Srebrenica vor 20 Jahren: "Nie wieder!" und der Ernstfall. Die Zeugin, der Streit, die Lehren

Von: Nachtwei amSo, 26 Juli 2015 15:50:18 +02:00

Mit Srebrenica kehrte Völkermord nach Europa zurück. Reichlich Anlass zu selbstkritischer Rückbesinnung, vor allem aber zum LERNEN. Dazu einige Dokumente, angefangen bei Joschkas "Brief-Bombe" vom 30. Juli 1995, und Angebote.



Srebrenica vor 20 Jahren: „Nie wieder!“ und der Ernstfall

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (Juli 2015)

Die Zeugin – Christine Schmitz, deutsche Krankenschwester in Srebrenica,

DIE SEITE DREI der SÜDDEUTSCHEN am 10. Juli 2015. („Die Zeugin“ von Stefan Klein, http://www.sueddeutsche.de/politik/srebrenica-die-zeugin-1.2558950?reduced=true )

Im März 1995 war die Mitarbeiterin der „Ärzte ohne Grenzen“ aus Tschetschenien zurückgekehrt. Als Ersatz für eine erkrankte Person traf sie am 24. Juni zusammen mit einem australischen Arzt in Srebrenica ein. Am 6. Juli begann der Angriff der bosnisch-serbischen Armee auf die Enklave. Eine Evakuierung war wegen der Bombardierungen nicht möglich. Sie und der Arzt waren die einzigen internationalen und unabhängigen Helfer vor Ort. Sie erlebten die niederländischen UN-Soldaten, die jede medizinische Hilfe verweigerten und keinen einzigen Schuss zur Verteidigung der Enklave abgaben; den Abzug von zehn-, vielleicht fünfzehntausend  Menschen, die versuchten sich durch serbische Linien und vermintes Gelände die 80 km nach Tuzla durchzuschlagen; den Rückzug einiger Tausend, hauptsächlich Frauen und Kinder, auf ein verlassenes Fabrikgelände im Weiler Potocari. Hier begegnete Christine Schmitz General Mladic, den sie aufforderte, die Patienten nicht wegschaffen zu lassen. Er reagierte ungehalten – aber die Patienten blieben. Dann begannen die Selektionen, Deportationen …

„Wenn Christine Schmitz heute an Potocari zurückdenkt, dann findet sie, dass es damals durchaus möglich gewesen wäre, den Massenmord zu erkennen, der da in Vorbereitung war. Es fehlte ja nicht an Indizien. (…)“

„Die Verlorenen“ – Chronik eines angekündigten Massenmordes des Hörfunk-Journalisten Matthias Fink in der ZEIT vom 9. Juli 2015 (http://www.zeit.de/2015/28/massaker-von-srebrenica-serbien-1995-vorhersehen-verhinderung#comments ), Autor von „Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanovic“, Verlag Hamburger Edition.

„Die Lehren aus Srebrenica, 20 Jahre danach“,

Voll zutreffender Gastkommentar von Philipp Rotmann und Sarah Brockmeier vom Global Public Policy Institute (GPPi) in der WELT am 30. Juni 2015

http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article143296971/Die-Lehren-aus-Srebrenica-20-Jahre-danach.html

Deutlich besser als ihr medialer Ruf: UN-Friedensoperationen, ihre Wirksamkeit und Erfolgsbedingungen

Jüngste Berichte (Hochrangige Gruppe für Friedensmissionen) und Studien (Peter Rudolf, SWP-Aktuell Juli 2015) zeigen erhebliche LERN-Bemühungen auf internationaler Ebene  (www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1365 ). Nachdem der Brahimi-Report von 2000 hierzulande kaum wahrgenommen wurde, nachdem mehr als zwanzig Jahre deutsche Beteiligungen an internationalen Kriseneinsätzen durch die politischen Auftraggeber keine systematische Bilanzierung erfuhren, ist die Beachtung der jüngsten internationalen Erfahrungen und Lessons Learned dringlicher denn je. Insbesondere sollten sie in den Prozess Weißbuch 2016 einfließen.

