Kriegsbrände in der europäischen Nachbarschaft, transnationale islamistische Terrorbewegungen, Extrem-Destabilisierung schwacher Staaten durch die Ebola-Epidemie - da sind die Vereinten Nationen notwendiger denn je, da ist die verbreitete UN-Ignoranz kurzsichtig und dumm. Mein Beitrag in Publik-Forum hier in der erweiterten Fassung.
„Die UN – die einzige Alternative zum Krieg“:
Die Chancen der UN viel besser nutzen
Von Winfried Nachtwei, MdB a.D., Vorstandsmitglied der
Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen DGVN (9/2014)
(Unter dem Titel „Die unterschätzte Macht“ leicht gekürzt erschienen in Publik-Forum 18/2014, 26. September 2014, www.publik-forum.de )
Vor 41 Jahren, am 18. September 1973, wurden die beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen. Außenminister Walter Scheel betonte vor der Generalversammlung:
„Wir müssen die Saat der Gewalt im Keim ersticken. Mit der Charta haben wir gemeinsam der Gewalt abgeschworen, bei aller Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung. (…) Der Friede kommt an erster Stelle. (…) Unsere Zeit gibt keinen Raum mehr für das Faustrecht mit der Waffe in der Hand. (…) Nur die Vereinten Nationen können der Ort sein, wo der jetzt gesteigert um sich greifenden Gewalt Einhalt geboten wird. (…) Ich kann nur wiederholen, was Präsident Kennedy vor 12 Jahren an dieser Stelle sagte: „In der Entwicklung dieser Organisation liegt die einzige Alternative zum Krieg.“
Bundeskanzler Willy Brandt wenige Tage später am selben Ort:
„Wir sind gekommen, um – auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten – weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen. (…)
In einer Welt, in der zunehmend jeder auf jeden angewiesen ist und jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen. (…) Vermittlung und Ausgleich in Streitfällen messen wir besondere Bedeutung zu. (…)Der Kampf um den Frieden, der Kampf gegen die Not fordern das Bewusstsein, dass wir in der „einen Welt“ zuletzt einem gemeinsamen Schicksal unterliegen. Die Fähigkeit der Menschen zur Vernunft hat die Vereinten Nationen möglich gemacht. Der Hang der Menschen zur Unvernunft macht sie notwendig. (…)“ (www.dgvn.de, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1238 )
Heute hat die UN in Deutschland wohl hohe Sympathiewerte. In der Öffentlichkeit und Politik spielt sie aber nur eine Nebenrolle, ja sie werden oft ignoriert. In der Sicherheitspolitik sind die UN primär als Legitimitätsbeschaffer gefragt.
In der Debatte um mehr internationale Verantwortung Deutschlands in der Welt ist nur selten die Rede von der UN. Ihre Blauhelmmissionen finden im Unterschied zu NATO- und EU-Missionen kaum Beachtung. Über friedenspolitische Großveranstaltungen wie die Zehnjahresfeier des Zentrums Internationale Friedenseinsätze (ZIF) 2012 und die beiden Tage des Peacekeepers 2013 und 2014, wo erstmalig in der deutschen Geschichte jeweils hunderte TeilnehmerInnen an Friedensmissionen zusammenkamen, wurde in den Medien praktisch nicht berichtet.
Bekannt ist das Versagen der UN in Ruanda und Srbrenica. Schnell ist die Rede vom Versagen der UN gegenüber den heutigen Kriegsgräueln. Für viele sind die UN damit abgehakt.
Die UN sind aber keine Weltregierung. Sie sind nur so stark, wie ihre Mitgliedsstaaten sie machen, so aktiv, wie ihre Mitglieder in ihr aktiv sind, so einig, wie ihre Mitglieder kompromissfähig sind und so modern, wie ihre Mitglieder die nötigen Reformen betreiben und zulassen.
