"Militärische Abzugsperspektive" und "Schlussfolgerungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik", Leseprobe aus W. Nachtwei`s Beitrag "Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung", erschienen in der empfehlenswerten SOWI-Jahresschrift 2011 "Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan", hrsg. von A. Seiffert/Phil C. Langer/Carsten Pietsch, VS-Verlag 2011
Perspektiven des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr
Winfried Nachtwei (Juni 2011)
Militärische Abzugsperspektive
Nach den vertanen Chancen und strategischen Fehlern der Vergangenheit besteht die Gefahr eines Scheiterns des internationalen Afghanistaneinsatzes. Das hätte desaströse Konsequenzen für die Menschen in Afghanistan, insbesondere für die Reformkräfte, für die regionale Sicherheit und die wankende Atommacht Pakistan, für eine Politik kollektiver Sicherheit und multilateraler Konfliktlösung im Rahmen des UN-Systems. Es wäre ein weltpolitischer Totalschaden. Wie aber können nach so vielen Jahren der Enttäuschung und des Vertrauensverlustes Köpfe und Herzen gewonnen und die wuchernde Aufstandsbewegung wirksam eingedämmt werden,
-   wenn die afghanische Regierende durch Korruption und schlechte Regierungsführung Köpfe und Herzen abstößt, wenn ISAF ihr Schutzversprechen für die Bevölkerung trotz größerer Rücksichtnahme immer weniger erfüllen kann;
-   wenn Infiltration und Einschüchterungsterror durch Aufständische so weit fortgeschritten sind und wenn getötete oder gefangene einheimische Führer der Aufständischen durch jüngere, radikalere aus Pakistan ersetzt werden;
-   wenn internationale Akteure ihren baldigen Abzug ankündigen, während Kräfte aus dem Bürgerkrieg um günstige Positionen für die Zeit danach rivalisieren und Aufständische inmitten der Bevölkerung agieren und nur warten brauchen?
Mit dem Strategiewandel und der Kraftanstrengung auf Seiten der USA sind andererseits die Voraussetzungen für ein kohärentes internationales Engagement besser denn je. Deshalb kommt es jetzt darauf an, noch vorhandene Chancen zu identifizieren und bestmöglich zu nutzen.
Unumgänglich war, eine Frist für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in 2014 zu setzen. Damit dieser verantwortbar ist und nicht mit einem Exodus der über 2014 hinaus notwendigen internationaler Aufbauunterstützung einhergeht, bedarf es einer großen konzertierten Kraftanstrengung - vor allem beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte, bei der Förderung besserer Regierungsführung vor allem in den Distrikten und Provinzen, bei der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Reformkräfte sowie bei Aufbau und Entwicklung, insbesondere der Landwirtschaft. Die richtige Fokussierung auf die zügige Stärkung afghanischer Sicherheitsstrukturen wird aber ein Kampf gegen Windmühlenflügel und gigantischer Rohrkrepierer, wenn er nicht mit intensiven Bemühungen um politische Konfliktlösung einhergeht: auf lokaler, nationaler und vor allem regionaler Ebene, insbesondere unter Einbeziehung Pakistans. Ohne politische Lösungen und Machtbeteiligungen ist die Hydra von Aufstand und Terror nicht zu bezwingen. Dabei nicht die Menschen- und Frauenrechte zu opfern, ist eine besondere Herausforderung.
Schlussfolgerungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Unübersehbar sind in der öffentlichen Debatte Tendenzen, den Afghanistaneinsatz als Blaupause zu nehmen: einerseits als Muster künftiger Auslandseinsätze mit intensiver Aufstandsbekämpfung; andererseits als angeblicher Beleg für die Pauschalbehauptung, Auslandseinsätze seien Krieg. Beide Schlussfolgerungen sind verfehlt.
(a)   Frieden bleibt für die Außen- und Sicherheitspolitik generell der Ernstfall - als Krisenprävention, Friedenssicherung, aber auch Friedenswiederherstellung und Bündnisverteidigung durch den Einsatz militärischer Gewalt.
(b)   Deutschland bleibt als UN-, EU- und NATO-Mitglied in Mitverantwortung für die Eindämmung und Lösung internationaler Krisen und Gewaltkonflikte. Das ist auch im weitsichtigen deutschen Sicherheitsinteresse.
(c)   Aus der Not, in Afghanistan von der Friedenssicherung in die Aufstandsbekämpfung gerutscht zu sein, darf keine politische Tugend gemacht werden. Der Einsatzverlauf in Afghanistan ist ein lehrreiches, aber abschreckendes Beispiel. Die Hauptperspektive deutscher Beteiligung an internationalen Kriseneinsätzen ist weiterhin Friedenssicherung, Stabilisierung, Schutz - und nicht vermehrt Aufstandsbekämpfung. Gefordert ist nichts desto weniger das gesamte Fähigkeitsspektrum mit der Kampffähigkeit als Grundlage.
(d)   Deutsche Sicherheitspolitik muss sich ehrlicher machen und die Mechanismen und Mentalitäten von Selbsttäuschung und Realitätsverleugnung überwinden. Sie braucht ungeschönte Lageanalysen und eine Wirksamkeitsorientierung, für die die Fähigkeit zur Selbstkritik und unabhängige Wirksamkeitsevaluierungen unabdingbar sind.
(e)   Wo Soldatinnen und Soldaten in der Pflicht zum treuen Dienen stehen, ist die Grundpflicht der Träger des Primats der Politik, im Rahmen des Völkerrechts klare Mandate zu formulieren und alles dafür zu tun, dass die Aufträge auch erfüllbar und verantwortbar sind.
(f)   Bei großen Einsätzen sind ressortgemeinsame Strukturen und umfassende Mandate überfällig, in denen neben der militärischen Dimension auch die wesentlichen zivilen Aufgaben, Fähigkeiten und Ressourcen festgelegt werden. Das Beharren auf einem starren Ressortprinzip mindert die Wirkungschancen eines Kriseneinsatzes.
(g)   Kernaufgaben von Einsätzen im Rahmen internationaler Krisenbewältigung sind Sicherheitssektorreform sowie die Förderung von Staatlichkeit. Angesichts der Erfahrungen mit der „Illusion Statebuilding" (Bliesemann de Guevara/Kühn) sind konzeptionelle Klärung, Förderung entsprechender Expertise und Fähigkeiten dringend erforderlich. Dabei kommt der lokalen Dimension und der Chancenorientierung eine besondere Bedeutung zu.
(h)   Beteiligung an internationaler Krisenbewältigung braucht vor allem beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte gesellschaftliche Akzeptanz. Dies kann nur durch glaubwürdige öffentliche Kommunikation erworben werden. Ohne überzeugende Führung gibt es keine Durchhaltefähigkeit und Verlässlichkeit. Wo inzwischen die Zweifel an Sinn, Wirksamkeit und Verantwortbarkeit von Auslandseinsätzen verbreitet sind, ist die (selbst)kritische und öffentliche Auswertung der Auslandseinsätze überfällig.
(i)   In Deutschland gibt es inzwischen Abertausende Rückkehrer aus Kriseneinsätzen - Soldaten, Entwicklungshelfer, Polizisten, Diplomaten. Statt des verbreiteten Desinteresses verdienen sie seitens der Politik, der Arbeitgeber und der Gesellschaft Aufmerksamkeit und verlässliche Unterstützung. Ihre Erfahrungen und ihre Kompetenz sind ein Potenzial, das ganz anders zur Förderung der friedens- und sicherheitspolitischen Bildung und Debatte genutzt werden sollte.
(Schlusskapitel des Beitrags „Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr - Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung", Stand Juni 2011, leicht gekürzt veröffentlicht in dem sehr empfehlenswerten Band von Anja Seiffert/Phil C. Langer/Carsten Pietsch (Hrsg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan - Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, Dezember 2011)
Ende 1941/Anfang 1942 rollten Deportationszüge aus Deutschland und Österreich nach Riga.
1989 stieß ich auf die Spuren der verschleppten jüdischen Frauen, Männer und Kinder.
Mit meinem bebilderten Vortrag "Nachbarn von nebenan - verschollen in Riga" stehe ich gern für Erinnerungsveranstaltungen und Schulen zur Verfügung. (Anlage)
Von der zivilen Krisenprävention bis zum Peacebuilding: Die 53-seitige Broschüre stellt kompakt und klar auf jeweils einer Themenseite Prinzipien, Akteure und Instrumente des Krisenmanagements vor. Bei einem Kolloquium im Bundestag in Berlin wurde die Schrift einem Fachpublikum vorgestellt. Erstellt von AutorInnen des Zentrums Internationale Friedenseinsätze ZIF und der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP ist die "Toolbox" ein wichtiger Beitrag zur friedens- und sicherheitspolitischen Grundbildung auf einem Politikfeld, wo die Analphabetenrate in der Gesellschaft, aber auch in Medien und Politik sehr hoch ist. ... www.zif-berlin.de
Auf dem Foto überreicht W. Nachtwei den AutorInnen seine 2008 erschienene Broschüre zur Zivilen Krisenprävention und Friedensförderung.
Mehr zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der zivilen Konfliktbearbeitung u.a.: