www.nachtwei.de :: Pressemitteilung + Beiträge von Winfried Nachtwei :: Bundeswehrreform: Stückwerk ohne Politikreform http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=82-86&aid=1108 en-us Webmaster hourly 1 http://backend.userland.com/rss
Abrüstung und Rüstungskontrolle + Artikel von Winfried Nachtwei für Zeitschriften u.ä.
Browse in:  Alle(s) » Meine Themen » Abrüstung und Rüstungskontrolle
Alle(s) » Publikationstyp » Artikel
Any of these categories - All of these categories

Bundeswehrreform: Stückwerk ohne Politikreform

Veröffentlicht von: Nachtwei am 28. Dezember 2011 13:47:47 +01:00 (62914 Aufrufe)

In der Januarausgabe des "JS-Magazins - Die Evangelische Zeitschrift für junge Soldaten" kommentiert W. Nachtwei die laufende Bundeswehrreform als "Stückwerk ohne Politikreform". Zweiter Kommentator ist Rolf Clement, Leiter der Abteilung "Hintergrund" beim Deutschlandfunk. Das JS-Magazin wurde kürzlich mit dem "kress award 2011" als bestes "Corporate-Media-Product" ausgezeichnet. www.js-magazin.de

Bundeswehrreform: Stückwerk ohne Politikreform

Winfried Nachtwei, MdB a.D. (12/2011)

Ob im Einsatz oder im Inland - überall ist in der Bundeswehr zu spüren, dass sich was ändern muss. Einsatzfähigkeit und Motivation werden durch Überbürokratisierung und Ausrüstungsmängel behindert. Auch wenn es manche nicht mehr hören können: Ein neuer Reformanlauf war überfällig. Minister zu Guttenbergs „Schnellabschaltung" der Wehrpflicht schaffte zunächst mehr Verwirrung, weil die Nachwuchsgewinnung noch nicht umgebaut war. Minister de Maizière ging seriöser an die Neuausrichtung der Bundeswehr heran. Auf dem Boden der Haushaltstatsachen sollen Struktur und Ausrüstung der Bundeswehr solide werden.

Entscheidungen zur neuen Struktur, zu Stationierung und Beschaffungsvorhaben sind notwendig, aber nicht ausreichend. Eine Reform, die endlich länger halten soll, muss mehr beinhalten. Ihr Realismus darf sich nicht in der Berücksichtigung der absehbaren  Haushaltslage und Bevölkerungsentwicklung erschöpfen. Sie muss zugleich Antworten finden auf eine doppelte Krise, in der die Auslandseinsätze der Bundeswehr stecken, vor allem der in Afghanistan:

-         In einer Wirksamkeitskrise: trotz des vorbildlichen Einsatzes vieler Soldaten hat die NATO das Ziel eines stabil-sicheren Umfeldes nicht erreicht;

-         In einer Akzeptanzkrise: die Mehrheit der Bevölkerung lehnt des Afghanistaneinsatz ab - und auch die Soldaten stellen seinen Sinn zunehmend infrage.

Eine zukunftsfähige Bundeswehrreform geht nicht nur die Angehörigen der Bundeswehr und das Verteidigungsministerium an, sondern die Politik und die Gesellschaft insgesamt. Außer bei der Stationierungsfrage ist davon bisher nichts zu spüren.

Absolut notwendig ist zuerst ein klarer Auftrag für die Bundeswehr. Ein Unding ist, dass der seit bald zwei Jahrzehnten erweiterte Auftrag - Teilnahme an internationaler Krisenbewältigung - nicht ausdrücklich im Grundgesetz vorkommt. Das Grundgesetz muss hier genauer formuliert werden, etwa in dem Sinne, dass bewaffnete Streitkräfte jenseits der Landes- und Bündnisverteidigung nur eingesetzt werden dürfen, wenn im Rahmen der UNO Gewalt eingedämmt und internationales Recht durchgesetzt werden soll. Mit einer solchen Grundgesetzänderung würde ein Trennungsstrich gezogen zu einem schrankenlosen Verteidigungsbegriff und einem Interventionismus für Einzelinteressen. Entsprechend müsste man auch die Eidesformel der Soldaten ändern.

Um die Aufgaben der Bundeswehr klarer festzulegen und falschen Erwartungen vorzubeugen, müssen die Auslandseinsätze systematisch ausgewertet werden - das ist schon lange überfällig. Wie sicher ist das Umfeld in Afghanistan, wie stabil sind die Strukturen? Nur so können Bevölkerung und Politik beurteilen, was Streitkräfte leisten, wo ihre Grenzen liegen, was andere besser können - und letztlich, ob ein Einsatz sinnvoll ist. Bisher sträubten sich politisch Verantwortliche, eine unabhängige Wirksamkeitsbewertung von Auslandseinsätzen durchzuführen. Die Folge davon waren Realitäts- und Glaubwürdigkeitsverlust.

Erfüllbare Einsätze brauchen künftig als erstes realitätsnähere und überprüfbare Ziele. Die bisherigen guten und hehren Ziele der Bundestagsmandate reichen da nicht aus.

Eine grundsätzliche Erfahrung von Kriseneinsätzen ist, dass sie nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen zivilen, polizeilichen und militärischen Kräften unter dem Primat der Politik sind. Wo Politik ihre Führungsaufgabe vernachlässigt und zu wenig die politische Konfliktlösung unterstützt, wo nur wenige Polizeiberater an stabilen Sicherheitsstrukturen arbeiten, da ist der Einsatz von Streitkräften einer gegen Windmühlenflügel. Damit der Anspruch des vernetzten Ansatzes auch Wirklichkeit wird, sind ressortgemeinsame Lageerfassung, Planung und Auswertung sowie ausgewogene Fähigkeiten der verschiedenen staatlichen Ressorts eine Grundvoraussetzung. Auch das Bundesinnenministerium und das Entwicklungsministerium brauchen schnell verfügbare, stehende Kräfte. Sonst können die besonders wichtigen Startmonate eines Einsatzes nicht genutzt werden, und die Aufgaben landen doch wieder beim Militär. Bei der jetzigen Bundeswehrreform bleiben diese zivil-militärischen Missverhältnisse völlig unberücksichtigt.

Die Verankerung der Bundeswehr in Demokratie und Rechtsstaat ist eine historische Errungenschaft sondergleichen. Dazu gehört, dass Auftrag und Einsätze der Bundeswehr von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden. Um Akzeptanz zu erreichen, ist eine breite sicherheitspolitische Debatte und Verständigung unabdingbar. Zu dieser seit Jahren geforderten, aber nicht erreichten Debatte müssten vor allem beitragen: Verteidigungsminister, die endlich ihre Grundlagendokumente nicht nur erlassen, sondern vorher zur Diskussion stellen sollten; Einsatzpraktiker, die ohne Maulkörbe ihre konkreten Erfahrungen und Kompetenzen in die öffentliche Debatte einbringen; friedens- und sicherheitspolitisch interessierte Organisationen, die eine Querkommunikation zwischen ihren Diskussionszirkeln aufbauen; schließlich und vor allem die politisch Verantwortlichen, die ihre bisherige sicherheitspolitische Selbstgenügsamkeit überwinden und Strategiefähigkeit entwickeln müssen.

Wo die Krise der Auslandseinsätze in erster Linie eine politische ist, muss jede Bundeswehrreform auch in eine Reform der Sicherheitspolitik eingebettet sein. Eine bloße Ressortreform greift zu kurz und bleibt Stückwerk. Ein seriöser Minister de Maizière ändert nichts daran, dass hier Kabinett und Koalition insgesamt in der Verantwortung stehen.

(Erschienen im JS-Magazin - Die Evangelische Zeitschrift für Junge Soldaten, Januar 2012, hier mit punktuellen Ergänzungen)