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Verschollen, aber nicht mehr vergessen: Die Erinnerung an das Ghetto Riga, die Deportationen und das Deutsche Riga-Komitee (Gesamtdarstellung)

Veröffentlicht von: Nachtwei am 23. Februar 2014 21:52:41 +01:00 (31363 Aufrufe)

Das Deutsche Riga-Komitee ist ein in der deutschen Erinnerungskultur einzigartiger Zusammenschluss. 45 Jahre war weitgehend vergessen + verdrängt, dass in Riga (und Kaunas + Minsk) die Vernichtung der deutschen Juden begann. 1989 stieß ich im noch sowjetischen Riga auf die Spuren von Ghetto und Deportationen. Hier die erste Gesamtdarstellung zum Riga-Komitee im Kontext einer vielfältigen und wachsenden Erinnerungsarbeit.

Verschollen, aber nicht mehr vergessen: Die Erinnerung an das Ghetto Riga, die Deportationen und das Deutsche Riga-Komitee[1]

Winfried Nachtwei

Am 23. Mai 2000 gründeten die Repräsentanten von 13 deutschen Großstädten und der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Berlin unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Johannes Rau das „Deutsche Riga-Komitee“. Die Städte Berlin, Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Leipzig, Münster, Nürnberg (mit Bamberg, Bayreuth, Coburg, Fürth und Würzburg), Osnabrück und Stuttgart wollten damit an das Schicksal der 1941/42 aus ihren Regionen nach Riga verschleppten jüdischen Nachbarn erinnern und den Bau und die Pflege einer würdigen Gedenkstätte am Ort der Massengräber ermöglichen.

Eineinhalb Jahre später wurde am 30. November 2001 im Wald von Bikernieki am Stadtrand von Riga eine Gräber-  und Gedenkstätte eingeweiht. Hier hatten Angehörige der deutschen SS und ihre einheimischen Helfer 1941 bis 1944 mindestens 35.000 Menschen erschossen, mehr als die Hälfte von ihnen jüdische Menschen.

Anfang 2014 zählte das Riga-Komitee 49 Mitgliedsstädte. Es ist ein in der deutschen  Erinnerungs- und Gedenkkultur einzigartiger Zusammenschluss, entstanden vor dem Hintergrund der Spurensuche und Erinnerungsarbeit engagierter Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Städte.

Erste Spuren

Im Sommer 1989 besuchten meine Frau Angela und ich noch zur sowjetischen Zeit erstmalig die lettische Hauptstadt Riga. Kurz vorher war in meiner Heimatstadt Münster, der „Hauptstadt der Exilletten im Ausland“, ein ehemaliger Hauptmann der lettischen Hilfspolizei unter dem Vorwurf der Beteiligung an der Vernichtung des Dorfes Audrini in Ostlettland verhaftet worden.[2] Das gerade in der „taz“ von Anita Kugler besprochene Buch von Bernhard Press über den „Judenmord in Lettland“ führte uns an die Orte des Nazi-Terrors ab Juli 1941:[3]

-       die Überreste der ehemaligen Großen Choralsynagoge an der Gogolstraße, wo das lettische Kommando Arajs drei Tage nach dem deutschen Einmarsch mehr als 300 Juden eingesperrt und verbrannt hatte.

-       das ärmliche Viertel der „Moskauer Vorstadt“ südöstlich des Hauptbahnhof: Hier waren zuerst 30.000 Rigaer Juden im Ghetto zusammengepfercht, ab Dezember 1941 viele Tausende aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in das „Reichsjudenghetto“ deportierte Juden. Bis zur Auflösung des Ghettos am 2. November 1943 gab es hier eine Kölner, Berliner, Leipziger, Wiener, Bielefelder Straße, benannt nach den Orten, an denen die Deportationszüge gestartet waren.

-       die Gebäudereste des heruntergekommenen Guts und provisorischen Auffanglagers „Jungfernhof“ an der Daugava, in das die Insassen der ersten vier Transporte aus Nürnberg, Stuttgart, Hamburg und Wien gesperrt wurden.

-       unweit der Ausfallstraße Maskavas iela das Wäldchen von Rumbula mit vielen Massengräbern: Auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers Ostland, Friedrich Jeckeln, Cheforganisator des Massakers an den Juden von Kiew in Babi Jar, wurden hier am 30. November und 8. Dezember 1941 rund 27.0000 Insassen des Rigaer Ghettos erschossen, von einem Kommando von 12 Mann. Auf dem Gelände habe es von Uniformierten gewimmelt. Damit war „Platz geschaffen“ für die angekündigten Deportationszüge aus dem Reich. Der erste Deportationszug mit deutschen Juden traf am 30. November morgens aus Berlin in Riga ein. Alle seine 1.053 Insassen wurden noch vor ihren lettischen Leidensgenossen in Rumbula erschossen.

-       die monumentale Gedenkstätte am Ort des früheren „Arbeitserziehungslagers“ Salaspils im Südosten von Riga. Männer aus den in Riga eingetroffenen Deportationszügen mussten das Lager aufbauen und schwerste Zwangsarbeit verrichten. Nur wenige überlebten die Haftbedingungen von Salaspils, wo in den Folgejahren vor allem Zivilgefangene und politische Häftlinge gefangen gehalten wurden.

-       am östlichen Stadtrand von Riga der Wald von Bikernieki, damals nur „Hochwald“ genannt: Ab Sommer 1941 fanden hier Massenerschießungen statt, von politischen Häftlingen, sowjetischen Kriegsgefangenen, von abertausenden Ghettohäftlingen. Allein während der „Dünamünde-Aktionen“ im Ghetto und in Jungfernhof wurden ca. 4.400 Menschen unter Vorspiegelung eines leichteren Arbeitskommandos selektiert und in Bikernieki erschossen. 55 Massengräber, eingefasst durch normale Bordsteine, waren in dem hügeligen Waldgelände zu zählen. Sie liegen innerhalb der „Gruben“, die als kleine Lichtungen mit schwächerer Vegetation erkennbar sind. Einzelne Bäume haben Einschusslöcher, andere Brandnarben von den Leichenverbrennungen, die vor dem deutschen Rückzug 1944 durchgeführt wurden.

Aufwühlend und unfassbar war, welches Grauen sich in diesem sonnigen, so friedlich erscheinenden Wald fast fünfzig Jahre zuvor abgespielt hatte. Eine doppelte Schande war, wie sehr die Erinnerung an die Gequälten, Ermordeten, Verscharrten verweht und verdrängt war: KEIN Erinnerungszeichen in den Straßen des ehemaligen Ghettos. Die Massengräber von Bikernieki in einem verwahrlosten und vergessenen Zustand. Eine Familie beim Picknick auf dem Massengrab.

Zwischen dem 30. November 1941 und dem 10. Februar 1942 waren 20 Transporte mit jeweils ca. 1.000 Menschen in Riga eingetroffen. Sie kamen aus Berlin (insgesamt vier), Nürnberg, Stuttgart, Wien (vier), Hamburg, Köln, Kassel, Düsseldorf, Münster/Osnabrück/Bielefeld, Hannover, Theresienstadt (zwei), Leipzig/Dresden, Dortmund/Gelsenkirchen. Aus dem Regierungsbezirk Dresden wurden am Abend des 21. Januar 224 Juden mit dem aus Leipzig kommenden Zug nach Riga deportiert. Aus Berlin folgten bis Oktober 1942 vier weitere Transporte, ein weiterer aus Theresienstadt.[4]

Über Jahrzehnte war in der deutschen und lettischen Öffentlichkeit praktisch unbekannt: In Riga hatte (neben Kaunas/ Litauen und Minsk) die massenhafte Ermordung der deutschen, österreichischen und tschechischen Juden ihren Anfang genommen.

Als in den 70er Jahren vor allem in Hamburg gegen vereinzelte Mittäter des Judenmords in Lettland prozessiert wurde, setzt sich das große Wegsehen fort, das schon die jüdischen Menschen bei der Deportation aus ihrer Heimat erfahren hatten.

Aufbrechende Erinnerung

In Salaspils entstand 1967 eine große Gedenkstätte. In Bikernieki gibt es seit 1974 einen Gedenkstein, in Rumbula seit 1964. Nirgendwo war mit einem einzigen Wort erwähnt, dass hier zum großen Teil jüdische Menschen ermordet worden waren. Als Rigaer Juden in den 60er Jahren die Massengräberstätte in Rumbula würdig gestalteten, geschah das gegen die Widerstände der Bürokratie. Gedenkveranstaltungen der Holocaust-Überlebenden wurden von Vertretern der regierenden Kommunistischen Partei und des Geheimdienstes KGB gestört.

Mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und ihrem demokratischen Aufbruch öffnete sich auch die kollektive Erinnerung in Lettland. 1990 konnte der damals 65-jährige Ghetto-Überlebende Margers Vestermanis in Riga mit dem Aufbau des Archivs und Museums „Ebreji Latvija (Juden in Lettland“ in der Skolas iela 6 beginnen.

Begünstigt durch die neue Reise- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West erwachte auch in Deutschland an verschiedenen Orten die Erinnerung an die 1941/42 nach Riga Deportierten. Wo einzelne Spuren aus dem Nebel des Vergessens auftauchten - durch Berichte von Überlebenden, Bilder von Abfahrtsbahnhöfen, Ghettohäusern, den Todeswäldern -, da wurde die Erinnerung an die Verschollenen konkreter, persönlicher, rückten die Verschleppten wieder näher. Ein großer Artikel in den „Westfälischen Nachrichten“ über meine erste Riga-Reise und meinen ersten Dia-Vortrag am 12. Dezember 1991, am Vorabend des 48. Jahrestags der Deportation aus Münster/Osnabrück und Bielefeld, brachte einen Stein ins Rollen.[5] Kontakte entstanden zu Ghetto-Überlebenden in Deutschland, in Lettland und im westlichen Ausland. Aufmerksamkeit wuchs über den Maikovskis-Prozess vor dem Münsteraner Landgericht, den meine Frau Angela und ich 1990 bis 1994 begleiteten. Täter- und Opferspuren kreuzten sich.

1991 wagten sich zwei Überlebende des Bielefelder Transports aus Osnabrück, Irmgard Ohl und Ewald Aul, mit dem Filmemacher Jürgen Hobrecht nach Riga. Der Film „Verschollen in Riga – Bilder einer Erinnerungsreise“ über das Schicksal der aus Westfalen deportierten Juden wurde der erste Film zu einer Riga-Deportation überhaupt.[6]

Zum 50. Jahrestag der Deportationen Ende 1991 fanden in etlichen Städten erstmalig Gedenkveranstaltungen statt: In Osnabrück ein Schweigemarsch mit 2000 Bürgern, zu dem der Stadtschülerrat aufgerufen hatte; in Lingen/Ems unter anderem die Ausstellung „Verfolgt – deportiert – ermordet“ mit Stadtrundgang und Schülerquiz. In Bielefeld berichtete die Lokalpresse ausführlich über die Deportation vor 50 Jahren. In Münster war der Besuch von 140 jüdischen ehemaligen Bürgern in ihrer Heimatstadt gerade ein halbes Jahr her und das Bedürfnis, sich mit dem Schicksal der Deportierten auseinanderzusetzen, besonders intensiv. Als im Juni 1992 Oberbürgermeister Dr. Jörg Twenhöven (CDU) eine Gedenktafel für die aus Münster Deportierten enthüllte, war die einhellige Unterstützung durch alle Ratsparteien ein gutes Zeichen. Endlich wurde damit die auch in Münster lange Zeit vorherrschende „gespaltene Erinnerung“ an Krieg und Naziherrschaft ein Stück weit überwunden, wo fast nur Kriegerdenkmäler an die gefallenen Mitmarschierer deutscher Eroberungskriege erinnern, sichtbare Erinnerungen an die Opfer des Nationalsozialismus aber fehlten.

Verfolgt, vergessen, gedemütigt: 1993 machten sich Bürger aus dem Münsterland und Emsland zu der wohl ersten Erinnerungsreise nach Riga auf, legten an der Gogolstraße Kränze für die Deportierten und Ermordeten nieder und trafen Mitglieder des „Vereins der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands“. Nachträglich überschattet wurde die Begegnung von den Enthüllungen des NDR-Magazins „Panorama“: Ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS erhielten aus Deutschland eine Kriegsversehrtenrente, ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge demgegenüber keinen Pfennig.[7]

Dieser Skandal war der Anstoß, die Erinnerungsarbeit für die nach Riga Deportierten mit der  Solidarität zu den wenigen noch lebenden ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen zu verbinden. Getragen von einzelnen engagierten Bürgerinnen und Bürgern entwickelten sich Initiativen in Göttingen (Ehepaar Middelmann)[8], Freiburg (Margot Zmarzlik), Leipzig (Pfarrer Reinhard Enders), Bremen (Hermann Kuhn), Münster (Autor) und ab 1997 in Berlin (ausgehend von einem gespendeten hohen Lottogewinn der „Freundeskreis der Holocaust-Überlebenden“)[9]. Über die durch Spendengelder ermöglichte Hilfe hinaus entstanden dabei sehr herzliche und tiefe Beziehungen zu den Holocaust-Überlebenden.

Beim ersten Welttreffen der lettischen Juden im Juli 1993 wurde an der Gogolstraße das erste Holocaust-Mahnmal Lettlands eingeweiht. In einer Feierstunde im ehemaligen Jüdischen Theater ehrte der lettische Staat Dutzende „Judenretter“. Am 2. November 1993, dem 50. Jahrestag der Auflösung des Rigaer Ghettos wurde der Aufruf „Verfolgt, vergessen, gedemütigt: Holocaust-Überlebende im Baltikum“ veröffentlicht. Unterzeichnet u.a. von Ignatz Bubis, Marianna Butenschön, Michael Degen, Hans-Joachim Friedrichs, Siegfried Lenz, Friedrich Schorlemmer, Antje Volmer, zehn (Ober-)Bürgermeistern, 26 Fraktionen und ca. 1.000 Personen aus Herkunftsorten der Riga- Deportationen forderte er Entschädigungsleistungen für die Überlebenden. Nachdem eine Bundestagsinitiative von Abgeordneten der Union, SPD und Grünen beim Finanzminister aufgelaufen war, konnte auf dem Umweg über das American Jewish Committee und internationalen Druck Anfang 1998 eine Entschädigungsrente durchgesetzt werden. Alexander Bergmann, Anwalt und Vorsitzender des Vereins der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands, war in dieser Auseinandersetzung der beste Botschafter seiner Leidensgenossen. Bei Vorträgen in vielen deutschen Städten, so am 26. Januar 1997 im Bonner „Wasserwerk“, bewegte der damals 72-Jährige seine Zuhörer zutiefst.[10] Am 13. Januar 1998 eröffnete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth im Bonner Bundestag die Ausstellung „Shoa in Lettland“, ein Projekt von Margers Vestermanis und KONTAKTE e.V. Es war einen Tag nach der Einigung zwischen Jewish Claims Conference und Bundesregierung über die Rente für Holocaust-Überlebende in Osteuropa.

Auf Initiative von Willi Mosel, Vorsitzendem der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft in Hamburg, wurden im September 1996 auf dem Neuen Jüdischen Friedhof drei Gedenksteine für die Deportierten des Hamburger, Kölner und Bielefelder Transports aufgestellt. Zur Realisierung trugen die Städte Bielefeld, Münster und Osnabrück bei. Bis auf diese Städte fühlten sich aber in Deutschland zunächst keine Kommune und keine Institution für eine würdige Gestaltung von Bikernieki „zuständig“- des Ortes, wo Abertausende Bürgerinnen und Bürger deutscher Städte erschossen und „vergessen“ worden waren.

 

Gedenkstätte Bikernieki und das Deutsche Riga-Komitee

Anfang der 60er Jahre wurden die Massengräber im Wald von Bikernieki mit Kantensteinen umfasst und in die Liste zu schützender Territorien aufgenommen. 1985 erhielt der Architekt Sergej Rysh vom städtischen „Kommunalprojekts“ den Auftrag, einen Plan für eine Gedenkstätte zu erarbeiten. 1991 wurden die begonnenen Bauarbeiten wegen Finanzierungsproblemen eingestellt. („Die Lebenden haben Vorrang“, so Rysh damals.)

1991 legte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Riga auf dem alten „Großen Friedhof“ an der Miera iela (Friedensstraße) den ersten deutschen Soldatenfriedhof auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion an. Was einerseits eine menschliche Pflicht und öffentliche Aufgabe des Volksbundes war, machte zugleich die offizielle Erinnerungsverweigerung gegenüber den Deportationsopfern in beschämender Weise deutlich. Darauf machte ich bei Veranstaltungen wie auch bei einem Gespräch zwischen Volksbund-Präsident Hans-Otto Weber und dem Grünen-Fraktionsvorsitzenden Joschka Fischer aufmerksam. Die Initiative ergriff Erich Herzl aus Wien. Er und sein Mitstreiter Kurt Fräser hatten in Riga ihre Eltern verloren. Sie gründeten 1996 die „Initiative Riga“ für eine würdige Gedenkstätte in Bikernieki. Mit organisatorischer Unterstützung des Österreichischen Schwarzen Kreuzes gewann die Initiative die Unterstützung höchster österreichischer Repräsentanten[11] und nahm Kontakt zum Volksbund auf, dessen Länderreferent Eberhard Bahr das Gräberfeld im März 1996 aufgesucht hatte.

Mit dem Ende 1996 in Kraft getretenen deutsch-lettischen Kriegsgräberabkommen galten nun auch Gräber von Deportierten als Kriegsgräber.[12] Im März 1997 übernahm der Volksbund mit Schreiben an das Auswärtige Amt das Projekt Gräber- und Gedenkstätte Bikernieki in Zusammenarbeit mit der „Initiative Riga“. In Riga arbeitete er mit seiner lettischen Partnerorganisation, dem Brüderfriedhöfe-Komitee und der Stadtverwaltung zusammen.

Die Finanzierung der Projekts war eine doppelte Herausforderung: Entsprechend dem bisherigen Profil des Volksbundes hatte er seine Spenden bis dahin für deutsche Soldatengräber erhalten. Wie würden insbesondere Angehörige der Kriegsgeneration auf die Auftragserweiterung des Volksbundes reagieren? Hinzu kam, dass laut Bundeshaushaltsplan für das Jahr 2000 die Zuwendungen des Auswärtigen Amtes an den Volksbund um 1,5 Millionen DM auf 6,7 Millionen DM gekürzt werden sollten.

Nichtsdestoweniger genehmigte der Vorstand des Volksbundes am 8. Mai 1999 635.000 DM für Bikernieki.