Rückblicke

(1)   Bundestagssondersitzung 13. Juli 1995

(2)   Mein Beratungspapier „Nach Srebrenica: Zusehen? Eingreifen? Oder was?“ 27. Juli 1995

(3)   Joschka Fischers Brief vom 30. Juli 1995 (Link)

(4)   Mein Brief an die FraktionskollegInnen, 25. August 1995

(5)   Offener Brief von Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin, Ludger Vollmer vom 31. Oktober 1995 (Link)

(6)   Interview mit www.gruene.de 15 Jahre nach Srebrenica

(1) In einer Bundestagssondersitzung am 13. Juli 1995 zum Jahressteuergesetz nimmt der Bundestagspräsident zu Bosnien Stellung: die Einnahme der Enklave Srebrenica wird auf`s Schärfste verurteilt, der Bundestag erklärt seine „volle Solidarität“ mit den Opfern.

(2) Am 27. Juli 1995 verbreite ich intern mein Beratungspapier

Nach Srebrenica: Zusehen? Eingreifen? Oder was?

(veröffentlicht im „Maulwurf“, Zeitung von GAL/GRÜNEN Münster August 1995)

„In der ostbosnischen Enklave Srebrenica sind seit 1992 43.000 Menschen eingeschlossen und von Hilfsorganisationen nur unzureichend versorgt. Anfang Juli 1995 greifen Truppen des bosnischen Serbenführers Ratko Mladic die UN-Schutzzone an. Für die nur 200 niederländischen UN-Blauhelmsoldaten gibt es keine Verstärkung. Zur Entlastung angeforderte Luftangriffe kommen nicht zustande. Die Blauhelmsoldaten liefern den Angreifern die Flüchtlinge aus: 23.000 Frauen und Kinder werden nach Tuzla gefahren. Hunderte männliche Gefangene werden außerhalb des UNPROFOR-Lagers erschossen. 15.000 Männer versuchen sich im Fußmarsch über die Berge durchzuschlagen. Die Truppen der bosnischen Serben bringen etwa 8.000 Muslime aus Srebrenica auf der Flucht um.

„Innerer Frieden“

Am 30. Juni beschloss der Bundestag die Entsendung von Bundeswehreinheiten nach Ex-Jugoslawien. Aus den Reihen der Opposition sprachen auffällig viele AußenpolitikerInnen und viele gerade derjenigen PolitikerInnen für die Regierungsvorlage, die seit Jahren besonders intensiv und menschlich mit den Angegriffenen verbunden sind. Zugleich war unverkennbar, dass vielen in Regierung und Koalition ziemlich mulmig zumute ist.

Die bündnisgrüne Fraktion hat die Debatte mit wider Erwarten großer Geschlossenheit und zugleich Ehrlichkeit durchgestanden. Viele waren erleichtert, dass die Zerreißprobe an uns vorüber ging. Zugleich standen viel mehr von uns, als nach außen sichtbar wurde, in einem höchstgradigen Gewissenskonflikt zwischen zwischenmenschlich-antifaschistischer und pazifistischer Grundhaltung und innergrünen Erwägungen. Der innere Frieden, unser Parteifrieden blieb gewahrt.

Naher Krieg

Völlig entgegengesetzt die Entwicklung des nahen Krieges in Bosnien. Nach dem 30. Juni war schnell Schluss mit der relativen Entspannung nach der Massengeiselnahme von Blauhelmen. Die serbische Aggression eskalierte zur Stürmung von „Schutzzonen“, der Selektion, Massakrierung und Vertreibung tausender Menschen – unter den Augen der Weltöffentlichkeit, in Anwesenheit der internationalen „Gemeinschaft“ in Gestalt von VN-Blauhelmen. Karadzic und General Mladic kündigten die Eroberung „aller muslimischen Enklaven bis zum Herbst“ an, falls diese nicht „vollständig entmilitarisiert“ würden.

Fischer`s „Briefbombe“

In diesen Tagen der fortschreitenden serbischen Aggression entstand Joschkas Brief an die ParteifreundInnen, eine Woche vor der kroatischen Offensive, der Rückgewinnung der Krajina, der Befreiung des belagerten Bihac und der serbischen Massenflucht.

Zu Recht sieht er die Folgen des zu diesem Zeitpunkt unaufhaltsam erscheinenden serbischen Sieges dramatisch. (...) In Europa sind Krieg und Vertreibung wieder zu einem erfolgversprechenden Mittel der Politik geworden. Nüchtern beschreibt er das Versagen Westeuropas und der internationalen „Gemeinschaft“, in der es niemals einen politischen Willen, nur gegenläufige Interessen gegenüber dem Krieg in Ex-Jugoslawien gegeben habe.

Wider längeres „Wegducken“ und „Durchlavieren“ ruft Fischer dazu auf, der politischen Debatte nicht auszuweichen und Farbe zu bekennen. Auch ich beobachte seit Jahren dieses politische Wegducken in friedensbewegten und linken Kreisen, das sich oft hinter allen möglichen Ausflüchten verbirgt. Höchst engagierte Organisationen wie das Komitee für Grundrechte und der Bund für Soziale Verteidigung scheinen eher die Ausnahme von der Regel zu sein.

Ausgehend von der – zum Teil falschen – These, alle bisherigen Mittel wie Embargo, Schutzzonen, Kontrolle schwerer Waffen, Verhandlungslösungen hätten versagt, sieht Fischer nur noch die zugespitzte Alternative Weichen oder Widerstehen gegenüber den verbliebenen Schutzzonen: Abzug oder militärische Verteidigung. Er spricht sich für ihre militärische  Verteidigung aus, weil es zu ihr nur schlimmere Alternativen gebe.

Bei diesem Bekenntnis bleibt Fischer stehen, zu Umsetzungs- und Erfolgschancen nimmt er kaum noch Stellung. Hier setzen berechtigte Kritiken an. Kritiken hingegen, die seine konkrete Problemstellung (verzweifelte Lage der Schutzzonen) negieren und ihn zu einem Befürworter einer „militärischen Konfliktlösung“ dämonisieren, praktisieren eine Diskussionsunart, die nur die Gegnerbekämpfung im Sinn hat, in der Sache aber keinen Deut weiterbringt.

Bekenntnisdebatten um Grenzen des Pazifismus und Militär gab es reichlich und meist fruchtlose. Ob jetzt nur noch Gewalt hilft oder Militär weiter keine Lösung ist, angesichts der konkreten Kriegsrealität in Bosnien zu überprüfen.

Akute Schlüsselfragen

Bei der Bundestagsdebatte hatten wir zur Tornado-Entsendung Stellung zu beziehen. Innenpolitische Erwägungen und die Perspektiven deutscher Außenpolitik spielten dabei legitimerweise eine besondere Rolle. Die Argumente stimmen weiter.

In diesen Wochen müssen wir uns aber den Fragen stellen, zu denen die Gegner der Bundeswehrentsendung (also auch ich) in der Bundestagsdebatte nichts sagten, wozu wir auch keinerlei Antwort hatten:

Wie kann die Zivilbevölkerung wirksam geschützt und versorgt werden?

Wie kann die fortschreitende serbische Aggression gestoppt werden?

Wie kann der Totalabzug der Blauhelme verhindert, ihre Präsenz wirksamer gemacht werden?

Was hilft kurzfristig, was nur langfristig?

Völlig zu recht insistieren wir auf den Einsatz nichtmilitärischer Druckmittel, einem wirksamen Embargo, dem Aufnahmeangebot an Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ... Aber offenkundig können diese Maßnahmen nur mittelfristig wirken. Grundsätzlich richtig ist die Forderung, Anti-Kriegsgruppen zu unterstützen. Der Haken daran ist nur, dass die in Serbien zzt. auch nach eigener Einschätzung völlig randständig sind; dass die in Bosnien alle den bosnischen Verteidigungskampf unterstützen.

Aber was hilft kurzfristig?

Das Bekenntnis, man habe kein Patentrezept und es gebe keine kurzfristigen Lösungen, ist richtig, entbindet aber nicht von der Verpflichtung, nach Antworten zu suchen.

Zurzeit bestehen für die „Staatengemeinschaft“ bezogen auf den Blauhelmeinsatz folgende Optionen:

Weiter wie bisher mit starken Worten, viel Verhandeln und realer Tatenlosigkeit;

Abzug der Blauhelme und Aufhebung des Waffenembargos nach dem ehrlichen Eingeständnis, dass man zu einem echten Schutz nicht bereit ist;

Evakuierung der Eingeschlossenen und Aufgabe der Schutzzonen;

Militärische Verteidigung der letzten Schutzzonen und Schaffung eines Versorgungskorridors; offene Parteinahme für die Angegriffenen. (Hierzu ist kein westlicher Staat bereit)

Alle Optionen beinhalten Eskalationsrisiken, beim Blauhelmabzug wären sie am gefährlichsten. Ist die Lage so verfahren, dass es nur noch schlechte Handlungsmöglichkeiten gibt, nicht einmal mehr ein kleineres Übel? Einsatz für die Menschenrechte, Solidarität mit Opfern und Gewaltfreiheit: Wie bekommen wir das angesichts des Krieges in Bosnien noch in Einklang – ohne Wegsehen, ohne Ausflüchte, ohne Kollaboration mit Tätern, ohne Naivitäten und Begünstigung militärischen Denkens?“

(3) Joschka Fischer`s zwölfseitiger Brief vom 30. Juli 1995

an die grüne Bundestagsfraktion und die Partei. Unter der Überschrift "Die Katastrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN" plädierte er für „militärischen Schutz der Schutzzonen am Boden und in der Luft“.

(Vgl. Dokumente zum Krieg in Bosnien-Herzegowina, August bis September 1995, hg. vom AK V der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Gerd Poppe, MdB, mit acht Reaktionen auf Joschkas Brief, fünf parlamentarischen Initiativen, Initiativen zur humanitären Hilfe und Reisebericht Sarajevo, Zagreb, Ljubljana, Belgrad, Presseerklärungen und vier Diskussionsbeiträgen zum Bundeswehreinsatz.)

(4) Winni Nachtwei: Brief an die FraktionskollegInnen vom 25.8.1995

„In Schützengräben für Gewaltfreiheit? Debatte statt Glaubenskrieg um das Fischer-Papier!

Die Art und Weise vieler Reaktionen auf den Brief von Joschka Fischer nötigt mich zu einem dringenden Zwischenruf.

Seit geraumer Zeit läuft die Ex-Jugoslawien-Debatte fast nur noch über die Medien, kaum noch in politischen Zusammenhängen. Im ersten Halbjahr war unsere neue Bundestagsfraktion einer der wenigen Orte, wo zu Ex-Jugoslawien kontinuierlich, sehr kontrovers und ernsthaft diskutiert wurde.

(…)

Inzwischen droht ein Rückfall in die Streitunkultur der 80er Jahre!

Das Medienereignis des Joschka-Briefes zog unvermeidlich die Auseinandersetzung auf der Medienbühne nach sich. Aus Sicht der fraktionsinternen Meinungsfindung war der Zeitpunkt der Veröffentlichung ungünstig, angesichts der zugespitzten Lage in Ex-Jugoslawien sehr angemessen. Zugleich erwiesen sich die Bündnisgrünen damit als einzige Partei, die sich trotz allgemeiner Ratlosigkeit der dringend notwendigen Debatte um den Krieg in Ex-Jugoslawien stellt.

Viele Solidarisierungen mit seiner Intervention beweisen die altbekannte naive Militärgläubigkeit, zu der ich mehrfach das Notwendige gesagt habe.

Einige Kritiken an Joschkas Prämissen (z.B. alle nichtmilitärischen Mittel hätten versagt) und Schlussfolgerungen (z.B. Bekenntnis zur militärischen Verteidigung der Schutzzonen, ohne Umsetzungs- und Erfolgschancen zu diskutieren) sind vollauf berechtigt.

Neben sehr ernsthaften Repliken auf Joschkas Brief wie denen des Komitees für Grundrechte und Demokratie oder von Jürgen Trittin gibt es aus den Reihen der verbliebenen Friedensbewegung, der Partei, ja sogar des Fraktionsvorstandes solche, die nach folgendem Muster vorgehen:

- Negiert wird, dass das Papier unmittelbar nach der Stürmung von Srebrenica und Zepa und angesichts der Karadzic-Ankündigung, die verbliebenen ´Schutzzonen` bis zum Herbst zu erobern, entstand und dies zur Schlüsselfrage machte.

- Stattdessen werden Joschka ausschließlich machttaktische und programmrevisionistische Motive Richtung 1998 unterstellt.

- Seine Forderung nach militärischer Verteidigung der Schutzzonen wird umgeschminkt zur Forderung nach Militärintervention, zur Befürwortung einer militärischen Lösung des Konflikts.

- Stereotyp wird die – grundsätzlich richtige – Erkenntnis ´Militär ist keine Lösung` wiederholt.

- Bei etlichen Wortmeldungen scheinen nur die eigenen Prinzipien und ´die Partei`, nicht aber die Schwächsten in diesem nahen Krieg zu interessieren.

wer so systematisch an der Sache vorbeidiskutiert, praktiziert Wegsehen durch Ausweichen.

Wer so sehr mit Pauschalisierungen, Unterstellungen und Dämonisierungen arbeitet, betreibt Gegnerbekämpfung, aber keine Sachauseinandersetzung.

Vor allem aber: Solche Argumentationsmuster diskreditieren ihre VerfasserInnen und schaden unserer Politik der Gewaltfreiheit, die sich eigentlich verteidigen wollen.

Statt ständiger fruchtloser Bekenntnisdebatten brauchen wir konkrete Antworten auf konkrete Fragen. Nur wenn wir diese Debatte frei und ohne Schützengräben führen, haben wir eine Chance, unseren  Einsatz für Menschenrechte, Solidarität mit Opfern gegen Aggressoren und Gewaltfreiheit in Einklang zu bringen – ohne Wegsehen und Ausflüchte, ohne Kollaboration mit Tätern, ohne Naivitäten und Begünstigung militärischen Denkens.“

(5) Offener (Antwort-)Brief von Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Vollmer vom 31. Oktober:

 "Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord".

(6) Interview mit www.gruene.de am 6. Juli 2010:

Nach dem Massaker von Srebrenica 1995

https://www.gruene.de/ueber-uns/35-gruene-jahre-35-gruene-geschichten/35-gruene-jahre-18-die-frage-der-militaerischen-gewalt.html

Bosnien, Kosovo, Afghanistan. Drei Auslandseinsätze der Bundeswehr zwingen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu heftigen Debatten über Frieden, Gewaltfreiheit und Menschenrechte. Spätestens seit dem Massaker von Srebrenica 1995 diskutiert die Partei immer wieder, ob und wann militärische Gewalt notwendig ist, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Wir sprachen mit Winfried Nachtwei über diesen schmerzhaften Prozess in der Partei, einschneidende Erlebnisse auf einer Bosnienreise und Pazifismus.

Hast Du an einen Parteiaustritt gedacht, als die Grünen in den 90er Jahren die Frage der militärischen Gewalt diskutierten?

Winfried Nachtwei: Nein, das habe ich nicht. Weil ich als Alt-Friedensbewegter die Auseinandersetzung über den Umgang mit den Balkankonflikten intensiv mitführte und wusste, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Unser Anspruch einer gewaltfreien Außenpolitik von Friedenssicherung, Friedensförderung und Gewaltverhütung, und auf der anderen Seite die zugespitzte Konfliktsituation in Bosnien-Herzegowina, wo Zivilisten immer mehr mit massenmörderischer Gewalt konfrontiert waren. Der schreckliche Höhepunkt war das Massaker von Srebrenica 1995. Die Partei stand also in dem Konflikt zwischen gewaltfreier Politik – bezogen auf die eigenen Mittel und Methoden – und der Frage, was zu tun ist, wenn extreme Gewalt Unbeteiligte und Unschuldige drangsaliert.
Warst Du innerlich zerrissen?
Winfried Nachtwei: Natürlich. Das betraf aber nicht nur mich persönlich oder die Grünen. Das ging auch anderen Parteien, der Gesellschaft und der verbliebenen Friedensbewegung so. Weil man die verschiedenen Perspektiven gesehen hat. Wir hatten äußerst intensive und zum Teil hitzige Debatten bei uns in Münster, auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Bremen im Dezember 1995 und in der Bundestagsfraktion.
Welche Argumente hatten die Gegner und die Befürworter von Militäreinsätzen?
Winfried Nachtwei: Ich war damals auch Gegner einer militärischen Beteiligung Deutschlands in Bosnien. Unsere Hauptargumente waren: 1. Nichtmilitärische Möglichkeiten der Konflikteindämmung wie etwa ein Spritembargo waren noch nicht ausgereizt. 2. Die Bundesregierung unter Verteidigungsminister Rühe will das Militär wieder zu einem normalen Mittel der deutschen Außenpolitik machen. 3. Auch wenn es dringende Gründe für den Einsatz von Militär geben mag, wie sieht am Ende die Wirksamkeit aus? Kommt man in eine weitere Eskalation und rutscht in einen Kriegssumpf hinein? Die Befürworter eines Militäreinsatzes sahen die Menschen in Srebrenica, in Sarajevo oder den anderen Enklaven. Sie wiesen auf die akute Bedrohung und das Morden hin und sagten: Du hast recht mit dem Misstrauen gegen die Regierung, aber es muss etwas Handfestes zum Schutz der Menschen geschehen. Es hatte ja schon tausende Tote gegeben. Für Marieluise Beck und Gerd Poppe, die schon oft auf dem Balkan gewesen waren, stand dieser Solidaritäts- und Menschenrettungsaspekt im Vordergrund. Diese beiden Seiten prallten also aufeinander.
Habt ihr schnell einen gemeinsamen Weg gefunden?
Winfried Nachtwei: Es war ein längerer Kampf. Wir hatten am 30. Juni 1995 noch eine Bundestagsdebatte über den Einsatz von Tornados in Bosnien, nachdem dort Blauhelmsoldaten als Geiseln genommen worden waren. Damals haben wir in der Fraktion überwiegend einheitlich gegen diesen Einsatz gestimmt. Nach dem Massaker von Srebrenica schrieb dann aber Joschka Fischer einen zwölfseitigen Brief, in dem er für den „militärischen Schutz der Schutzzonen am Boden und in der Luft“ plädierte. Ich nannte das Papier „Joschkas Briefbombe“ und es führte zu einer Eskalation der innerparteilichen Diskussion. Ich fand aber, dass Joschka mit vielen Argumenten recht hatte. Dennoch klammerte auch er das Abwägen der Wirksamkeit der Einsätze aus. Auf der anderen Seite gab es Gegenreaktionen von Ludger Vollmer und Angelika Beer, die Joschka abstempelten, als befürworte er jetzt grundsätzlich militärische „Lösungen“. Nach der BDK in Bremen 1995, die die traditionellen Positionen der Gewaltfreiheit noch einmal festzurrte, gab es im Bundestag am 6. Dezember 1995 eine Abstimmung über die Unterstützung einer UN-mandatierten SFOR-Truppe der NATO, die das Dayton-Abkommen absichern sollte. Hier hat sich die Fraktionsgemeinschaft schließlich aufgelöst. 22 der 49 Abgeordneten stimmten für den Einsatz, also gegen das Parteitags-Votum. An diesem Punkt war die bisherige Gemeinsamkeit zerbrochen.“