www.nachtwei.de :: Pressemitteilung + Beiträge von Winfried Nachtwei :: Nachtwei: Afghanische Unsicherheit näher besehen - Gesamtlage, Zusammenfassung http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=81&aid=948 en-us Webmaster hourly 1 http://backend.userland.com/rss
Bericht von Winfried Nachtwei
Browse in:  Alle(s) » Publikationstyp » Bericht

Nachtwei: Afghanische Unsicherheit näher besehen - Gesamtlage, Zusammenfassung

Veröffentlicht von: Webmaster am 10. Dezember 2009 18:04:37 +01:00 (85821 Aufrufe)

Zusammenfassung der regelmäßig aktualisierten "Materialien zur aktuellen Sicherheitslage Afghanistans (mit Pakistan)", erstellt von Winfried Nachtwei:

Winfried Nachtwei, MdB a.D.                                 10. Dezember  2009

Materialien zur aktuellen Sicherheitslage Afghanistans (mit Pakistan)

(Auszüge von insgesamt 80 Seiten)

Vorbemerkung

Die Informationen der Bundesregierung zur Sicherheitslage Afghanistan sind seit Jahren bruchstückhaft - gegenüber dem Parlament und erst recht gegenüber der Öffentlichkeit. Sie erlauben keine seriöse Einschätzung der Sicherheitslage, ihrer Schwerpunkte, Trends und Ursachen.

Seit August 2007 stelle ich deshalb  zur internen Unterrichtung Informationen zur Sicherheitslage in Afghanistan aus verschiedenen Quellen zusammen, aktualisiere und erweitere sie laufend.

Meine Quellen: Neben Hintergrundinformationen und den Veröffentlichungen von UNAMA (www.unama.unmissions.org), der afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC, dem Afghanistan NGO Safety Office ANSO, ISAF (tägliche operational updates, www.isaf.nato.int) und OEF (www.cjtf82.com)

der wöchentlich aktualisierte „Afghanistan Index Tracking Varables of Reconstruction & Security in Post-9-11", Brookings, www.brookings.edu/afghanistanindex; Institute for War & Peace Reporting/Kabul, www.iwpr.net; www.globalsecurity.org; The Afghanistan Conflict Monitor, Initiative des Human Security Project  www.afghanconflictmonitor.org; The Long War Journal täglich mit Meldungen von ISAF, Agenturen (china-news, Pajhwok Afghan News) und Eigenberichten, www.longwarjournal.org; Center for Strategic & International Studies/CSIS, www.csis.org; International Council on Security & Development/ ICOS, vormals Senlis Council, www.icosgroup.net.

Die Informationen beschreiben die Konflikt- und Kriegsentwicklung im ganzen Land, also auch im umkämpften Süden und Osten, sowie in Pakistan. Gerade über die Entwicklung außerhalb des deutschen Hauptverantwortungsbereichs im Norden  ist in Deutschland wenig bekannt. Hierüber wurden bisher auch die Mitglieder des Verteidigungsausschusses nur marginal unterrichtet.

Vorbehalt: Auch wenn ich verschiedene Quellen abgleiche, kann ich die Verlässlichkeit einzelner Angaben nicht garantieren. Deutlich werden aber Trens und Schwerpunkte.

(Parallel stelle ich seit Sommer 2007 „Better News statt Bad News aus Afghanistan" zusammen: Echte gute Nachrichten, die angesichts des „bad news are good news" Mechanismus kaum durchdringen. www.nachtwei.de)