Städte-Komitee: Der 1998 neu gewählte Präsident des Volksbundes, der frühere Regierungspräsident von Brauschweig und langjährige Stadtdirektor von Hannoversch-Münden, Karl-Wilhelm Lange, trieb die Idee eines Städte-Komitees voran. Angespornt von dem energisch-charmanten „Brückenbauer“ Erich Herzl knüpfte der Volksbund-Präsident an die ermutigenden Erfahrungen mit kommunalen Städtepartnerschaften an: Aufgefallen war ihm, dass in Riga vier Gräberstätten eine Zusammenschau der deutschen Geschichte von 1914 bis 1945 ermöglichten: Grabstätten mit deutschen Gefallenen des Ersten Weltkriegs, der Freikorps und der Wehrmacht – alle auf dem Brüderfriedhof, zum Teil überbettet – und jetzt auch die Massengräber von Bikernieki. Über den Städteverbund sollte die Erinnerung lokal verankert, die politische Basis des Projekts verbreitert und seine Finanzierung abgesichert werden. Erste Komitee-Mitglieder sollten die Städte werden, in denen Gestapo-Leitstellen die Deportationen organisiert hatten. Der erfahrene Kommunalpolitiker Lange gewann den Oberbürgermeister (OB) von Kassel, Georg Lewandowski, und den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, als wichtige Mitstreiter. Bei den anderen OB-Kollegen erlebte er keinerlei Widerstände, nur offene Türen, ja einen regelrechten Andrang.

Nach dem Empfang beim Bundespräsidenten unterzeichneten die versammelten Stadtoberhäupter am 23. Mai 2000 in Berlin die Gründungsurkunde des „Deutschen Riga-Komitees“,

getragen von dem Willen, die Erinnerung an ihre ermordeten Bürgerinnen und Bürger dauerhaft zu bewahren und ihrer zu gedenken,

in der Überzeugung, dass die Gräber- und Gedenkstätte Riga dazu einen bedeutenden, die Heimatstädte umschließenden zeitgeschichtlichen Beitrag leistet

mit dem Ziel, den auf einer langen gemeinsamen Geschichte ruhenden Beziehungen unserer beiden Länder, ihrer weiteren Entwicklung und dem Frieden in Europa zu dienen.“

Die Oberbürgermeister erklärten sich für ihre Heimatstädte bereit, „die Planung, Errichtung sowie die Übergabe der Gräber- und Gedenkstätte Riga im Jahr 2001 zu begleiten und zu den Baukosten (...) einen Beitrag von insgesamt 200.000 DM bis zum 31.3.2001 aufzubringen. Die Höhe des jeweiligen Beitrages (...) steht im Ermessen des einzelnen Mitglieds.“[13] Bei der Organisation und Durchführung seiner internationalen Jugendcamps für die Gedenkstätte Riga und in Lettland werde der Volksbund „eng mit den im Riga-Komitee zusammengeschlossenen Heimatstädten zusammenwirken.“ In der Beitrittsurkunde zum Deutschen Riga-Komitee heißt es ergänzend: „Mit der künftigen Pflege der Anlage durch lettische und deutsche Jugendliche soll ein lebendiges Band der Erinnerung und der Begegnung geknüpft werden zwischen Riga und den deutschen Städten, von denen damals die Sammeltransporte ausgingen.“

Bis Ende 2000 konnten die Bauarbeiten in Bikernieki gemäß dem ursprünglichen Plan von Sergej Rysh abgeschlossen werden: Die Massengräber beiderseits der Straße wurden neu eingefasst und mit Naturstein-Stelen gekennzeichnet. Der jetzt befestigte Waldweg – der „Weg des Todes“ - wird gesäumt von Betonstelen mit Davidsstern, Kreuz und Dornenkranz als Symbole für die unterschiedlichen Opfergruppen. Der zentrale Gedenkplatz liegt in einer Mulde und besteht aus dem Mahnmal mit einem Gedenkstein aus schwarzem Marmor, umgeben von 5000 Granitsteinen, mit denen sich die Erde „öffnet“.

Die grob behauenen Steine aus ukrainischem Granit sind in 45 Quadraten von 4 x 4 m aufgestellt, einem Grundriss der Planmäßigkeit. In den Boden eingelassene Tafeln tragen die Namen der Hauptherkunftsorte der Deportationen. Die gedrängt stehenden Steine mit Höhen zwischen 20 cm und 1,50 m symbolisieren die hier ermordeten und in Massengräber zusammengepressten Menschen und Familien. Kein Stein ist wie der andere. Mit ihren unterschiedlichen Größen und Formen, ihren schwarzen, grauen und rötlichen Einfärbungen stehen sie sinnbildhaft für die Individualität derjenigen, die hier namenlos erschossen, verscharrt und verbrannt wurden.

Auf den Seiten des Gedenksteins steht in Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch:

„ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT! HIOB 16; 18“

 

Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki: Am 30. November 2001, dem 60. Jahrestag des „Rigaer Blutsonntags“, versammelten sich in Bikernieki mehrere Hundert Menschen, unter ihnen viele ehemalige Ghetto- und KZ-Häftlinge. Nach der Ansprachen der lettischen Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga sowie des österreichischen und des deutschen Botschafters traten Vertreter der Städte des Riga-Komitees vor und stellten Metallkapseln mit den Namenslisten ihrer in Riga umgekommenen Bürger in den Gedenkstein. Danach wurde die Deckplatte auf den Gedenkstein gesenkt: Es war, als würden die Ermordeten nun erstmalig würdig bestattet. Prof. Dr. Gertrude Schneider, Überlebende eines Wiener Transports und Erforscherin der Ghetto-Geschichte, sagte: „Der Fluch ´nicht gedacht soll ihrer werden`, wird jetzt aufgehoben.“[14]

An der Bikernieku ieala (Bikernieki-Straße) im Osten Rigas informieren jetzt zwei Steintafeln in vier Sprachen:

„Hier im Wald von Bikernieki wurden in den Jahren 1941-1944 durch das NS-Regime und dessen freiwillige Helfer tausende Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien sowie politisch Verfolgte und sowjetische Kriegsgefangene ermordet.“

Gräber- und Gedenkstätte Riga Bikernieki

Im Jahr 2001 erbaut vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland, des Nationalfonds der Republik Österreich und den im „Deutschen Riga Komitee“ vereinten Städten.“[15]

Die Gedenkstätte Bikernieki war das erste trinationale Projekt des Volksbundes. Ihre Einweihung fand breite Resonanz in der lettischen Presse und in internationalen Medien, in Deutschland vor allem in regionalen, wenig in überregionalen Medien.

Mit dem Beitritt von Bocholt, Kiel, Lübeck, Wien und Bremen umfasste das Riga Komitee inzwischen 23 Städte.

Zur gleichen Zeit fanden in Deutschland zu den 60. Jahrestagen der Riga-Deportationen eine Fülle von Veranstaltungen statt. Eine vom Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in NRW initiierte Broschüre informierte über die vier Deportationen aus dem Rheinland und Westfalen und Veranstaltungen in Düsseldorf, Köln, Krefeld, Wuppertal, Münster, Dortmund, Gelsenkirchen, Siegen.[16]

Zwei Jahre später gaben der Volksbund und das Riga-Komitee gemeinsam mit der Stiftung

„Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ und der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ das zweibändige, von Prof. Wolfgang Scheffler und Diana Schulle erarbeitete „Buch der Erinnerung“ heraus. Das Werk beinhaltet die vollständigen Deportationslisten mit über 31.300 Namen und Lebensdaten und Einzelartikel zu allen Deportationen.[17]

Im Juli 2002 veranstaltete der Landesverband Nordrhein-Westfalen des Volksbundes das erste Workcamp in Riga, bei dem Jugendliche neben Soldatengräbern auch die Gedenkstätte Bikernieki pflegten. Danach organisierte der Landesverband Bremen zehn Workcamps bis 2012, im Jahr 2004 gemeinsam mit Pax Christi. 2013 übernahm wieder NRW.[18]

Lokale Initiativen und neuer Schwung

Nach Erscheinen des Buches der Erinnerung wurde es ruhiger um das Riga-Komitee. Sein erster Zweck, der Bau der Gedenkstätte, war erfüllt. Für manche Mitgliedsstädte war der Auftrag des Riga-Komitees damit „abgelegt“. Nachdem in der Anfangsphase die Zentrale des Volksbundes auf die Städte zugegangen war, ging nun die Initiative zu weiteren Komitee-Beitritten von Landesverbänden des Volksbundes und engagierten Gruppen aus. Im Jahr 2002 traten Steinfurt, Warendorf und Paderborn (alle Westfalen) bei, am 15. Mai 2003 Dresden. Zwischen 2005 und 2006 traten mit Billerbeck, Vreden und Coesfeld wieder drei Orte aus dem Münsterland bei - und bis 2013 16 weitere.[19] Die neuen Komitee-Mitglieder leisteten für Erhalt und Pflege der Gedenkstätte Bikernieki einen Beitrag von je mindestens 2.000 Euro. Sie erhielten auf der Gedenkstätte eine Steintafel mit dem Namen der Stadt. Der Beitritt wurde in den Städten mit würdigen Gedenkfeiern begangen.

Bürgerengagement: Hinter den Beitritten standen in der Regel freiwilliges bürgerschaftliches Engagement, oft auch von engagierten Lehrerinnen und Lehrern angestoßene Projektarbeiten an Schulen. Begegnungen mit Ghetto-Überlebenden wie Alexander Bergmann, Gertrude Schneider, Margers Vestermanis und anderen wurden dabei regelmäßig zu aufwühlenden und unvergesslichen Erfahrungen. Ein frühes Beispiel ist die damalige integrierte Gesamtschule an der Travemünder Allee in Lübeck. Eine Arbeitsgemeinschaft der Jahrgangsstufe 8 mit der Lehrerin Heidemarie Kugler-Weiemann untersuchte Schicksale von in der NS-Zeit aus Lübeck deportierten Juden. Sie stießen dabei auf die Geschwister Max (17 Jahre), Martin (11) und Margot (10) Prenski, Kinder armer Eltern, die 1941 nach Riga deportiert und dort im März 1942 bei einer „Dünamünde-Aktion“ erschossen worden waren. Die 1994 erfolgende Umbenennung zur „Geschwister-Prenski-Schule“ prägte die pädagogische Arbeit der Schule.

Solcher Art „lebendige Bänder der Erinnerung und Begegnung“ (Worte der Beitrittsurkunde) entstanden an etlichen Orten. Beispielhaft seien hier genannt: die Herta-Lebenstein-Realschule in Stadtlohn (2000), die Alexander-Lebenstein-Realschule in Haltern (2008)[20] und die Geschwister-Eichenwald-Schule in Billerbeck (2010). Die Halterner Schule stand in einem herzlichen Kontakt zu dem in den USA lebenden Riga-Überlebenden Alexander Lebenstein. In Münster organisierten zwei Lehrer das Projekt „Past to Present“ zusammen mit Schülern und Lehrern aus Ibbenbüren, Wien, Prag und Riga mit einem vom Volksbund  unterstützten internationalen Schüleraufenthalt in Riga 2002. In Billerbeck förderte die Wolfgang-Suwelack-Stiftung mit dem Historiker Matthias M. Ester im Rahmen ihres Riga-Projekts vielfältige Aktivitäten. In Lippstadt führte die Don-Bosco-Schule, Förderschule für Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen, 2012/2013 zusammen mit einer Partnerschule in Tukum/Lettland ein Menschenrechtsprojekt durch, bei dem die Schüler den Spuren von zwei Lippstädter Juden folgten, die im Wald von Bikernieki erschossen worden waren.[21]

Jahr für Jahr führten Studienfahrten ins Baltikum, bei denen die Konfrontation mit der NS-Zeit und der Besuch der Leidensorte ein zentrales Thema war.

Persönliche Anknüpfungspunkte in den Straßen der Herkunftsorten der Deportierten schufen seit 1996 die mehr als 43.000 Stolpersteine, die in ca. 1.000 Orten in Deutschland und mehreren Ländern Europas von dem Kölner Künstler Gunter Demnig für vertriebene und vernichtete Opfer des Nationalsozialismus in Zusammenarbeit mit örtlichen Initiativen verlegt wurden.[22]

 

Neuen Schwung bekam das Riga-Komitee im zehnten Jahr seines Bestehens auf Initiative der Zentrale des Volksbundes und des Leiters der Abteilung Gedenkkultur und Bildungsarbeit Thomas Rey. Im Juli 2010 besuchte eine vom Vizepräsidenten des Volksbundes, Prof. Volker Hannemann, geleitete Delegation mit Repräsentanten von 24 deutschen Städten in Riga die Orte des Nazi-Terrors, unter ihnen viele (Ober)Bürgermeister, Stadträte und Beigeordnete, Präsidenten von Landesparlamenten, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Mit dabei waren auch 25 deutsche und lettische Jugendliche des Workcamps und der Künstler Horst Hoheisel aus Kassel, der mit den Jugendlichen Ideen entwickelte, wie man an den alten jüdischen Friedhof in der heutigen Parkanlage erinnern kann. Delegationsmitglieder brachten aus ihren Städten „Steine für Bikernieki“ mit und legten sie vor Ort nieder. [23] Tief beeindruckt von den Besuchen im ehemaligen Ghetto und in Bikernieki kamen die Delegationsmitglieder überein, die Zusammenarbeit im Rahmen des Riga-Komitees wiederzubeleben und zu vertiefen. Das geschah auch:

Volksbund und Riga-Komitee erstellten die Broschüre „Riga-Bikernieki“ sowie die Ausstellung „Bikernieki – Wald der Toten. Die Deportationen deutscher Juden nach Riga, ihre Ermordung und das Gedenken daran", die von Dezember 2011 bis Herbst 2013 in acht Städten gezeigt wurde, oft in den Rathäusern.[24] Die Ansprechpartner der Mitgliedsstädte (Leiter von Gedenkstätten, Staatsarchiven oder OB-Büros) werden regelmäßig aus Kassel über aktuelle Angebote zum Themenkomplex Riga informiert. Im November 2012 luden die Stadt Magdeburg und der Landesverband Sachsen-Anhalt des Volksbundes zu einem ersten Symposium des Riga-Komitees ein, an dem Vertreter aus 14 Städten teilnahmen.[25]

Mit Unterstützung des Volksbundes, von zehn Mitgliedsstädten des Riga-Komitees und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe konnte 2013 der Dokumentarfilm „´Wir haben es doch erlebt`. Das Ghetto Riga“ von Jürgen Hobrecht fertig gestellt werden. Es ist nach siebzig Jahren der erste Film zum Gesamtkomplex Riga-Deportationen, Ghetto Riga, Judenmord in Lettland. Der Film ist ein „lebendes Denkmal“, mit die Geschichte des Rigaer Ghettos und der dorthin deportierten früheren Nachbarn erstmalig allgemein und frei zugänglich ist.[26]

Unabhängig vom Riga-Komitee nehmen in den letzten Jahren Aufarbeitungsprozesse bei Menschen mit familiären Beziehungen zum Baltikum in der NS-Zeit zu: Der Kulturtag Mare Balticum der Deutsch-Baltischen-Gesellschaft in Hessen und Thüringen stand am 17. November 2012 in Darmstadt unter dem Thema „Rumbula 1941 – Eine Erinnerung an Lettland unter dem Hakenkreuz“. Vor mehr als 100 älteren Baltendeutschen fragte der Vorsitzende Frank von Auer: „Warum befassen wir uns mit dem Thema? Vielleicht können sich erst Kinder und Kindeskinder die Erschütterung leisten. Auch in unseren Familien wurde viel geschwiegen. Wie konnte eine Gesellschaft wie die deutsche so gänzlich Verrat an ihren Traditionen üben?“ Anita Kugler, die hier vor vier Jahren erstmalig über die Rolle von Baltendeutschen bei den Einsatzgruppen vorgetragen hatte, liest die Passagen aus ihrem Scherwitz-Buch über das Rumbula-Massaker am 1. Advent 1941 vor. Eine dreiviertel Stunde ganz konkretes, unfassbares Grauen. Über Skype sprechen Margers Vestermanis und Alexander Bergmann zu und mit den Versammelten. Ein alter Herr geht danach

ans Mikrophon. Aufgewühlt und unter Tränen bekennt er: Über Jahrzehnte sei für ihn das Baltikum ein Paradies gewesen. Mit dem Buch von Anita Kugler sei damit Schluss gewesen.

Verschollen, aber nicht mehr vergessen

Welche Bedeutung Riga im kollektiven Gedächtnis der Deutschen inzwischen hat, wurde anlässlich der 70. Jahrestage der Deportationen um die Jahreswende 2011/2012 erkennbar. Bundesweit fanden Dutzende Veranstaltungen statt, oft unter Einbeziehung von Schulen. Beispielhaft war die Stadt Hannover. Die Ausstellung „Abgeschoben in den Tod“ im Neuen Rathaus wurde eingerahmt von einem umfangreichen Begleitprogramm und pädagogischen Angeboten.[27] Ehrengäste der Stadt waren vier Überlebende des Hannoveraner Transports, die heute in den USA leben. Auf Einladung von Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, Städten und Schulen hielt ich meinen Vortrag „Nachbar von nebenan – verschollen in Riga“ allein an zwanzig Orten. In einzelnen Städten wird auch – so z.B. in Münster – an jedem Jahrestag der Deportationen gedacht.

Verglichen mit der breiten Erinnerungslosigkeit vor 25 Jahren ist an vielen Herkunftsorten der nach Riga Deportierten die Erinnerung an sie inzwischen aufgebrochen und wird auch bewahrt. Gegenüber keinem anderen Ort der NS-Vernichtungspolitik gibt es einen solchen Städteverbund zur Erinnerungsarbeit und mit so vielen lebendigen Bändern der Erinnerung wie das Riga-Komitee. (In Minsk und Trostenez, wohin parallel zu Riga über 22.000 jüdische Menschen deportiert worden waren, gibt es bis heute keine würdige Gedenkstätte.)[28]

Städtische Repräsentanten und einzelne gesellschaftliche Gruppen pflegen das Gedenken an die früheren Nachbarn. Ob die Erinnerung aber weiter lebt und ausstrahlt, zu einem Ritual erstarrt oder verebbt, lässt sich nicht zentral organisieren. Das hängt wesentlich ab von dem Engagement Einzelner.

Vielfältige Brücken der Erinnerung und Solidarität sind bei der Arbeit zu Riga entstanden:

-       zwischen verschiedenen Städten, deren frühere jüdische Bürger an einen Ort vertrieben und dort gequält und ermordet wurde;

-       zwischen Deutschland und Lettland, wo angesichts der vorherrschenden Erinnerung an die Sowjetzeit eine offene Erinnerung an die NS-Zeit vielfach noch schwer fällt, aber bei der Wahrnehmung verschiedener Opfer- und Tätergeschichten Ansätze einer europäischen Erinnerungskultur entstehen können;

-       zwischen Alt und Jung, wenn Erinnerung nicht anonym und unfassbar, sondern personalisierbar, mitfühlbar wird anhand von Einzelschicksalen früherer Schülerinnen und Schüler aus den jeweiligen Städten;

-       zu Überlebenden von Ghetto- und KZ, die im hohen Alter und angesichts ärmlicher Renten und Krankheiten besonders auf Unterstützung angewiesen sind;

-       zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wo Erinnerungsarbeit nicht bei einem allgemeinen „Nie wieder!“ stehen bleibt, sondern in Menschenrechts- und Friedensbildung und Engagement gegen Massenverbrechen mündet;

-       schließlich durch die Öffnung und das Zusammenwachsen von Erinnerungskulturen, die vor zwanzig Jahren noch völlig separiert voneinander waren – hier die Erinnerung an die gefallenen und vermissten Soldaten, die Kriegsopfer, aber auch Kriegstäter waren, und dort die Erinnerung an die Opfer von Verfolgung, Terror und Vernichtungskrieg.

Der Volksbund bietet zusammen mit dem Riga-Komitee ein Netz, in dem Informationen und Anregungen ausgetauscht, in dem zu Engagement ermutigt und langer Atem gewonnen werden kann. Das sind Chancen, die in noch mehr Städten genutzt werden könnten. Denn es fällt auf, dass in der breiteren Öffentlichkeit Riga als früher Ort der Ermordung deutscher Juden noch immer wenig bekannt ist.

Eindringlich erlebte ich das Potenzial des Riga-Komitees im Sommer 2012 beim Workcamp in Riga. Die 17-jährige Anna aus Linz in Österreich las im früheren Ghetto Passagen aus den Erinnerungen von Gertrude Schneider vor, die als Dreizehnjährige aus Wien nach Riga deportiert worden war und dort Tagebuch geführt hatte. In Bikernieki begegneten mir Jugendliche aus Deutschland, Lettland und Österreich, die sehr offen, bewegt und durchdacht über ihre Beweggründe, ihre Eindrücke und Gefühle sprachen. Bei Lisa, Simon, Linda, Darta, Laura wurde überzeugend deutlich, wie sehr solche Arbeit mit Jugendlichen Sinn macht und Anlass zu Hoffnung gibt.[29] Drei Schüler aus Münster, die beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2013 einen 3. Preis gewonnen hatten, spendeten ihr Preisgeld für die Holocaust-Überlebenden in Riga.

 



[1] Dies ist die erweiterte und laufend aktualisierte Fassung (Februar 2014) meines Beitrags „Das Deutsche Riga-Komitee und die Bedeutung Rigas im kollektiven Gedächtnis der Deutschen“, in: Schuhe von Toten – Dresden und die Shoa, hrsg. von Gorch Pieken und Matthias Rogg, Katalog zur Sonderausstellung  „Schuhe von Toten – Dresden und die Shoa“ im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, Dresden Januar 2014 (Sandstein-Verlag), www.mhmbw.de/sonderausstellungen/schuhe-von-toten

[2] Der Prozess lief von 1990 bis 1994 vor dem Landgericht Münster. Er wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten B. Maikovskis nach 205 Verhandlungstagen am 11. März 1994 eingestellt. Meine Frau und ich beobachteten und begleiteten den ganzen Prozess. Eberhard Groesdonk, Heinz Bernd Lange, Winfried Nachtwei, Ojars Janis Rozitis: Die Vernichtung von Audrini, seine justizförmige Bearbeitung (1944-1994) und die Öffentlichkeit, in: NS-Verbrechen und Justiz, hrsg. vom Justizministerium des Landes NRW, Juristische Zeitgeschichte Band 4, Düsseldorf 1996, S. 1-205

[3] Bernhard Press: Judenmord in Lettland, 1941 – 1945, Eigenverlag 1988. Das Buch ist seither in mehreren Auflagen im Berliner Metropol-Verlag erschienen.

[4] Eine Gesamtübersicht der Literatur, Materialien und Medien zu Deportationen nach Riga 1941/42, Ghetto Riga 1941-1944“ von W. Nachtwei, seit 1990 bis 2013 ständig erweitert, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1120 . Gesamtdarstellungen: Andrej Angrick und Peter Klein: Die „Endlösung“ in Riga – Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006; Anita Kugler: Scherwitz – Der jüdische SS-Offizier, Köln 2004;Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-19445, Wiesbaden 2005; Gertrude Schneider: Reise in den Tod. Deutsche Juden in Riga 1941-1944, 2.Auflage Dülmen 2008; Alexander Bergmann: Aufzeichnungen eines Untermenschen. Ein Bericht über das Ghetto in Riga und die Konzentrationslager in Deutschland, Bremen (Edition Temmen) 2009; zu Transporten aus Westfalen W. Nachtwei: Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga, in: U. Bardelmeier, A.Schulte Hemming: Mythos Münster. Schwarze Löcher – Weiße Flecken, Münster 1993; Georg Möllers, Jürgen Pohl: Abgemeldet nach „unbekannt“ 1942. Die Deportation der Juden aus dem Vest Recklinghausen, Essen 2012. Zum „Buch der Erinnerung“ siehe Fußnote 15.

[5] Karin Völker: Auf der Spur von 390 Verschollenen, in: Westfälische Nachrichten Münster 9. Dezember 1989. Bis Anfang 2014 hielt ich meinen bebilderten Vortrag „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“ ca. 160 Mal in rund sechzig Städten, davon  41 in Nordrhein-Westfalen, vor allem auf Einladung von Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Volkshochschulen. Mit einem Info-Blatt „Spurensuche gegen Gleichgültigkeit und Rassismus“ bot ich in den Folgejahren interessierten Gruppen und Organisationen den Vortrag und andere Materialien als „Erinnerungshilfen“ zur Deportationsgeschichte an.

[6] Deutschland 1992, 50 Minuten

[7] Winfried Nachtwei: Vor zwanzig Jahren: Erste Erinnerungsreise nach Riga, Beginn der Solidarität mit Holocaust-Überlebenden im Baltikum, Reisenotizen und Bericht 1993, www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1221

[8] Hanna und Wolf Middelmann: Dem Judenmord entkommen. Über zwei Jahrzehnte unseres intensiven Austausches mit den Überlebenden des Holocaust im Baltikum, Manuskript Göttingen 2013. Middelmanns reisten bisher 40 Mal ins Baltikum.

[9] Mitglieder des Freundeskreises ermöglichten den Film „Die Präsidenten“ über Alexander Bergmann und Steven Springfield, die Vorsitzenden des Vereins der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands/Riga und der Jewish Survivors of Latvia/New York, Regie Heike Gläser, Berlin 2001. Hermann Kuhn warb für die Unterstützung des Museums „Juden in Lettland“ und sorgte dafür, dass der historische Wegweiser „Juden in Riga – Auf den Spuren des Lebens und Wirkens einer ermordeten Minderheit“ 1995 auf Deutsch erscheinen konnte (Edition Temmen). Der Autor initiierte die Spendensammlung „Ghetto-Mahnmal Riga“, die 10.200 DM für die Aufstellung eines Gedenksteins auf dem Alten Jüdischen Friedhof im Sommer 1994 erbrachte.

[10] Veranstaltung „Die Überlebenden nicht vergessen“ des Bundesverbandes für NS-Verfolgte zusammen mit Jan Karski, dem Kundschafter des polnischen Widerstandes. Vgl. Alexander Bergmann, Die vergessenen Juden von Riga- Zur Situation der baltischen Holocaust-Überlebenden, Rede zum  Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 1997 in der Jerusalem Kirche Hamburg, hrsg. vom Hilfsfonds „Jüdische Sozialstation“ e.V., Freiburg

[11] Schirmherrschaft Bundespräsident Dr. Thomas Klestil, Mitglieder des Ehrenkomitees u.a. Nationalratspräsident Fischer, Bundeskanzler Vranitzky, Vizekanzler Schüssel, Ex-Präsident Kirchschläger, Kardinal König.

[12] Artikel 1 des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Lettland: „Im Sinne dieses Abkommens bedeuten ´deutsche Kriegstote` Angehörige deutscher Streitkräfte, diesen nach deutschem Recht gleichgestellte Personen, sonstige Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die im Zusammenhang mit den Ereignissen des Krieges 1914/1919 oder des Krieges 1939/1945 oder nach ihrer Deportation gestorben sind.“ Bundesgesetzblatt 1996 Teil II Nr. 53, Bonn 18.12.1996

[13] Der Durchschnittsbeitrag der Gründungsmitglieder lag bei 15.000 DM. Bericht von der Gründung des Dt. Riga-Komitees unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=86&aid=451

[14] Bei der vorhergehenden Gedenkfeier im Haus der Jüdischen Gemeinde sprachen der lettische Ministerpräsident Andris Berzins, der israelische Botschafter Avraham Benjamin, MdB Prof. Wolfgang von Stetten, Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe, Karl-Wilhelm Lange Präsident des Volksbundes. Die Gedenkansprache hielt der nordrhein-westfälische Innenminister Dr. Fritz Behrens. Margers Vestermanis: Über die Gedenkstätte der Naziopfer im Wald von Bikernieki und zur Geschichte dieses Ortes, 2010, unter www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/ueber-die-gedenkstaette-der-naziopfer-im-wald-von-bikernieki.html , W. Nachtwei: Bericht von der Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki, 2001, unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&carid=86&aid=452

[15] Zuvor hatte es in Riga eine Kontroverse um die Inschrift gegeben. Auf nicht-jüdischer Seite gab es Einwände gegen die Benennung der einheimischen Mittäter.

[16] 60. Jahrestag der ersten Judendeportationen aus dem Rheinland und Westfalen, hrsg. von Bündnis für Toleranz und Zivilcourage NRW, Landeszentrale für politische Bildung NRW, Arbeitskreis der ND-Gedenkstätten NRW, Düsseldorf 2001

[17] Buch der Erinnerung – Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, hrsg. v. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. in Verbindung mit der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ und der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“, bearb. V. Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München (K G Saur) 2003

[18] Die Bundeswehr unterstützte die Workcamps durch Stellung eines Busses, Fahrers und Sonderurlaub für einen Soldaten, der als Teamer mitfuhr.

[19] Bochum 27.1.2007, Gelsenkirchen 8. November 2007, Magdeburg 25. Februar 2008, Recklinghausen 5. März 2009, Gütersloh 9. November 2009, Haltern am See und Marl 27. Januar 2010, Viersen 14. Juni 2010, Herford 17. Mai 2011, Moers 4. Oktober 2011, Marburg 4. September 2012, Bünde 9. November 2012 und Stadtlohn 11. Dezember 2012, Drensteinfurt 29. September 2013, Telgte und Ahlen im Oktober 2013, Dülmen Januar 2014.

[20] „Eine Schule, in der der Name der Schule Aufgabe und Verpflichtung bedeutet“ – Engagement gegen das Vergessen, ein Kurzbericht, Alexander-Lebenstein-Realschule, Schule Ohne Rassismus – Schule Mit Courage, Haltern 2008, www.alexander-lebenstein-realschule.de

[21] Unterstützt durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und das Programm „Europeans for Peace“, www.donboscoschule.de (Europaschule)

[22] Ein Kunstprojekt für Europa von Gunter Demnig, das „die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig hält“. Die Stolpersteine werden am letzten selbst gewählten Wohnort verlegt und durch Patenschaften ermöglicht. www.stolpersteine.com

[23] W. Nachtwei: Bericht und Redebeiträge von der Großen Choralsynagoge, dem Alten Jüdischen Friedhof, Rumbula + Bikernieki, unter www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/redebeitraege-zur-gedenkveranstaltung-10-jahre-deutsches-riga-komitee.html

[24] Broschüre, Ausstellungskatalog und andere Materialien unter www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee.html

[25] Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Deutsches Riga-Komitee: Erinnern und Gedenken sind keine Momentaufnahme, Tagungsband des 1. Symposiums des Riga-Komitees in Magdeburg, Kassel 2013; W. Nachtwei: Bericht vom Symposium in Magdeburg, unter www.nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1176

[26] „Wir haben es doch erlebt.“ Das Ghetto von Riga, Regie: Jürgen Hobrecht, Deutschland 2013, Länge 98 Minuten. Als DVD zu beziehen über  Phoenix-Medienakademie Berlin (www.phoenix-medienakademie.com ) oder LWL-Medienzentrum für Westfalen.

[28] Für die Errichtung einer solchen Gedenkstätte setzt sich vor allem das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) in Dortmund und Minsk ein. Das Projekt wird unterstützt von Bundespräsident Joachim Gauck, vom bisherigen Volksbund-Präsidenten Reinhard Führer und dem Generalsekretär des Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Rudolf Sirsch. Vgl. Der Vernichtungsort Trostenez in der europäischen Erinnerung, Materialien zur Internationalen Konferenz vom 21.-24. März 2013 in Minsk, hrsg. von Peter Junge-Wentrup, IBB Dortmund 2013; www.ibb-d.de/trostenez.html

[29] Die Interviews in dem Bonusfilm „Der Zukunft ein Gedächtnis“ auf der DVD des Films „Wir haben es doch erlebt“ Das Ghetto von Riga