Gegründet wurde die UN 1945 als erste und umfassendste Konsequenz aus dem deutschen Menschheitsverbrechen, als globale Entsprechung des Schwures „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!“ in Deutschland. Die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere Grundlagendokumente setzten die fundamentalen, weltweit gültigen Normen für ein friedliches Zusammenleben der Staaten und Völker, gegen das „Recht der Stärkeren“. Wenn heute über die Rückkehr des Krieges in die Politik, über Militär und internationale Friedenssicherung gestritten wird, würde ein Blick in die Charta oft helfen und manchen Streit erübrigen. Die Normsetzung für Regierungen und Einzelpersonen rund um den Globus ist wahrscheinlich die größte Errungenschaft der UN. Die UN sind nicht weniger als der Anspruch einer universellen Wertegemeinschaft des Völkerrechts und der Menschenrechte. Ihre Gremien sind in vielen Fragen der einzige Ort, wo Regierungen Rechenschaft ablegen müssen.
Mit der fortschreitenden Globalisierung wuchs die Einsicht, dass die UN das zentrale Forum für die Lösung globaler Probleme ist. In der multipolaren Welt mit ihren wachsenden Abhängigkeiten und Vernetzungen, wo die Welt zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint, ist die UN notwendiger denn je. Hier sitzen alle an einem Tisch, ist es nicht nur ein westlicher Club. Bei allen Alltagsmühen des Multilateralismus - auch hier gibt es Wandel durch Annäherung.
Die UN haben nicht die Durchsetzungsmöglichkeit einer Regierung. Aber sie verfügen über eine breite Palette an Instrumenten, die Realisierung ihrer Normen zu fördern. So bei der Kernaufgabe Friedenssicherung:
- Die Prävention bewaffneter Konflikte gehört zu den Hauptaufgaben der UN und ihres Generalsekretärs. Die Instrumente der präventiven Diplomatie sind heute so umfangreich wie nie: Sondergesandte und Mediatoren, politische Feldmissionen, die Einheit für Vermittlungsunterstützung, ein Standby-Team von Mediationsexperten, UN-Akteure der Entwicklungspolitik. Im Jahr 2013 waren zehn (Spitzen-)Mediatoren weltweit im Einsatz und 15 politische Missionen. Kernaufgaben dieser Missionen sind in Kooperation mit Regionalorganisationen wie lokalen Akteuren Gute Dienste, Vertrauensbildung, Schlichtung oder Begleitung von Friedensprozessen. Diese Aufgaben können auch an eine mehrdimensionale UN-Friedensmission angedockt sein.
Gegenwärtig arbeiten mehr als sechzig Persönlichkeiten als Sondergesandte des UN-Generalsekretärs, meist hinter den Kulissen, oft auch unentdeckt von den Medien. Sie sind Leiter von Friedensmissionen, Vermittler vor Ort oder Berater für spezielle Themen (z.B. Sonderberater für die Verhütung von Völkermord). Deutsche UN-Sondergesandte sind zzt. Martin Kobler als Chef der Kongo-Mission MONUSCO und Wolfgang Weisbrod-Weber als Leiter der Westsahara-Mission MINURSU. (In den letzten Jahren Michael von Schulenburg (Sierra Leone), Joachim Rücker (Kosovo) und Tom Koenigs (Afghanistan, Guatemala).)
- Die 16 UN-geführten Missionen („Blauhelme“) zurzeit kommen durchweg mit Einverständnis der Konfliktparteien ins Land, sollen in der Regel Friedensprozesse absichern (Peacekeeping) und nachhaltig stabilisieren (Peacebuilding). Unter der zivilen Leitung eines Sondergesandten des Generalsekretärs wirken militärische, polizeiliche und zivile Kräfte (z.B. zur Rechtsstaatsförderung/Rule of Law) zusammen. Der militärische Teilauftrag ist ein quasi polizeilicher (Absicherung einer vereinbarten Ordnung, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) mit militärischen Mitteln. 1996 begegnete ich erstmalig in Bosnien bei IFOR und im gerade gegründeten UN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg Soldaten im UN-Auftrag und war überrascht über ihre „blaue“ Denk- und Verhaltensweise von „firm, fair, friendly“, ihrer neuen Befähigung zur Deeskalation. (www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1237 )
Bekannt sind die gescheiteten Missionen. Sie überschatten die vielen Missionen, die seltener voll erfolgreich, oft aber hilfreich und unverzichtbar waren, um bewaffnete Konflikte einzudämmen, einen wackligen Friedensschluss zu stabilisieren oder mithilfe von Militärbeobachtern in Krisengebieten ein Frühwarnsystem aufzubauen. (Im September 2013 in einem Gesamtgebiet von 5 Mio. km2 mit 169 Millionen Menschen, 7,33 Mrd $ Gesamtkosten, 0,5% der weltweiten Militärausgaben; über 95% aller internationalen Einsätze laufen unter Peace Support, nur 3% unter Peace Enforcement) In vielen Konfliktländern sind die UN-Missionen das letzte Netz gegen den völligen Absturz. Eine Welt ohne sie wäre noch viel unfriedlicher und chaotischer.
- Erfolg und Schatten: Zwischen 1990 und 2005 wurden so viele innerstaatliche bewaffnete Konflikte durch Verhandlungen und mit Hilfe der UN zum Stillstand gebracht, wie in 200 Jahren zuvor nicht. Ein enormer friedenspolitischer Erfolg! Allerdings rutschte die Hälfte der Länder binnen fünf Jahre wieder zurück in die Gewalt – ein Hinweis auf den Nachholbedarf beim Peacebuilding.
- Blockaden: Friedenspolitisch kaltgestellt sind die UN, wenn Vetomächte blockieren – wie gerade bei Syrien, Ukraine und Gaza. Dann sind sie reduziert auf die humanitäre Hilfe im großen Stil und die Rolle des Anklägers.
Internationale Verantwortung konkret: Deutschland gilt im internationalen Vergleich als guter Freund der UN: engagiert in der ganzen Breite der UN-Aktivitäten, drittgrößter und verlässlicher Beitragszahler. Fachleute der UN-Community beobachten dabei aber ein eher blasses Profil, wo Deutschland unterhalb der eigenen Möglichkeiten bleibe. ( Bericht zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und den Vereinten Nationen 2012/2013, www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/VereinteNationen/Aktuell/120815_Bericht_Zusarbeit_node.html )
Unverständlich und kurzsichtig ist die kalte Schulter gegenüber UN-geführten Missionen, wo Deutschland nur 0,1% der Polizisten, 0,3% der Soldaten und 0.7% der Zivilexperten stellt. (USA, Kanada, EU und Japan bestreiten 80% des PK-Etats, stellen aber nur 8% des Personals. In 2000 stellten sie (ohne Japan) 44% der UN-Polizisten, 2012 nur noch 4,4%!)
Seit 1994 habe ich intensiv die außen- und sicherheitspolitische Debatte in Bonn und Berlin verfolgt. Eine ausgesprochen ernüchternde Erfahrung dabei war, wie langsam und wenig institutionalisiert das Lernen dabei war. Auffällig war vor allem, wie wenig in der sicherheitspolitischen Community die selbstkritischen und umfassenden Lessons-Learned-Prozesse der UN wahrgenommen wurden. Der Brahimi-Report von 2000 und viele andere von globalen Teams erstellte Berichte sind bis heute eine Fundgrube an Erfahrungen, wie es das auf nationaler Ebene kaum gibt.
Notwendig wie nie: Mit den Kriegsfurien in der Ukraine, im Irak, Syrien und dem Nahen Osten, in Libyen, im Südsudan, Zentralafrikanischer Republik und Kongo ist kollektive Friedens- und Sicherheitspolitik so unter Druck und so gefordert wie seit langem nicht. Heute ist der globale Normen-, Dialog- und Kooperationsrahmen der UN wertvoller und notwendiger denn je. Jetzt kommt es darauf an, ihre Chancen zur kooperativen Friedenssicherung viel energischer zu nutzen. Hier ist mehr internationale Verantwortung auch von Deutschland gefragt.
Seit 2001 alljährlich rufen die UN dazu auf, am 21. September, dem Internationalen Friedenstag, 24 Stunden weltweit alle Waffen ruhen zu lassen und für eine Kultur des Friedens zu werben. Motto des Jahres 2014 ist „The Right of Peoples to Peace”.
In Afghanistan wurde der Tag seit 2006 von Tausenden Menschen in etlichen Provinzen begangen. 2009 wurde der Aufruf zur Waffenruhe in Afghanistan weitgehend befolgt. In Deutschland fand das nahezu keine Beachtung. (www.un.org/en/events/peaceday/ )
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: