Srebrenica vor 25 Jahren: Verweigerte Schutzverantwortung - Anstoß zur Schutzverantwortung. Beiträge aus dem Bosnien-Streit der Grünen 1995 ff. - Erfahrungen und Lehren

Von: Nachtwei amSa, 04 Juli 2020 18:13:27 +01:00

Vor 25 Jahren wurde in der deutschen Öffentlichkeit und Politik, besonders erbittert bei den Grünen über die Schlüsselfrage gestriien: WAS TUN? angesichts des Bosnienkrieges, der Massaker, der  ethnischen "Söuberungen" und des Tiefpunkts von Srebrenica. Hierzu einige meiner Stellungnahmen und Reden von 1995, 1996, 1998, 2006, 2010 und 2017 und Bemühungen, nicht beim notwendigen Erinnern und Gedenken stehenzubleiben, sondern auch politisch zu lernen.



Srebrenica vor 25 Jahren:

Verweigerte Schutzverantwortung – Anstoß zur Schutzverantwortung

Beiträge aus dem Bosnien-Streit der Grünen 1995 ff. –

Erfahrungen + Lehren

W. Nachtwei, 04./18.07.2020

(Fotos www.facebook.com/winfried.nachtwei )

Vormerkung: Der 25. Jahrestag des Genozids von Srebrenica wurde in deutschen Medien recht breit thematisiert. Wie Deutschland damals „internationale Verantwortung“ wahrnahm und sich überwiegend raushielt, war kein Thema: Zumindest gab es damals in der deutschen Öffentlichkeit und Politik einen heftigen Streit um die obigen Schlüsselfragen, vor allem bei den Grünen. Hier einige Streitbeiträge und Versuche, aus alledem zu lernen.

(1) Bundestagssondersitzung 13. Juli 1995: Scharfe verbale Solidarität!

( http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13049.pdf )

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth:

Die heutige Sondersitzung habe ich nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einberufen.

Meine Damen und Herren, ich möchte im Einvernehmen mit dem Hause vor Eintritt in die Tagesordnung eine Erklärung zur Lage in Bosnien abgeben: Am Dienstag wurde die ostbosnische Stadt Srebrenica durch die bosnischen Serben brutal erobert.

Heute Morgen erfolgte ein weiterer Angriff gegen die UN-Schutzzone Žepa. Die Zivilbevölkerung in Ostbosnien leidet große Not. Tote und Verletzte sind die Opfer dieser hasserfüllten Aggression. Zehntausende wurden erneut in die Flucht getrieben. Die Leiden und die Bedrohung der Bevölkerung steigern sich ins Unermessliche.

Der Deutsche Bundestag verurteilt die Besetzung der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnischen Serben und die Vertreibung, Einkesselung und Selektion der dortigen Bevölkerung auf das schärfste. Das gilt auch für die jüngsten Angriffe auf Žepa.

Wir erklären uns solidarisch mit den geschundenen Menschen. Ihr Leid und ihre verzweifelte Lage bewegen uns zutiefst. Alle Möglichkeiten für humanitäre Hilfe müssen unverzüglich genutzt werden.

Die serbischen Überfälle und die widerrechtliche Besetzung der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnisch-serbische Armee stellen flagrante Verletzungen des Völkerrechts und aller anderen, mühsam zustande gebrachten Vereinbarungen mit den kriegführenden Parteien dar. Sie sind ein Angriff auf die Vereinten Nationen als Institution der Internationalen Staatengemeinschaft und stellen die gesamte Mission der Schutztruppe UNPROFOR in Frage. Sie stehen auch massiv im Gegensatz zu den Friedensbemühungen der Europäischen Union. Auch die Übergriffe gegen die Blauhelm-Einheiten in der Schutzzone, insbesondere die jüngsten gegen die niederländischen UN-Soldaten, tragen zur weiteren Verschärfung der Lage in Bosnien bei.

Unterdessen eskaliert der Krieg weiter. Die serbischen Angriffe in dieser Woche zeigen, dass die bosnischen Serben nichts weniger planen als Vertreibung, Vernichtung der bosnisch-moslemischen Kultur auf dem Balkan und gezielten Völkermord. Der Deutsche Bundestag stellt sich mit Entschiedenheit gegen die eklatante Verletzung des Völkerrechts und des Friedensauftrags der UN-Schutztruppe in Bosnien.

Im Einklang mit der Resolution 1004 des Sicherheitsrates der UN vom 12. Juli 1995 fordern wir den sofortigen Abzug der bosnischen Serben aus Srebrenica und die volle Respektierung aller Schutzzonen. Wir fordern die sofortige Einstellung der Kämpfe und Vertreibungen sowie die Aufnahme von Verhandlungen zur Umsetzung des Friedensplans der Kontaktgruppe.

Wir appellieren an die serbische Führung in Belgrad, nachweislich und glaubwürdig ihren Einfluss auf die bosnischen Serben im Sinne dieser Zielsetzungen auszuüben.

Der Deutsche Bundestag befürwortet den weiteren Verbleib der UN-Schutztruppe in Bosnien und den Fortbestand des UN-Mandats für die Schutzzonen in Bosnien-Herzegowina. Die Vorgänge in Srebrenica zeigen deutlich, welch katastrophale Entwicklung für die Zivilbevölkerung eintreten würde, wenn die Blauhelme der Vereinten Nationen aus dieser Region abziehen müssten.

Unser wichtigstes Anliegen angesichts der andauernden blutigen Kämpfe und der menschlichen Tragödie in Bosnien muss es bleiben, diesen Krieg zu beenden und den Menschen in ihrer Not und Verzweiflung zu helfen.

(2) Mein internes Beratungspapier „Nach Srebrenica: Zusehen? Eingreifen? Oder was?“27. Juli 1995 (veröffentlicht im „Maulwurf“, Zeitung von GAL/GRÜNEN Münster August 1995)

„In der ostbosnischen Enklave Srebrenica sind seit 1992 43.000 Menschen eingeschlossen und von Hilfsorganisationen nur unzureichend versorgt. Anfang Juli 1995 greifen Truppen des bosnischen Serbenführers Ratko Mladic die UN-Schutzzone an. Für die nur 200 niederländischen UN-Blauhelmsoldaten gibt es keine Verstärkung. Zur Entlastung angeforderte Luftangriffe kommen nicht zustande. Die Blauhelmsoldaten liefern den Angreifern die Flüchtlinge aus: 23.000 Frauen und Kinder werden nach Tuzla gefahren. Hunderte männliche Gefangene werden außerhalb des UNPROFOR-Lagers erschossen. 15.000 Männer versuchen sich im Fußmarsch über die Berge durchzuschlagen. Die Truppen der bosnischen Serben bringen etwa 8.000 Muslime aus Srebrenica auf der Flucht um.

„Innerer Frieden“

Am 30. Juni beschloss der Bundestag die Entsendung von Bundeswehreinheiten nach Ex-Jugoslawien. Aus den Reihen der Opposition sprachen auffällig viele AußenpolitikerInnen und viele gerade derjenigen PolitikerInnen für die Regierungsvorlage, die seit Jahren besonders intensiv und menschlich mit den Angegriffenen verbunden sind. Zugleich war unverkennbar, dass vielen in Regierung und Koalition ziemlich mulmig zumute ist.

Die bündnisgrüne Fraktion hat die Debatte mit wider Erwarten großer Geschlossenheit und zugleich Ehrlichkeit durchgestanden. Viele waren erleichtert, dass die Zerreißprobe an uns vorüber ging. Zugleich standen viel mehr von uns, als nach außen sichtbar wurde, in einem höchstgradigen Gewissenskonflikt zwischen zwischenmenschlich-antifaschistischer und pazifistischer Grundhaltung und innergrünen Erwägungen. Der innere Frieden, unser Parteifrieden blieb gewahrt.

Naher Krieg

Völlig entgegengesetzt die Entwicklung des nahen Krieges in Bosnien. Nach dem 30. Juni war schnell Schluss mit der relativen Entspannung nach der Massengeiselnahme von Blauhelmen. Die serbische Aggression eskalierte zur Stürmung von „Schutzzonen“, der Selektion, Massakrierung und Vertreibung tausender Menschen – unter den Augen der Weltöffentlichkeit, in Anwesenheit der internationalen „Gemeinschaft“ in Gestalt von VN-Blauhelmen. Karadzic und General Mladic kündigten die Eroberung „aller muslimischen Enklaven bis zum Herbst“ an, falls diese nicht „vollständig entmilitarisiert“ würden.

 

Fischer`s „Briefbombe“

In diesen Tagen der fortschreitenden serbischen Aggression entstand Joschkas Brief an die ParteifreundInnen, eine Woche vor der kroatischen Offensive, der Rückgewinnung der Krajina, der Befreiung des belagerten Bihac und der serbischen Massenflucht.

Zu Recht sieht er die Folgen des zu diesem Zeitpunkt unaufhaltsam erscheinenden serbischen Sieges dramatisch. (...) In Europa sind Krieg und Vertreibung wieder zu einem erfolgversprechenden Mittel der Politik geworden. Nüchtern beschreibt er das Versagen Westeuropas und der internationalen „Gemeinschaft“, in der es niemals einen politischen Willen, nur gegenläufige Interessen gegenüber dem Krieg in Ex-Jugoslawien gegeben habe.

Wider längeres „Wegducken“ und „Durchlavieren“ ruft Fischer dazu auf, der politischen Debatte nicht auszuweichen und Farbe zu bekennen. Auch ich beobachte seit Jahren dieses politische Wegducken in friedensbewegten und linken Kreisen, das sich oft hinter allen möglichen Ausflüchten verbirgt. Höchst engagierte Organisationen wie das Komitee für Grundrechte und der Bund für Soziale Verteidigung scheinen eher die Ausnahme von der Regel zu sein.

Ausgehend von der – zum Teil falschen – These, alle bisherigen Mittel wie Embargo, Schutzzonen, Kontrolle schwerer Waffen, Verhandlungslösungen hätten versagt, sieht Fischer nur noch die zugespitzte Alternative Weichen oder Widerstehen gegenüber den verbliebenen Schutzzonen: Abzug oder militärische Verteidigung. Er spricht sich für ihre militärische  Verteidigung aus, weil es zu ihr nur schlimmere Alternativen gebe.

Bei diesem Bekenntnis bleibt Fischer stehen, zu Umsetzungs- und Erfolgschancen nimmt er kaum noch Stellung. Hier setzen berechtigte Kritiken an. Kritiken hingegen, die seine konkrete Problemstellung (verzweifelte Lage der Schutzzonen) negieren und ihn zu einem Befürworter einer „militärischen Konfliktlösung“ dämonisieren, praktisieren eine Diskussionsunart, die nur die Gegnerbekämpfung im Sinn hat, in der Sache aber keinen Deut weiterbringt.

Bekenntnisdebatten um Grenzen des Pazifismus und Militär gab es reichlich und meist fruchtlose. Ob jetzt nur noch Gewalt hilft oder Militär weiter keine Lösung ist, angesichts der konkreten Kriegsrealität in Bosnien zu überprüfen.

Akute Schlüsselfragen

Bei der Bundestagsdebatte hatten wir zur Tornado-Entsendung Stellung zu beziehen. Innenpolitische Erwägungen und die Perspektiven deutscher Außenpolitik spielten dabei legitimerweise eine besondere Rolle. Die Argumente stimmen weiter.

In diesen Wochen müssen wir uns aber den Fragen stellen, zu denen die Gegner der Bundeswehrentsendung (also auch ich) in der Bundestagsdebatte nichts sagten, wozu wir auch keinerlei Antwort hatten:

Wie kann die Zivilbevölkerung wirksam geschützt und versorgt werden?

Wie kann die fortschreitende serbische Aggression gestoppt werden?

Wie kann der Totalabzug der Blauhelme verhindert, ihre Präsenz wirksamer gemacht werden?

Was hilft kurzfristig, was nur langfristig?

Völlig zu Recht insistieren wir auf den Einsatz nichtmilitärischer Druckmittel, einem wirksamen Embargo, dem Aufnahmeangebot an Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ... Aber offenkundig können diese Maßnahmen nur mittelfristig wirken. Grundsätzlich richtig ist die Forderung, Anti-Kriegsgruppen zu unterstützen. Der Haken daran ist nur, dass die in Serbien zzt. auch nach eigener Einschätzung völlig randständig sind; dass die in Bosnien alle den bosnischen Verteidigungskampf unterstützen.

Aber was hilft kurzfristig?

Das Bekenntnis, man habe kein Patentrezept und es gebe keine kurzfristigen Lösungen, ist richtig, entbindet aber nicht von der Verpflichtung, nach Antworten zu suchen.

Zurzeit bestehen für die „Staatengemeinschaft“ bezogen auf den Blauhelmeinsatz folgende Optionen:

Weiter wie bisher mit starken Worten, viel Verhandeln und realer Tatenlosigkeit;

Abzug der Blauhelme und Aufhebung des Waffenembargos nach dem ehrlichen Eingeständnis, dass man zu einem echten Schutz nicht bereit ist;

Evakuierung der Eingeschlossenen und Aufgabe der Schutzzonen;

Militärische Verteidigung der letzten Schutzzonen und Schaffung eines Versorgungskorridors; offene Parteinahme für die Angegriffenen. (Hierzu ist kein westlicher Staat bereit)

Alle Optionen beinhalten Eskalationsrisiken, beim Blauhelmabzug wären sie am gefährlichsten. Ist die Lage so verfahren, dass es nur noch schlechte Handlungsmöglichkeiten gibt, nicht einmal mehr ein kleineres Übel? Einsatz für die Menschenrechte, Solidarität mit Opfern und Gewaltfreiheit: Wie bekommen wir das angesichts des Krieges in Bosnien noch in Einklang – ohne Wegsehen, ohne Ausflüchte, ohne Kollaboration mit Tätern, ohne Naivitäten und Begünstigung militärischen Denkens?“

(3) Joschka Fischer`s zwölfseitiger Brief vom 30. Juli 1995

an die grüne Bundestagsfraktion und die Partei. Unter der Überschrift "Die Katastrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN" plädierte er für „militärischen Schutz der Schutzzonen am Boden und in der Luft“: Im Wortlaut auf https://www.blaetter.de/ausgabe/1995/september/die-katastrophe-in-bosnien-und-die-konsequenzen-fuer-unsere-partei

(Vgl. Dokumente zum Krieg in Bosnien-Herzegowina, August bis September 1995, hg. vom AK V der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Gerd Poppe, MdB, mit acht Reaktionen auf Joschkas Brief, fünf parlamentarischen Initiativen, Initiativen zur humanitären Hilfe und Reisebericht Sarajevo, Zagreb, Ljubljana, Belgrad, Presseerklärungen und vier Diskussionsbeiträgen zum Bundeswehreinsatz. „Das wäre blutiger Zynismus“ – Joschka Fischer über die Kritik an seinem Bosnien-Papier und den Pazifismus der Grünen, Interview im SPIEGEL 34/1995, http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/9207539

(4) Mein Brief an die FraktionskollegInnen „In Schützengräben für Gewaltfreiheit? Debatte statt Glaubenskrieg um das Fischer-Papier!vom 25.8.1995

Die Art und Weise vieler Reaktionen auf den Brief von Joschka Fischer nötigt mich zu einem dringenden Zwischenruf.

Seit geraumer Zeit läuft die Ex-Jugoslawien-Debatte fast nur noch über die Medien, kaum noch in politischen Zusammenhängen. Im ersten Halbjahr war unsere neue Bundestagsfraktion einer der wenigen Orte, wo zu Ex-Jugoslawien kontinuierlich, sehr kontrovers und ernsthaft diskutiert wurde.  (…)

Inzwischen droht ein Rückfall in die Streitunkultur der 80er Jahre!

Das Medienereignis des Joschka-Briefes zog unvermeidlich die Auseinandersetzung auf der Medienbühne nach sich. Aus Sicht der fraktionsinternen Meinungsfindung war der Zeitpunkt der Veröffentlichung ungünstig, angesichts der zugespitzten Lage in Ex-Jugoslawien sehr angemessen. Zugleich erwiesen sich die Bündnisgrünen damit als einzige Partei, die sich trotz allgemeiner Ratlosigkeit der dringend notwendigen Debatte um den Krieg in Ex-Jugoslawien stellt.

Viele Solidarisierungen mit seiner Intervention beweisen die altbekannte naive Militärgläubigkeit, zu der ich mehrfach das Notwendige gesagt habe.

Einige Kritiken an Joschkas Prämissen (z.B. alle nichtmilitärischen Mittel hätten versagt) und Schlussfolgerungen (z.B. Bekenntnis zur militärischen Verteidigung der Schutzzonen, ohne Umsetzungs- und Erfolgschancen zu diskutieren) sind vollauf berechtigt.

Neben sehr ernsthaften Repliken auf Joschkas Brief wie denen des Komitees für Grundrechte und Demokratie oder von Jürgen Trittin gibt es aus den Reihen der verbliebenen Friedensbewegung, der Partei, ja sogar des Fraktionsvorstandes solche, die nach folgendem Muster vorgehen:

- Negiert wird, dass das Papier unmittelbar nach der Stürmung von Srebrenica und Zepa und angesichts der Karadzic-Ankündigung, die verbliebenen ´Schutzzonen` bis zum Herbst zu erobern, entstand und dies zur Schlüsselfrage machte.

- Stattdessen werden Joschka ausschließlich machttaktische und programmrevisionistische Motive Richtung 1998 unterstellt.

- Seine Forderung nach militärischer Verteidigung der Schutzzonen wird umgeschminkt zur Forderung nach Militärintervention, zur Befürwortung einer militärischen Lösung des Konflikts.

- Stereotyp wird die – grundsätzlich richtige – Erkenntnis ´Militär ist keine Lösung` wiederholt.

- Bei etlichen Wortmeldungen scheinen nur die eigenen Prinzipien und ´die Partei`, nicht aber die Schwächsten in diesem nahen Krieg zu interessieren.

wer so systematisch an der Sache vorbeidiskutiert, praktiziert Wegsehen durch Ausweichen.

Wer so sehr mit Pauschalisierungen, Unterstellungen und Dämonisierungen arbeitet, betreibt Gegnerbekämpfung, aber keine Sachauseinandersetzung.

Vor allem aber: Solche Argumentationsmuster diskreditieren ihre VerfasserInnen und schaden unserer Politik der Gewaltfreiheit, die sich eigentlich verteidigen wollen.

Statt ständiger fruchtloser Bekenntnisdebatten brauchen wir konkrete Antworten auf konkrete Fragen. Nur wenn wir diese Debatte frei und ohne Schützengräben führen, haben wir eine Chance, unseren  Einsatz für Menschenrechte, Solidarität mit Opfern gegen Aggressoren und Gewaltfreiheit in Einklang zu bringen – ohne Wegsehen und Ausflüchte, ohne Kollaboration mit Tätern, ohne Naivitäten und Begünstigung militärischen Denkens.“

(5) Der Streit um den Bosnien-Einsatz 1995-1998: Reden + Stellungnahmen von W. Nachtwei, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&ptid=1&catid=85&aid=1161

(a) Bundestagsrede „Keine Tornados nach Bosnien“, 30.06.1995

(b) Nach Srebrenica: Zusehen, Eingreifen oder was? August 1995

(c) Bundestagsrede „Keine Bundeswehrbeteiligung an IFOR!“, 06.12.1995

(d) Nach Bremen, Bonn und Dayton: 1996 Bewährung für gewaltfreie Politik! 

(e)Positionspapier 18.01.1996 und daraus folgende Resolution „Bewährung für gewaltfreie Politik“, vom Länderrat in Erfurt am 11. Mai 1996 einstimmig verabschiedet

(f) Parlamentsinitiative für den Zivilen Friedensdienst von Gert Weisskirchen (SPD), Winfried Nachtwei und Rainer Eppelmann (CDU) 1996

(g) Reisebericht: Konfrontation mit der Kriegswirklichkeit – Bosnien-Reise der Vorstände von Bundestagsfraktion und Partei (Kerstin Müller, Joschka Fischer, Krista Sager, Jürgen Trittin, Marieluise Beck, W. Nachtwei, Gerd Poppe, Werner Schulz, Uli Fischer, Achim Schmillen und Journalisten von SZ, FR, taz, Focus, Spiegel, Oktober 1996

(h) Frieden muss von unten wachsen – Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung, Rede zum Start des ersten Ausbildungskurses, 20. Mai 1997

(i) Erstmals Ja zur Bundeswehrbeteiligung an SFOR! Bundestagsrede  am 19.06.1998 und Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion

(6) Streit um humanitär begründete Militäreinsätze (Auszug aus W. Nachtwei, Pazifismus. Zwischen Ideal und politischer Realität, Barbara Bleich /Jean-Daniel Strub (Hrg.), Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern, Stuttgart 2006, S. 308 ff., http://nachtwei.de/downloads/beitraege/Winfried_Nachtwei_Pazifismus.pdf )

Mit den Balkankriegen der 90er Jahre kehrte der Krieg in einer Form nach Europa zurück, wie es kaum jemand noch für möglich gehalten hätte.

Unter der Parole »Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin« hatten Friedensbewegung und Grüne in den 80er Jahren dem Wettrüsten und der Kriegsgefahr zwischen den Blöcken eine Absage erteilt und damit kriegsverhütend wirken wollen. Angesichts des Paradigmenwechsels kriegerischer Gewalt – weg von zwischenstaatlichen hin zu innerstaatlichen Kriegen – griff das Wegschauen der internationalen Staatengemeinschaft nicht mehr. Es wurde von der Staatengemeinschaft gegenüber dem angekündigten Völkermord in Rwanda 1994 und anderswo mit verheerenden Konsequenzen praktiziert. Die Vereinten Nationen wurden mit Aufgaben betraut, für die sie nicht die Unterstützung und Mittel der Mitgliedsstaaten bereit gestellt bekamen.

Im Unterschied zum zweiten Golfkrieg entwickelte sich gegenüber dem Krieg vor der Haustür keine breite und sichtbare Massen-Friedensbewegung. Angesichts des moralisch hohen Anspruchs der Friedensbewegung war das enttäuschend. Umso wichtiger waren Menschenrechts- und Friedensgruppen, die einen aktiven Pazifismus praktizierten, sowie etliche BürgerInnen, darunter einige prominente Grüne, die politisch-praktische Solidarität mit Friedenskräften im ehemaligen Jugoslawien und mit Opfern von Krieg, Vergewaltigung und Vertreibung übten. Wo Sarajevo drei Jahre eingekesselt und beschossen, wo Hilfstransporte nicht zu den Hilfsbedürftigen durchgelassen, wo UNO-Schutzzonen zu Fallen wurden und Massenvergewaltigungen verbreitete Kriegstaktik war, da stieß aber auch gewaltfreie Solidarität und Politik an ihre Grenzen.

Exemplarisch war, wie ich erst in der Friedensbewegung, dann im Bundestag trotz dieser Erfahrungen gegen ein militärisches Eingreifen und vor allem eine deutsche Beteiligung daran sprach: Angemahnt wurde Konsequenz und Kohärenz des internationalen Krisenmanagements auf dem Balkan, darunter eine effektive Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen. Gewarnt wurde vor einer unkalkulierbaren Eskalation des Krieges bei einer militärischen Intervention. Angeklagt wurde die Bundesregierung, den Balkankrieg für eine Militarisierung deutscher Außenpolitik zu missbrauchen. Wo die eigene Regierung unter Imperialismus-Verdacht stand, erschien sie für glaubwürdige Friedenspolitik generell ungeeignet zu sein.

Für die aus den Bürgerbewegungen der DDR stammenden Vertreter von Bündnis 90, die seit 1990 im Bundestag saßen, waren diese Befürchtungen zweitrangig. Vor dem Hintergrund ihres Engagements für Frieden, Demokratie und Menschenrechte standen mehrheitlich die Schutzverpflichtung und die Bereitschaft zur – notfalls auch militärischen und polizeilichen – Unterstützung der Vereinten Nationen im Mittelpunkt. Wo die Menschenrechte existenziell verletzt wurden, sahen sie die Pflicht zu handeln. Diese Schutzverpflichtung, die 2005 auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen von allen Staaten anerkannt wurde, war Anfang der 90er Jahre in Deutschland und innerhalb der Bündnisgrünen noch nicht mehrheitsfähig.

Die Jahre 1994 bis 1996 spielten für die Weiterentwicklung der Position eine wichtige Rolle. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und die Erfahrungen mit dem Völkermord in Rwanda und dem Versagen der Vereinten Nationen in der Schutzzone von Srebrenica, setzten eine intensive Debatte in Gang. In Joschka Fischers Brief an die Partei und die Bundestagsfraktion und den darauf folgenden Reaktionen wird die Hitzigkeit der damaligen Auseinandersetzung deutlich. Sie gipfelte in dem Appell Ludger Volmers an Joschka Fischer: »Greif zur Waffe, fahr nach Sarajevo!«

Als die Spitzen von Grüner Fraktion und Partei im Herbst 1996 Bosnien-Herzegovina besuchten und sich als erste bundesdeutsche Partei mit der (Nach-)Kriegswirklichkeit vor Ort konfrontierten, zeichnete sich der Kurswechsel an der Führungsspitze ab.12 In den zerschossenen Ruinen von Mostar, am Hang oberhalb Sarajevos, von wo die serbischen »Snipers« drei Jahre lang tausende Zivilisten ermordet hatten, und beim katholischen Bischof von Banja Luka wurden uns Intensität und Ausmaß der Kriegsgewalt – und das Versagen Europas ihr gegenüber – bewusst. Zugleich präsentierten deutsche SFOR-Soldaten unter General Riechmann ein Militär, das mit seinem Auftrag und Auftreten ganz und gar nicht dem Bild vom militaristischen Krieger-Militär entsprach: Durch ein UNO-Mandat beauftragt und legitimiert zu Gewalteindämmung und Kriegsverhütung statt Kriegführung, verpflichtet zur Verhältnismäßigkeit der Mittel, erstaunlich »zivil« auftretende Staatsbürger in Uniform, in vielem einer Polizei ähnlicher als traditionellem Militär.

Vor dem Hintergrund dieser Schlüsselerfahrungen verschoben sich die Einstellungen gegenüber einem Bundeswehreinsatz im ehemaligen Jugoslawien. Noch in der Opposition vollzog die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am 19. Juni 1998 eine historische Wende: Sie stimmte mehrheitlich der Verlängerung der Bundeswehrbeteiligung an SFOR, einem nach Kapitel VII der UNO-Charta mandatierten friedenssichernden Einsatz zu.

Damit veränderte sich bei den Bündnisgrünen das Verhältnis zur Gewaltfreiheit: Es bleibt der unbedingte Vorrang der Gewaltprävention. Zur Eindämmung, Beendigung und Verhütung illegitimer Gewalt kann rechtsstaatlich legitimierte und begrenzte Gewalt jedoch notwendig sein. Die Bündnisgrünen näherten sich damit den Normen der UNO-Charta an: an ihre Absage an die Geißel des Krieges und an ihr Eintreten für den Weltfrieden und für die internationale Sicherheit, die zulassen, dass Waffengewalt allenfalls (aber auch nur) im gemeinsamen Interesse angewendet werden darf. Konnten die Grünen über lange Zeit beanspruchen, dass sie als einzige Partei radikalpazifistische Positionen vertritt, war das fortan vorbei. Die Partei der Kriegsdienstverweigerer stand vor der Aufgabe, ihr Verhältnis zur Bundeswehr völlig neu bestimmen zu müssen. Gleichzeitig galt es, den Vorrang ziviler Konfliktlösungsansätze in operative Politik zu übersetzen.

(7) Interview mit www.gruene.de am 6. Juli 2010:

Nach dem Massaker von Srebrenica 1995

https://www.gruene.de/ueber-uns/35-gruene-jahre-35-gruene-geschichten/35-gruene-jahre-18-die-frage-der-militaerischen-gewalt.html

Bosnien, Kosovo, Afghanistan. Drei Auslandseinsätze der Bundeswehr zwingen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu heftigen Debatten über Frieden, Gewaltfreiheit und Menschenrechte. Spätestens seit dem Massaker von Srebrenica 1995 diskutiert die Partei immer wieder, ob und wann militärische Gewalt notwendig ist, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Wir sprachen mit Winfried Nachtwei über diesen schmerzhaften Prozess in der Partei, einschneidende Erlebnisse auf einer Bosnienreise und Pazifismus.

Hast Du an einen Parteiaustritt gedacht, als die Grünen in den 90er Jahren die Frage der militärischen Gewalt diskutierten?

Winfried Nachtwei: Nein, das habe ich nicht. Weil ich als Alt-Friedensbewegter die Auseinandersetzung über den Umgang mit den Balkankonflikten intensiv mitführte und wusste, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Unser Anspruch einer gewaltfreien Außenpolitik von Friedenssicherung, Friedensförderung und Gewaltverhütung, und auf der anderen Seite die zugespitzte Konfliktsituation in Bosnien-Herzegowina, wo Zivilisten immer mehr mit massenmörderischer Gewalt konfrontiert waren. Der schreckliche Höhepunkt war das Massaker von Srebrenica 1995. Die Partei stand also in dem Konflikt zwischen gewaltfreier Politik – bezogen auf die eigenen Mittel und Methoden – und der Frage, was zu tun ist, wenn extreme Gewalt Unbeteiligte und Unschuldige drangsaliert.
Warst Du innerlich zerrissen?
Winfried Nachtwei: Natürlich. Das betraf aber nicht nur mich persönlich oder die Grünen. Das ging auch anderen Parteien, der Gesellschaft und der verbliebenen Friedensbewegung so. Weil man die verschiedenen Perspektiven gesehen hat. Wir hatten äußerst intensive und zum Teil hitzige Debatten bei uns in Münster, auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Bremen im Dezember 1995 und in der Bundestagsfraktion.
Welche Argumente hatten die Gegner und die Befürworter von Militäreinsätzen?
Winfried Nachtwei: Ich war damals auch Gegner einer militärischen Beteiligung Deutschlands in Bosnien. Unsere Hauptargumente waren: 1. Nichtmilitärische Möglichkeiten der Konflikteindämmung wie etwa ein Spritembargo waren noch nicht ausgereizt. 2. Die Bundesregierung unter Verteidigungsminister Rühe will das Militär wieder zu einem normalen Mittel der deutschen Außenpolitik machen. 3. Auch wenn es dringende Gründe für den Einsatz von Militär geben mag, wie sieht am Ende die Wirksamkeit aus? Kommt man in eine weitere Eskalation und rutscht in einen Kriegssumpf hinein? Die Befürworter eines Militäreinsatzes sahen die Menschen in Srebrenica, in Sarajevo oder den anderen Enklaven. Sie wiesen auf die akute Bedrohung und das Morden hin und sagten: Du hast recht mit dem Misstrauen gegen die Regierung, aber es muss etwas Handfestes zum Schutz der Menschen geschehen. Es hatte ja schon tausende Tote gegeben. Für Marieluise Beck und Gerd Poppe, die schon oft auf dem Balkan gewesen waren, stand dieser Solidaritäts- und Menschenrettungsaspekt im Vordergrund. Diese beiden Seiten prallten also aufeinander.
Habt ihr schnell einen gemeinsamen Weg gefunden?
Winfried Nachtwei: Es war ein längerer Kampf. Wir hatten am 30. Juni 1995 noch eine Bundestagsdebatte über den Einsatz von Tornados in Bosnien, nachdem dort Blauhelmsoldaten als Geiseln genommen worden waren. Damals haben wir in der Fraktion überwiegend einheitlich gegen diesen Einsatz gestimmt. Nach dem Massaker von Srebrenica schrieb dann aber Joschka Fischer einen zwölfseitigen Brief, in dem er für den „militärischen Schutz der Schutzzonen am Boden und in der Luft“ plädierte. Ich nannte das Papier „Joschkas Briefbombe“ und es führte zu einer Eskalation der innerparteilichen Diskussion. Ich fand aber, dass Joschka mit vielen Argumenten Recht hatte. Dennoch klammerte auch er das Abwägen der Wirksamkeit der Einsätze aus. Auf der anderen Seite gab es Gegenreaktionen von Ludger Vollmer und Angelika Beer, die Joschka abstempelten, als befürworte er jetzt grundsätzlich militärische „Lösungen“. Nach der BDK in Bremen 1995, die die traditionellen Positionen der Gewaltfreiheit noch einmal festzurrte, gab es im Bundestag am 6. Dezember 1995 eine Abstimmung über die Unterstützung einer UN-mandatierten SFOR-Truppe der NATO, die das Dayton-Abkommen absichern sollte. Hier hat sich die Fraktionsgemeinschaft schließlich aufgelöst. 22 der 49 Abgeordneten stimmten für den Einsatz, also gegen das Parteitags-Votum. An diesem Punkt war die bisherige Gemeinsamkeit zerbrochen.“

(8) „Nie wieder!“ Nie wieder? Verantwortung zum Schutz vor Krieg und Massengewalt, in: Gerd Althoff/Eva-Bettina Krems/Christel Meier/Hans-Ulrich Thamer (Hg.). FRIEDEN – Theorien, Bilder, Strategien,  Dresden 2019, S. 362-377 (Podcast des Vortrages, 12.08.2018 auf Deutschlandfunk Nova, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/krisenpraevention-wie-man-frieden-schaffen-kann )

(9) Kommentar zu dem Friedenspolitischen Leitbild in den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ der Bundesregierung von Juni 2017, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1482

Eine Kernforderung in der Diskussion um die Weiterentwicklung des Aktionsplans war seit Jahren die nach einem friedenspolitischen Leitbild. Bisherige Grundlagendokumente von Bundesregierungen und Koalitionen begnügten sich mit Aussagen wie „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“ (basta!) und der Feststellung, dass Deutschland im Rahmen des Völkerrechts handle. Die Leitlinien beginnen mit den Kernsätzen in der Präambel von Grundgesetz und VN-Charta (Friedensauftrag und wider die Geißel des Krieges). Die Förderung des Friedens in der Welt gehöre zu den zentralen Staatszielen, aus ethischer Verpflichtung und aus eigenem Interesse. Frieden sei das höchste Gut internationaler Beziehungen das in der VN-Charta verankerte allgemeine Gewaltverbot sei unverzichtbares Fundament jeder internationalen Ordnung. Deutsche Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik folge der Vision eines positiven, nachhaltigen Friedens, wie sie in der Agenda 2030 ihren Ausdruck gefunden habe.

Der Einsatz für die universellen und unteilbaren Menschenrechte (der bürgerlichen und politischen, der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen) sei eine Querschnittaufgabe deutscher Politik.

(Zu legitimen Ordnungen, sozialem Zusammenhalt und Nachhaltigkeit; zu vereintem Europa)

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gehöre die „Vermeidung von Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen, das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung (...) zur deutschen Staatsraison.“

Im Kasten zur Internationalen Schutzverantwortung heißt es, die Bundesregierung unterstütze zivile Ansätze im Rahmen des R2P-Konzepts. Ziviles Peacekeeping wird dabei als „erprobte Methodik, um Menschen vor Gewalt und schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen“, genannt.

Diese Aussagen zum Friedensauftrag stehen in engem Zusammenhang mit Sicherheitsverständnis der Leitlinien, wo neben dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten die Dimension der menschlichen Sicherheit betont wird.

Mir ist aus den letzten Jahrzehnten kein Grundlagendokument der Bundesregierung bekannt, in dem der Friedensauftrag so durchdekliniert worden wäre. Wenn man bedenkt, wie der Diskurs in der außen- und sicherheitspolitischen Community oft läuft, dann ist das schon ein (positiv) starkes Stück. Dass die Vermeidung von Krieg und Gewalt in den internationalen Beziehungen und das Verhindern von Völkermord zur deutschen Staatsraison erklärt wird,  bedeutet eine enorme Aufwertung, sozusagen eine Höchsteinstufung unter den für den deutschen Staat maßgeblichen Werten, Interessen und Verpflichtungen.

Bemerkenswert ist, dass die Schutzverantwortung im Weißbuch 2016 im Unterschied zum Weißbuch 2006 nicht einmal benannt wird.

Anmerkung Juli 2020:

Die politische Umsetzung der Schutzverantwortung in den Strukturen und Fähigkeiten der Bundesregierung hinkt noch erheblich hinter dem hohen Anspruch der Leitlinien her.

In der Programmatik der Bündnisgrünen ist die Schutzverantwortung seit dem BDK-Beschluss von 2012 fest verankert. In der deutschen Friedensbewegung wird die Schutzverantwortung unter Verweis auf Missbrauchsgefahren generell und die Libyen-Intervention speziell überwiegend kritisch gesehen bis abgelehnt. Beispielhaft dafür steht „Sicherheitspolitik neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040“, das im Kontext der Evangelischen Landeskirche in Baden entstanden ist. Hier werden Srebrenica, der Bosnienkrieg mit seinen 100.000 Toten und der Völkermord von Ruanda schlichtweg ausgeblendet.

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- Srebrenica vor 25 Jahren (I): Es war Völkermord in Europa – und die Regierungen und Gesellschaften (wir damals) ließen es geschehen. Übersichtsartikel, Dossiers, Chronologie,  04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1644

- Srebrenica vor 25 Jahren (II): Verweigerte Schutzverantwortung – Anstoß zur Schutzverantwortung. Beiträge aus dem Bosnien-Streit der Grünen 1995 ff. – Erfahrungen + Lehren,  04./08.07.2020, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1645

- Srebrenica (III) - Was damals geschah: Dokumente, Videos, Zeitzeugenberichte, Auszüge von „Die letzten Tage von Srebrenica“ (David Rohde/1997), Juli 2020), http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1647

- Medienberichte zum 25. Jahrestag des Srebrenica-Genozid Juli 2020 (IV) + Report des UN-Generalsekretärs „The fall of Srebrenica“ (1999), http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1648

- Reisebericht Kurzvisite von Bundeskanzler Kohl am 23. Dezember 1997 in Sarajevo, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1162

- Bericht der Studienreise „Friedensarbeit auf dem Balkan - Zivile Konfliktbearbeitung im ehemaligen Jugoslawien. Teilbericht Bosnien & Herzegowina“, 7.-14. April 2002, http://nachtwei.de/druck/druck%20Friedensarbeit%20auf%20dem%20Balkan.htm

- Brief an den Generalinspekteur zum Ende des Bosnien-Einsatzes der Bundeswehr 2012, Aufmerksamkeit und Dank für erfolgreiche Friedenssicherung vor unserer Haustür! http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1164