteiligung mittrug und damit schuldig wurde, konnten viele Freunde aus Grünen und Friedensbewegung nicht nachvollziehen, für manche wurde ich damit zum „Verräter“. Dass schon zwei Jahre später mit dem Afghanistaneinsatz eine noch härtere Klippe geschafft werden musste, ließ das grüne Boot knapp am Kentern vorbeischrammen. Auch für die Grünen in Münster waren das die härtesten Konflikte ihrer Geschichte. Meine Konsequenz als Bundestagsabgeordneter war seitdem: selbstkritisches Erfahrungslernen und inhaltliche Transparenz; Suche nach konkreten Wegen bei Gewalt- und Kriegsverhütung und Friedenssicherung; Entwicklung neuer Friedensfähigkeiten. Hier konnten wir unter Rot-Grün mit dem Zentrum Internationale Friedenseinsätze, dem Zivilen Friedensdienst, der Deutschen Stiftung Friedensforschung, dem Aktionsplan 2004 wichtige Fortschritte schaffen. Bei rund 40 Besuchen in Konfliktländern untersuchte ich die Praxis der deutschen Kriseneinsätze, ihrer Leistungen und Defizite. Meine Berichte dazu erschienen alle auf www.nachtwei.de . Die Zugriffszahlen liegen zwischen 20.-67.000.

2009 hörte ich freiwillig nach 15 Jahren mit dem Bundestag auf. Nicht aus Frust oder erlöschendem Feuer, sondern weil ein Wechsel angesagt war. Das habe ich keine Minute bereut. Maria und Agnieszka, meine Nachfolgerinnen in Münster und Berlin: klasse! Außerhalb der tagespolitischen Mühle kann ich jetzt selbstbestimmt, mit besten Zugängen und sehr guter Nachfrage weiter für praktische Kriegsverhütung und Friedensförderung arbeiten, reden, schreiben - als freier, loyaler Mitarbeiter im grünen Außendienst. Dass ich als Grüner zu 90% außerhalb der Grünen vortrage, diskutiere, publiziere, finde ich sinnvoll.

(Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, im Beirat Innere Führung/BMVg – Leiter AG „Einsatzrückkehrer“, im Beirat der Katholischen Friedensstiftung, im Vorstand von Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen/DGVN, „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, „Lachen Helfen“, Mitglied in AG Gerechter Frieden von Justitia et Pax, Fachbeirat Europa-Transatlantik der Heinrich-Böll-Stiftung, kooptiert BAG Frieden und Internationales von Bündnis 90/Die Grünen)   

Links zu vertiefenden Beiträgen:

- Hoch-Zeit der Friedensbewegung, Korps-Blockade in Münster, Manöver am Rande des Atomkrieges, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1246

- Begegnungsreise nach Minsk vor 30 Jahren: Anstoß zu mehr Erinnerungsarbeit und friedenspolitische Konsequenzen, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=107&aid=1545

- Als der Krieg nach Europa zurückkehrte: Meine Berichte und Stellungnahmen zu den Balkankriegen und -einsätzen, insbesondere Kosovo, 1995-2019, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=32&aid=1592

- Zivile Krisenprävention – grüner Markenkern in der Friedenspolitik?, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=77&aid=1585

- Krisenprävention – Wie man Frieden schaffen kann, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/krisenpraevention-wie-man-frieden-schaffen-kann

- Die Politik und Afghanistan: Persönliche Bilanz eines parlamentarischen Mitauftraggebers, Auszüge: https://thruttig.wordpress.com/2015/05/07/die-politik-und-afghanistan-personliche-bilanz-eines-parlamentarischen-mitauftraggebers-winfried-nachtwei-mdb-a-d/

- Beiträge zu Afghanistan (ca. 190),

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1393