Ãœbersicht

1. Zusammenfassung

2. Schwierige Lageeinschätzung

3. Gesamttrends der Sicherheitsentwicklung + Konfliktopfer über die Jahre (Übersichten)

3.1  Sicherheitsvorkommnisse insgesamt + räumliche Verteilung

3.2  Waffeneinsatz - Taktiken

3.3  Opfer insgesamt und Zivilopfer speziell

3.4  Opfer auf Seiten der Internationalen Truppen + afgh. Sicherheitskräfte ANSF (Armee ANA, Polizei ANP)

3.5  Ungesetzliche Tötungen

3.6  Kampf um die Wahrnehmung, Umfragen

4. Aktuelle Entwicklungen 2007-2009 (im Detail)

4.1  Trends

4.2   Sicherheitsvorkommnisse wöchentlich nach Regionen, Operationsweisen + ISAF-Opfern

4.3   Sicherheitsvorkommnisse lt. IAF bzw. im ISAF-Bereich

4.4   Größere Gefechte + Opfer auf Seiten der Insurgenten (Militanten) lt. OEF bzw. im OEF-Bereich

4.5   Close-Air-Support/CAS  (Luft-Boden-Einsätze)

4.6   Taliban-Operationen nach Taliban-Meldungen (Auswahl)

5.  Regionen + Provinzen/Lead-Nations

5.1   Britische Truppen (Helmand)

5.2   Kandische Truppen (Kandahar)

5.3   Niederländische Truppen (Uruzgan)

5.4   Deutsche Truppen (RC North)

5.5   US-Truppen (RC East)

6. Pakistan

Anhänge

1.  Zusammenfassung

(a) Die Sicherheitslage hat  sich in Afghanistan seit 2005/6, also parallel zur  ISAF-Süd- und Osterweiterung, erheblich verschärft.  In 2009 haben die Feuergefechte, Sprengstoffanschläge, Hinrichtungen und Entführungen, Luft-Boden-Einsätze, die Opfer unter der Zivilbevölkerung, Polizisten, afghanischen + internationalen Soldaten und Aufständischen ein Ausmaß wie nie seit dem Sturz der Taliban 2001 erreicht.  Januar bis August 2009 gab es landesweit fast 13.000 Attacken von oppositionellen Kräften, zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahrszeitraum und mehr als fünf Mal so viel wie 2005. (US Government Accountability Office/GOA 5.11.2009) Der Anstieg der Zivilopfer um 40% auf  2.118  im Jahr 2008 und um 24% im 1. Halbjahr 2009 ist ein Menetekel. (UNAMA)

In den ersten vier Monaten 2009 erhöhten sich lt. ISAF gegenüber dem Vorjahrszeitraum die Aufständischenangriffe um 64%, Attacken auf Regierungsangehörige um 90%, IED-Attacken um 81%. In der Woche 4.-11. Mai 49,6% im Süden, 2,5% im Norden. In der Wahlwoche 17.-24.8. kam es mit 933 zu mehr als doppelt so vielen Sicherheitsvorfällen wie in den Vorwochen.

In den ersten zehn Monaten 2009 kamen laut UNAMA 1.947 Zivilpersonen im Zusammenhang mit Kämpfen um`s Leben, davon wurden 69% oppositionellen Gruppen als Verursacher zugeordnet (Vorjahr 55%), Pro-Regierungs-kräften einschließlich internationalen Truppen 24% (39%).  Der Rückgang der Zivilopfer durch internationale Truppen wurde deutlich ab Juli 2009.  Am 6.7. hatte ISAF-Kommandeur McChrystal eine neue Tactical Directive erlassen: Verschärfte Auflagen für Militäroperationen sollen die Umsetzung des obersten Imperativs „Respekt, Schutz und Zustimmung der Bevölkerung" befördern. Der Luftangriff von Kunduz war ein Bruch in dieser Linie. Zugleich sind die ISAF-Verluste (vor allem der US-Truppen) so hoch wie nie.

(b) Die Entwicklung der Sicherheitslage bleibt gespalten, es bestehen sehr unterschiedliche Konfliktniveaus in den Regionen, Provinzen und Distrikten nebeneinander:

- In den ersten neun Monaten 2009 geschahen im Süden in Kandahar 721 Sicherheitsvorfälle, in Helmand 402, Uruzgan 146; im Osten Kunar (pak. Grenze) 987, Ghazni 403, Paktika 315; im Westen Herat 200, Badghis 180; im Norden Kunduz 205, Faryab 91, Baghlan 68, Balkh 54, Badakhshan 34; Kabul 149. (ANSO Sept. 2009)

Von den 444 Sicherheitsvorfällen in der Woche vom 6.-13. Juli geschahen 64,4% im Süden, 27,3% im Osten, 4,9% im Westen und 3,4% im Norden.

- In vielen Distrikten vor allem des Südens + Ostens herrscht asymmetrischer Krieg mit permanenter Gefahr von Anschlägen und Zusammenstößen. Hier sehen sich alle Konfliktparteien im Krieg.  Im Süden + Osten geschehen im längerfristigen Trend  um 90% der Sicherheitsvorfälle.

- Im Norden (3,5% der Sicherheitsvorfälle) + Westen herrscht eine niedrigere Konfliktintensität - zum größeren Teil auch mit „normalem" schwerkriminellem Hintergrund - von relativer Ruhe (keine Zwischenfälle) über vereinzelte Anschläge alle paar Monate bis zu einem Terror- und Guerillakrieg in der Provinz Kunduz und dem Distrikt Ghormach/Provinz Faryab im Nordwesten.

- NGO`s waren von Januar bis September 2009 direkt von 114 Sicherheitsvorfällen betroffen (Vorjahrszeitraum 146). 69% der Vorfälle werden der bewaffnen Opposition zugeschrieben, 31% kriminellen Kräften. Dabei wurden 17 Mitarbeiter getötet und 7 verwundet, weniger als im Vorjahrszeitraum. (ANSO)

- Das Afghanische Innenministerium bewertete die Bedrohungslage im Mai 2009 so: 11 Distrikte außerhalb der Regierungskontrolle, in 124 Distrikten high level threat, in 40 medium, in 190 low. Lt. New York Times/LWJ 2.12.2009 ist die Hälfte des Landes „either contested by the Taliban or under Taliban control."

- Die gespaltene Sicherheitslage spiegelt sich auch in der Entwicklung des Mohnanbaus: Während 2008 in 18 „ruhigeren" Provinzen kein Mohn angebaut wurde (in der Region Nord nur noch 0,6%), konzentrierte er sich auf die Hauptkonfliktprovinzen des Südens und Südwestens.

- Insofern ist die hierzulande verbreitete Vorstellung von ganz Afghanistan pauschal im Kriegszustand, als sei kein Unterschied zu den 22 Kriegs- und Terrorjahren 1979 bis 2001, falsch. Das  läuft auf eine Verharmlosung sowohl des Bürgerkrieges als auch der sowjetischen Vernichtungskriegführung hinaus. Genauso falsch, weil pauschalisierend, ist aber auch die wiederholte Behauptung des früheren Verteidigungsministers Jung, in Afghanistan herrsche kein Krieg. Erstes Merkmal ist die Gleichzeitigkeit extrem unterschiedlicher Konfliktlagen - auf der Basis einer verbreiteten Gewaltkultur.

(c) Neuere Schwerpunkte der  Operationen „Regierungsfeindlicher Kräfte" (Anti-Government-Elements/ AGE)/ Aufständischer/Oppositioneller Militanter Kräfte (OMF) liegen in den Südwestprovinzen Farah und Nimruz, der Nordwestprovinz Badghis/ Faryab, der Provinz Kunduz  im Norden, den Provinzen um Kabul und den lines of communication/Hauptnachschubwegen in Pakistan  und Ringroad nach Kandahar.

Auffällig ist die insbesondere in 2008 gewachsene Professionalität, Kampfkraft + Koordination der Aufständischen: Die enorme Zunahme an komplexen Operationen (Kombination von mehrfachen IED, Beschuss mit Handwaffen und Panzerfäusten), direkten Angriffen und Beschuss von Luftfahrzeugen,  die Weiterentwicklung von Sprengmitteln,  schließlich  spektakuläre Großanschläge gegen die Autorität von Regierung/Internationalen.  Das schwächste Glied der Pro-Regierungskräfte, die Polizei, trägt die meisten Opfer. In 2008 kamen 880 Polizisten um`s Leben, in 2009 bis Mai 341.

Das geht einher mit z.T. vermehrten Attacken auf Hilfstransporte und -organisationen,  auf Schulen sowie einer  Einschüchterungs- und Terrorkampagne  gegen Menschen, die mit der Regierung bzw. Internationalen zusammenarbeiten.

(d) Die Provinz Kunduz ist inzwischen für die regierungsfeindlichen Kräfte der strategische Angriffspunkt im Norden: Hier war eine Hochburg der Talibanherrschaft, von hier stammt Heckmatjar, hier bilden die paschtunischen Siedlungsgebiete (35% der 770.000 Provinzbevölkerung) einen Resonanzboden. Mit der Zunahme des US-/ISAF-Nachschubs aus Norden Richtung Kabul wächst die strategische Bedeutung von Kunduz. Die Reduzierung der Polizeistellen in der Provinz um 537 im vorigen Jahr durch die Zentralregierung schwächte die sowieso schon schwachen Sicherheitskräfte.  Es gibt Distrikte praktisch ohne Polizeipräsenz! Zum großen Teil eingesickerte Militante führen einen Terrorkrieg gegen afghanische Sicherheitskräfte und ISAF.  (Vgl. W.N.: „Sicherheitsvorfälle in der Region Nord 2007 bis heute")

Die Lage in der Provinz Kunduz war nie stabil, aber noch September 2006 bis März 2007 relativ ruhig. Die Wende kam mit zwei Selbstmordanschlägen am 16. April 2007 (10 getötete Polizisten) und 19. Mai (3 dt. Soldaten 7 afg. Zivilisten getötet). Die Distanz zwischen ISAF/Bundeswehr und Bevölkerung wuchs, die Attacken häuften sich. Nachdem es zunächst vor allem Raketenbeschüsse, IED-Anschläge und hit-and-run-Attacken waren, erreichte der Konflikt vom 29. April 2009 an eine neue Intensität: Seitdem führten die Aufständischen komplexe Hinterhalte und Angriffe durch, die militärische Führung und Ausbildung verraten und auf die Vernichtung ganzer Einheiten zielten.

Erstmalig standen dabei deutsche ISAF-Soldaten während des AFG-Einsatzes über Stunden in Gefechten und töteten dabei allein am 4. Juni mehr als zehn Gegner. (7 Gefechte zwischen 29.4. und 12.6.)

Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik fiel am 29.4. ein Bundeswehrsoldat im Kampf.  Bisher hatten sich deutsche ISAF-Soldaten darauf beschränkt, bei Beschuss zurückzuschießen und sich aus dem Konflikt zu lösen.  Erstmalig kam es am 15.6. 2009 im Einsatzgebiet der Bundeswehr zu einem scharfen Luft-Bodeneinsatz mit Bordkanone und Raketen.  (Bis dahin blieb es maximal bei show of force.) Jetzt waren Hinterhalte als Mehrfachfallen aufgebaut. Vor Ort in Kunduz herrschte im Juni 2009 die Einschätzung, dass die Bundeswehr nur dank der guten Ausbildung und angemessenen Operationsweise  ihrer jungen Soldaten einer Katastrophe mit vielen eigenen Toten entkommen ist.  Zugleich behielt man lange in dem relativ dicht besiedelten Umfeld die Umsicht, zivile Opfer strikt zu vermeiden.

Der Luftangriff vom 4. September gegen zwei entführte Tanklaster südlich Kunduz mit lt. COM-ISAF-Bericht bis zu 142 Toten, darunter vielen Zivilisten, war eine menschliche und politische Katastrophe - auch wenn er in nichtpaschtunischen Teilen der Provinzbevölkerung sogar Zustimmung fand. Rund um Kunduz ist inzwischen ständig mit illegalen Checkpoints zu rechnen, ist Aufbauarbeit zzt. nicht mehr möglich. Im Oktober hieß es,  5 der 7 Distrikte der Provinz seien unter dem Einfluss der Taliban.

Der Vorschlag des RC North Brigadegeneral Vollmer im September, 2.500 zusätzliche Polizisten auszubilden und für zwei Jahre von Seiten der Bundesrepublik zu besolden (ca. 9 Mio. US-$), ähnliches hatte Kanada in Kandahar getan), wurde von der Bundesregierung abgelehnt.  Die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz rutscht weg!

Verstärkt führen US-OEF-Spezialkräfte und ANSF in der Provinz eigenständige Operationen durch, über die Bundeswehr/ISAF anfangs nicht einmal informiert wurden. (vgl. die Geheimoperation von Imam Shahib im März, als lt. glaubwürdigen Quellen 5 Mitarbeiter des Bürgermeisters regelrecht exekutiert worden sein sollen.) Offen ist bisher, ob solche Operationen zur Konflikteskalation in der Provinz beigetragen haben.

Der bisherige Höhepunkt war in der ersten Novemberwoche 2009 eine fünftägige Großoperation im Distrikt Chahar Darreh mit massivem Luftwaffeneinsatz , bei der über 130 Taliban getötet worden sein sollen. Inzwischen sollen auch ehemalige Mudschaheddin-Kommandeure die Initiative übernommen haben.

Im Unterschied zu diesen kriegerischen Paralleloperationen blieb bei ISAF/Bundeswehr im Norden lange die Grundlinie, sich nicht in eine Gewalteskalation hineinziehen zu lassen, den Guerillakrieg wohl mit militärischer Gewalt, aber nicht generell mit Krieg zu beantworten. Die nebligen Umstände des Luftangriffs vom 4. September werfen die Frage auf, ob es entgegen den Beteuerungen im Verteidigungsausschuss der letzten Legislaturperiode doch einen Taktikwandel gegeben hat.

In der öffentlichen Diskussion in Deutschland geraten die taktische Ebene (Kriegssituation in einzelnen Distrikten) und strategische Ebene (Stabilisierungsunterstützung) immer wieder durcheinander.  Wer jetzt pauschal „den Krieg erklärt", vereinfacht die sehr verschiedenen afghanischen Realitäten, wischt die Grunderkenntnis, dass mit Krieg die Konflikte in Afghanistan nicht zu lösen sind, beiseite, und nimmt dem Afghanistaneinsatz  die letzte Legitimität und Perspektive. Wer kann es da noch verantworten und wagen, als Polizist, Entwicklungshelfer, Diplomat in ein solches Kriegsgebiet zu gehen?  (Vgl. meine Stellungnahme „Krieg in Afghanistan - Bundeswehr im Krieg!?" 10/2008, aktualisiert 11/2009)

(e) Die Aufständischen können sich mit den pakistanischen Grenzregionen auf ein Hinterland stützen, wo ca. 150 Ausbildungslager existieren sollen (Schätzungen von 2008) und wo die pakistanischen Taliban ihre Macht zeitweilig immer mehr ausweiteten und sich mit transnationalen Terrorgruppen  verbinden. Pakistanische Militäroffensiven, Aufbauversuche von Stammesmilizen, grenzüberschreitende US-Drohnenattacken und Abkommen zwischen Regierung und Aufständischengruppen in den Stammesgebieten (FATA) und Swat-Tal konnten den Vormarsch der pakistanischen Taliban zunächst nicht stoppen. Ob die Militäroffensive im Swat-Tal im Mai 2009 und in Süd-Waziristan im Herbst eine Wende bringen, lässt sich noch nicht sagen. Die besonders brutale Vorgehensweise von pakistanischen Taliban und Verbündeten in Pakistan (Massaker an Stammesversammlungen, Anschläge gegen Moscheen beim Freitagsgebet, Enthauptungen, Zerstörung von Mädchenschulen) offenbaren den extrem menschenverachtenden Charakter dieser Gruppen. Wo mit solchen Gruppen aus einer Position der Schwäche „Friedensabkommen" geschlossen wurden, gab es keineswegs Frieden, im Gegenteil.

(f)  Kräfteverhältnis: Die Aufständischen gewinnen an Kampfkraft, obwohl ISAF, ANA und OEF bei direkten Konfrontationen auf der taktischen Ebene praktisch immer „siegen", obwohl vor allem die US-Waffentechnik z.B. mit den Drohnen  immer genauer und tödlicher wird, obwohl die Afghanische National Armee ANA erhebliche Fortschritte macht, obwohl den Aufständischen enorme Verluste an Kämpfern und vor allem Führern zugefügt wurden.

Auch wenn in erheblichen Landesteilen Aufbau + Entwicklung noch möglich sind (ich habe das im September 2009 noch in Balkh und Badakhshan erlebt): Die für Regierungsvertreter und Hilfsorganisationen schwerer erreichbaren Gebiete nehmen zu.  ISAF hat immer größere Mühe, seinen Auftrag zu erfüllen und ein sichereres Umfeld für den Aufbau, für Regierungsvertreter und Helfer zu schaffen.

(g)  Kampf um Wahrnehmung und Legitimität:

- Lt. verschiedenen Umfragen ist die Wahrnehmung der Zukunft Afghanistans auf Seiten der Afghanen deutlich positiver als z.B. in Deutschland. Die Unterstützung für die Taliban/Aufständischen verharrt demnach weiterhin auf niedrigem Niveau (4%). Allerdings sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Internationale. In Teilen des Landes scheint der Kampf um Köpfe und Herzen der Menschen verloren. In anderen Regionen  verbreitet sich eine abwartende Haltung. („fence sitting")  Wo sich eine  solche „Neutralität" verfestigt, kann Aufstandseindämmung bzw. -bekämpfung nicht erfolgreich sein, ist die Niederlage vorprogrammiert.

Der Anteil der Menschen, die einen zügigen Abzug der internationalen Truppen wünschen, wächst. Dieser Haltung stehen andere 40% gegenüber,  die so lange die internationalen Truppen behalten wollen, bis Sicherheit selbst gewährleistet werden kann.

Besonders aufschlussreich + beunruhigend ist, dass erhebliche Minderheiten Angriffe auf internationale Truppen für gerechtfertigt ansehen.

- Andere Afghanistan-Experten stellen die Glaubwürdigkeit der Umfrageergebnisse in Frage. Conrad Schetter verweist auf einen verbreiteten, regelrechten „Taliban-Lifestyle" und eine kollektive Erinnerung mit der Aversion gegenüber den Nachfolgern des britischen Imperialismus als Konstante.

- In den ISAF-Staaten wächst die Opposition gegen den AFG-Einsatz: In Kanada 56% (37% Unterstützung), Großbritannien 59% (35%), USA 35% (54%) (Anfang Oktober lt. Abgus Reid Strategies  www.angusreidstrategies.com). Lt. Gallup lehnen inzwischen 55% der US-Bürger „Obamas Afghanistan-Politik" ab. (FAZ 26.11.2009)

- Hierzulande dominiert - trotz aller Beschwörungen des comprehensive approach - eine militärfixierte deutsche Nabelschau:  auf die deutschen Soldaten, auf die Anschläge, Angriffe und eigenen Opfer, auf Einsatzregeln und Bewaffnung. Kaum wahrgenommen werden die Opfer auf afghanischer und alliierter Seite. Und notorisch ist die Nichtbeachtung der Arbeitsbedingen und Leistungen der deutschen Polizeiberater, Entwicklungsexperten, der afghanischen Kräfte und Akteure, der better news neben den vielen bad news, der Entwicklungen in anderen Provinzen des Norden, gar darüberhinaus.  Solche Wahrnehmungsmuster deprimieren nicht nur. Sie garantieren, dass Chancen von Friedensförderung von vorneherein nicht erkannt werden, dass die Versuche, den Frieden zu gewinnen, aussichtslos werden.

(h) Die Gewaltspirale dreht sich mit einer Dynamik, die politisch nur noch begrenzte Zeit durchzuhalten ist. Wie sie gestoppt und umgedreht werden kann, ist die strategische Schlüsselfrage. Die Lageeinschätzungen der neuen US-Regierung und der Bundesregierung gingen  lange deutlich auseinander: Die Obama-Regierung konstatiert seit Anfang 2009 eine bedrohliche Abwärtsentwicklung, der mit einem umfassenden Strategiewechsel und einem Bündel besonderer Anstrengungen kurzfristig entgegengewirkt werden soll. Die nächsten 12 bis 18 Monate (bis 2010) gelten als entscheidend. Demgegenüber betonte die Bundesregierung lange, man sei trotz aller Schwierigkeiten auf dem richtigen Weg. Daran hat sich auch mit dem Koalitionswechsel nichts grundlegend geändert. Auf seiner Bilanzpressekonferenz am 22. Juli 2009 behauptete Minister Jung noch in vollem Ernst, 10% der Distrikte seien instabil, 360 seien stabil!  Von einem besonderen Ernst der Lage, von einer ehrlichen Zwischenbilanz und von umfassenderen neuen Anstrengungen ist auch zu Beginn des 9. (!) Einsatzjahres keine Rede. Da und dort wird nachjustiert, mehr nicht. Wo in einer Provinz wie Kunduz inzwischen „Dämme gebrochen" sind, wartet man seelenruhig auf die Ergebnisse der Afghanistankonferenz Ende Januar 2010. . Eine solche Politik der Beschönigungen, Halbherzigkeit und des Durchlavierens ist grob fahrlässig und brandgefährlich. Gegenüber dem Auftrag der Vereinten Nationen, den Millionen Afghanen, die immer noch besonders auf Deutschland setzen, gegenüber den Tausenden Soldaten und Hunderten Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten aus Deutschland, die in Afghanistan Bewundernswertes leisten, ist das unverantwortlich.

(i) Offene Fragen:

- Warum kommen die Briten in der Südprovinz Helmand nach dreieinhalb (!) Jahren schwerster Kämpfe und hoher Verluste nicht voran? Haben sie dort überhaupt eine Chance angesichts der unter Afghanen wachen Erinnerung an den britischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts?

- Wie ist die Wirkung der ca. 3.000 zusätzlichen US-Marines in Helmand? Wieweit können die neuen US-Truppen ihre neue Einsatzdoktrin (Schutz und Zustimmung der Zivilbevölkerung als A und O; Vornestationierung unter den Menschen) überhaupt glaubwürdig und wirksam umsetzen? Wieweit kann das Negativimage von US-Truppen gedreht werden?

- Wie ist die tatsächliche Perzeption der internationalen Truppen vor allem in den paschtunischen Bevölkerungsteilen? Wieweit  sehen sich bewaffnete Opposition/Taliban etc. als nationaler Widerstand/Aufstand gegen Fremde, Besatzer, eine Bedrohung der eigenen Werte?

- Wieweit sind die bewaffnete Opposition, Taliban in Afghanistan überhaupt eine direkte oder indirekte Bedrohung für deutsche, europäische, internationale Sicherheit? Wieweit sind sie bereit und in der Lage, erneut internationalen Terroristen und Jihadisten eine Basis zu stellen?

2.         Schwierige Lageeinschätzung

Eine realitätsnahe Sicherheitsanalyse wird erschwert durch

-          Die Bundesregierung begnügt sich mit der Information über  einzelne Sicherheitsvorfälle, insbesondere wenn eigene Kräfte betroffen sind. Nicht informiert wird über Trends und Schwerpunkte der Sicherheitslage, insbesondere die Dimension „Einfluss", „Zugänglichkeit", „sicheres Umfeld" (ISAF-Auftrag). Ausgeblendet wird weitgehend die Entwicklung in anderen Regionen. Diese im Vergleich zu Verbündeten besonders zugeknöpfte Informationspolitik der Bundesregierung produziert Beschönigung, Realitätsverlust - und Vertrauensschwund. Umso wichtiger sind jetzt die Berichte und Reportagen von Christoph Reuter/stern, Friederike Böge/FAZ, Uli Gack/ZDF, Susanne Koelbl + Matthias Gebauer/Spiegel, Martin Gerner, Britta Petersen, Willi Germund, Marco Seliger, Jörg Lau + Ulrich Ladurner/Zeit, Britta Petersen.

-          Die Informationsunzugänglichkeit der Regionen Ost und Süd, den „Nebel des Krieges"  und starke regionale Unterschiede;

-          Die selektive Veröffentlichung von Daten zum Konfliktverlauf seitens ISAF, UN, USA u.a. Truppenstellern, die eine  systematische Wahrnehmung + Transparenz des  Konfliktgeschehens verhindern.

-          Unterschiedliche Darstellungen  durch verschiedene Akteure vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen (ISAF-Headquarter und Regionalkommandos, Botschaften, UNAMA, „NGO Safety Office" ANSO, Oppositionelle Militante Kräfte/OMF bzw. Anti-Government-Elements/AGE). Opferzahlen und ihre Manipulation spielen eine zentrale Rolle in der psychologischen Kriegsführung.

-          Unterschiede zwischen der Wahrnehmung vor Ort und der aus der Ferne, wo die Vorfälle einerseits in den Alltag eingeordnet - und damit ggfs.relativiert - oder andererseits isoliert als die ganze Realität wahrgenommen werden. Die Kluft zwischen Außen- und Binnenwahrnehmung wird besonders deutlich mit den Umfragen von Asia Foundation, ABC/ARD/BBC und FU-Berlin-Team. (s.u.)

Erstes Kriterium zur Erfassung der Sicherheitslage sind die Sicherheitsvorkommnisse und Opferzahlen, also Schusswechsel + Gefechte, Sprengstoffanschläge einschließlich Selbstmordattentate, indirekter Beschuss (Mörser, ungelenkte Raketen) und sonstige Vorfälle wie Entführungen, Opfer auf Seiten der Zivilbevölkerung (zentral), der ANSF, der internationalen Truppen, der Aufständischen. Dabei ist von zentraler Bedeutung, welchen Rückhalt Attacken von AGE in der örtlichen Bevölkerung haben und wie ihr politisch/psychologischer Hauptzweck funktioniert, Einschüchterung + Schrecken zu verbreiten und die Distanz zwischen Bevölkerung einerseits und internationalen Truppen, Regierungskräften und Unterstützern andererseits zu fördern.

Ein zweites Kriterium sind der Einfluss  regierungsfeindlicher/aufständischer Kräfte und damit die Zugänglichkeit von Distrikten + Regionen und Arbeitsmöglichkeiten für Regierungs- und Hilfspersonal und die Befahrbarkeit von Hauptstraßen. (vgl. UNAMA-Berichte)

Ein drittes Kriterium sind die allgemeine Gewaltkriminalität, die z.B. für die Bevölkerung Kabuls im Vordergrund steht, sowie lokale Gewaltkonflikte um Ressourcen, Macht etc.  Obwohl diese Konfliktdimension die Menschen am meisten berührt, liegt uns hierzu  keine laufende Erfassung vor!  (Von gewaltsamen Kämpfen zwischen sesshaften Bauern der Hazara und bewaffneten paschtunischen Nomaden in der Provinz Wardak, die zur Flucht von über 25.000 Menschen  führte, berichtete im August 2008 Caritas International).

Ein viertes Kriterium ist schließlich das Sicherheits- und Bedrohungsgefühl der Bevölkerung

Schließlich: Die Sicherheitslage kann nur Teil eines Gesamtlagebildes sein mit den Elementen Menschliche Sicherheit, Institutionenaufbau, Infrastruktur, (Aus-)Bildung, Wirtschaft etc.  (vgl. Afghanistan Index, AFG 2009 Humanitarian Action Plan) Weil es vielfach an überprüfbaren Zielen (Operationalisierung der Ziele) fehlt, sind Fortschritte oft schwer zu bewerten. (Positives Beispiel sind die kanadischen „benchmarks")

Risiko- und Bedrohungsanalysen müssen endlich um Chancenanalysen ergänzt werden. Ohne die Identifizierung von Friedenspotenzialen und -prozessen gibt es keine systematische und erfolgversprechende Friedensförderung.

 

Hin weis: 

Bericht als PDF-Datei.